Urteil des EuGH vom 28.04.1998

EuGH: behandlung im ausland, auswärtige angelegenheiten, regierung, genehmigung, soziale sicherheit, mitgliedstaat, verordnung, optiker, krankenkasse, brille

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES
28. April 1998
„Freier Warenverkehr — Artikel 30 und 36 EG-Vertrag — Erstattung in einem anderen Mitgliedstaat
angefallener Krankheitskosten — Vorherige Genehmigung der zuständigen Kasse — Brillenkauf“
In der Rechtssache C-120/95
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom luxemburgischen Conseil arbitral des
assurances sociales in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Nicolas Decker
gegen
Caisse de maladie des employés privés
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 30 und 36 EG-Vertrag
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. Gulmann und H.
Ragnemalm (Berichterstatter) sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, P. J. G. Kapteyn, J. L.
Murray, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, G. Hirsch und P. Jann,
Generalanwalt: G. Tesauro
Kanzler: D. Louterman-Hubeau, Hauptverwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
— von Nicolas Decker, vertreten durch Rechtsanwälte Andrée Braun und Serge Wagner, Luxemburg,
— der luxemburgischen Regierung, vertreten durch den Inspecteur de la sécurité sociale première classe
Claude Ewen, Ministerium der sozialen Sicherheit, als Bevollmächtigten,
— der belgischen Regierung, vertreten durch den Directeur d'administration Jan Devadder, Ministerium für
Auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, als Bevollmächtigten,
— der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder und Assessor Gereon Thiele,
Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigte,
— der spanischen Regierung, vertreten durch den Generaldirektor für rechtliche und institutionelle
Koordinierung in Gemeinschaftsfragen Alberto Navarro González und durch Abogado del Estado Gloria Calvo
Díaz als Bevollmächtigte,
— der französischen Regierung, vertreten durch die Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen
des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten Catherine de Salins und durch den Sekretär für auswärtige
Angelegenheiten Philippe Martinet, ebenda, als Bevollmächtigte,
— der niederländischen Regierung, vertreten durch Rechtsberater Adriaan Bos als Bevollmächtigten,
— der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Lindsey Nicoll, Treasury Solicitor's
Department, als Bevollmächtigte, Beistand: Barrister Philippa Watson,
— der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater Hendrik van Lier und
den zum Juristischen Dienst abgeordneten nationalen Beamten Jean-Francis Pasquier als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Nicolas Decker, vertreten durch Rechtsanwalt Serge
Wagner, der Caisse des employés privés, vertreten durch Rechtsanwalt Albert Rodesch, Luxemburg, der
luxemburgischen Regierung, vertreten durch Claude Ewen, der deutschen Regierung, vertreten durch Ernst
Röder, der spanischen Regierung, vertreten durch Gloria Calvo Díaz, der französischen Regierung, vertreten
durch Philippe Martinet, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Philippa Watson, und
der Kommission, vertreten durch Jean-Francis Pasquier, in der Sitzung vom 2. Juli 1996,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. September 1997,
folgendes
Urteil
1.
Der Conseil arbitral des assurances sociales hat dem Gerichtshof mit Urteil vom 5. April 1995, beim
Gerichtshof eingegangen am 7. April 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der
Auslegung der Artikel 30 und 36 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Kläger Decker, einem luxemburgischen
Staatsangehörigen, und der Caisse de maladie des employés privés (Krankenkasse), in dem es um
einen Antrag auf Erstattung der Kosten für eine Brille mit Korrekturgläsern geht, die bei einem Optiker
in Arlon (Belgien) auf Verschreibung eines Augenarztes erworben wurde, der in Luxemburg
niedergelassen ist.
3.
Mit Schreiben vom 14. September 1992 teilte die Krankenkasse dem Kläger mit, sie lehne die
Kostenerstattung für diese Brille ab, da sie ohne ihre vorherige Genehmigung im Ausland erworben
worden sei.
4.
Der Kläger wandte sich gegen diesen Bescheid, wobei er sich u. a. auf die Vorschriften des EG-
Vertrags über den freien Warenverkehr berief. Auf einen Widerspruch hin hielt die Krankenkasse mit
Beschluß ihres Leitungsausschusses vom 22. Oktober 1992 an ihrer Auffassung fest und wies den
klägerischen Antrag ab.
5.
Daraufhin erhob der Kläger Klage zum Conseil arbitral des assurances sociales, die dieser mit
Beschluß vom 24. August 1993 abwies.
6.
Mit Schriftsatz vom 8. September 1993 erhob der Kläger gegen diesen Beschluß Einspruch zum
Conseil arbitral des assurances sociales. Dieser Einspruch wurde mit Urteil vom 20. Oktober 1993 u. a.
mit der Begründung zurückgewiesen, die Sache habe Bezug nicht zum freien Warenverkehr, sondern
zum Recht der sozialen Sicherheit, also zu der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni
1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie
deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (durch die Verordnung
[EG] Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996, ABl. 1997, L 28, S. 1, geänderte und aktualisierte
Fassung).
7.
Der Kläger legte Kassation ein. Mit Urteil vom 12. Januar 1995 wurde das Urteil des Conseil arbitral
des assurances sociales kassiert und für nichtig erklärt; die Sache ging an den Conseil arbitral des
assurances sociales zurück, der mit Urteil vom 5. April 1995 entschied, daß Artikel 60 des Code des
assurances sociales und Artikel 58 der Satzung der Union des caisses de maladie des salariés
Anwendung fänden.
8.
Artikel 60 des luxemburgischen Code des assurances sociales sieht in seiner maßgeblichen
Fassung folgendes vor:
„Der Versicherte kann sich an einen Arzt, Zahnarzt, Apotheker, an ein Krankenhaus oder an eine
ärztliche Hilfsperson seiner Wahl wenden.
Im Großherzogtum dürfen Behandlungen und Leistungen nur erbringen:
1. Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Krankenhäuser, Hebammen und ärztliche Hilfspersonen, die zur
Ausübung ihres Berufes im Großherzogtum oder einem Teil davon zugelassen sind;
2. ausländische Ärzte, die mit Zustimmung des behandelnden Arztes und des Vertrauensarztes zur
Konsultation im Großherzogtum hinzugezogen werden, vorbehaltlich weitergehender völkerrechtlicher
Vereinbarungen.
Der Versicherte kann sich im Ausland nur mit Genehmigung seiner Krankenkasse behandeln lassen,
soweit es sich nicht um erste Hilfe im Falle eines im Ausland eingetretenen Unfalls oder einer dort
aufgetretenen Krankheit handelt.
Die Genehmigung der Krankenkasse darf nicht versagt werden, wenn der behandelnde Arzt des
Versicherten und der Vertrauensarzt eine Behandlung im Ausland empfehlen oder wenn die
erforderliche Behandlung im Großherzogtum nicht möglich ist.“
9.
Zur fraglichen Zeit war die Übernahme von Brillengestellen und Korrekturgläsern in Artikel 78 der
Satzung der Union des caisses de maladie und in der Kollektivvereinbarung vom 30. Juni 1975
geregelt, die gemäß Artikel 308 bis des
Code des assurances sociales zwischen der Union des caisses de maladie und dem Berufsverband
der Optiker geschlossen worden war (Kollektivvereinbarung).
10.
Artikel 78 der Satzung der Union des caisses de maladie sieht vor:
„Die Kosten für Brillen und andere Sehhilfen übernimmt die Krankenkasse nach Maßgabe der
Vereinbarungen nach Artikel 308 bis des Code des assurances sociales oder entsprechender
Regelungen.“
11.
Nach Artikel 2 der Kollektivvereinbarung vom 30. Juni 1975 erfolgt die Abgabe von Brillen an die
Versicherten, soweit diese in Luxemburg ihren Wohn- oder Aufenthaltsort haben, durch Optiker, die in
die luxemburgische Handwerksrolle eingetragen und im Großherzogtum niedergelassen sind, soweit
nicht gemeinschafts- und völkerrechtliche Vorschriften über die soziale Sicherheit der
Wanderarbeitnehmer und ihnen gleichgestellter Personen etwas anderes vorsehen.
12.
Nach diesen Bestimmungen werden Kosten für Brillengestelle pauschal mit einem Satz von 1 600
LFR erstattet.
13.
Der Tarif für die Erstattung von Korrekturgläsern ist im Anhang A zur Kollektivvereinbarung
festgesetzt. Nach Artikel 12 der Kollektivvereinbarung werden die in Anhang A festgesetzten
erstattungsfähigen Beträge für Korrekturgläser durch Bezugnahme auf die Preislisten der Firmen
Zeiss und American Optical herauf- oder herabgesetzt.
14.
Der Code des assurances sociales und die Satzung der Union des caisses de maladie wurden 1992
erheblich geändert. Der Grundsatz des bisherigen Artikels 60 des Code des assurances sociales über
die vorherige Genehmigung der Krankenkasse für jede ärztliche Behandlung im Ausland wurde jedoch
in den neuen Artikel 20 dieses Code übernommen.
15.
Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:
„(1) Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger, der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen
Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen, gegebenenfalls unter
Berücksichtigung des Artikels 18, erfüllt und
...
c) der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in das Gebiet eines anderen
Mitgliedstaats zu begeben, um dort eine seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten,
hat Anspruch auf:
i) Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Aufenthalts- oder
Wohnorts nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert
wäre; die Dauer der Leistungsgewährung richtet sich jedoch nach den Rechtsvorschriften des
zuständigen Staates;
ii) Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden
Rechtsvorschriften. Im Einvernehmen zwischen dem zuständigen Träger und dem Träger des
Aufenthalts- oder Wohnorts können diese Leistungen jedoch vom Träger des Aufenthalts- oder
Wohnorts nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für Rechnung des zuständigen
Trägers gewährt werden.
(2) ...
Die nach Absatz 1 Buchstabe c) erforderliche Genehmigung darf nicht verweigert werden, wenn die
betreffende Behandlung zu den Leistungen gehört, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats
vorgesehen sind, in dessen Gebiet der Betreffende wohnt, und wenn er in Anbetracht seines
derzeitigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Verlaufs der Krankheit diese Behandlung
nicht in einem Zeitraum erhalten kann, der für diese Behandlungen in dem Staat, in dem er seinen
Wohnsitz hat, normalerweise erforderlich ist.
(3) Die Absätze 1 und 2 finden entsprechend auf die Familienangehörigen eines Arbeitnehmers oder
Selbständigen Anwendung.
...“
16.
Der Conseil arbitral des assurances sociales hatte Zweifel an der Vereinbarkeit dieser
Bestimmungen mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere den Artikeln 30 und 36 EG-Vertrag. Er hat
das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Artikel 60 des luxemburgischen Code des assurances sociales, nach dem ein Träger der sozialen
Sicherheit eines Mitgliedstaats A einem Versicherten, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats A
ist, die Erstattung der Kosten für eine Brille mit Brillengläsern zur Korrektur eines Sehfehlers, die von
einem in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Arzt verordnet, aber bei einem in einem anderen
Mitgliedstaat ansässigen Optiker gekauft wurde, mit der Begründung verweigern kann, daß eine
medizinische Behandlung im Ausland zuvor von diesem Träger der sozialen Sicherheit genehmigt
werden muß, mit den Artikeln 30 und 36 EWG-Vertrag vereinbar, soweit er allgemein die Einfuhr von
Arzneimitteln oder, wie im vorliegenden Fall, von Brillen aus anderen Mitgliedstaaten durch
Privatpersonen mit einem Nachteil belegt?
17.
Der Kläger und die Kommission sind der Auffassung, daß eine nationale Regelung, kraft deren
einem Versicherten die Erstattung von Kosten für üblicherweise erstattete Erzeugnisse versagt wird,
soweit keine vorherige Genehmigung des zuständigen Trägers der sozialen Sicherheit vorliegt, eine
nicht gerechtfertigte Behinderung des freien Warenverkehrs darstellt.
18.
Hingegen machen die luxemburgische, die belgische, die französische und die Regierung des
Vereinigten Königreichs geltend, daß eine Regelung der streitigen Art nicht in den Bereich der Artikel
30 und 36 EG-Vertrag fällt, da sie die soziale Sicherheit betrifft. Hilfsweise machen sie geltend, die
Beibehaltung einer solchen Regelung verstoße nicht gegen diese Bestimmungen. Die letztgenannte
Auffassungteilen die deutsche, die niederländische und die spanische Regierung.
19.
Angesichts der abgegebenen Erklärungen sind zunächst die Anwendung des Grundsatzes des
freien Verkehrs im Bereich der sozialen Sicherheit, dann die Auswirkungen der Verordnung Nr.
1408/71 und schließlich die Anwendung der Bestimmungen über den freien Warenverkehr zu erörtern.
Die Anwendung des elementaren Grundsatzes des freien Verkehrs im Bereich der sozialen
Sicherheit
20.
Die luxemburgische, die belgische, die französische und die Regierung des Vereinigten Königreichs
machen geltend, die streitige Regelung über die Erstattung von Behandlungskosten falle nicht unter
Artikel 30 EG-Vertrag, da sie einen Teilbereich der sozialen Sicherheit betreffe.
21.
Nach ständiger Rechtsprechung läßt das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten
zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt (Urteile vom 7. Februar 1984 in der
Rechtssache 238/82, Duphar u. a., Slg. 1984, 523, Randnr. 16, und vom 17. Juni 1997 in der
Rechtssache C-70/95, Sodemare u. a., Slg. 1997, I-3395, Randnr. 27).
22.
In Ermangelung einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene bestimmt somit das Recht eines
jeden Mitgliedstaats, unter welchen Voraussetzungen zum einen ein Recht auf Anschluß an ein System
der sozialen Sicherheit oder eine Verpflichtung hierzu (Urteile vom 24. April 1980 in der Rechtssache
110/79, Coonan, Slg. 1980, 1445, Randnr. 12, und vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C-349/87,
Paraschi, Slg. 1991, I-4501, Randnr. 15) und zum anderen ein Anspruch auf Leistung (Urteil vom 30.
Januar 1997 in den Rechtssachen C-4/95 und C-5/95, Stöber und Piosa Pereira, Slg. 1997, I-511,
Randnr. 36) besteht.
23.
Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten, wie der Generalanwalt in den Nummern 17 und 25 seiner
Schlußanträge ausgeführt hat, bei der Ausübung dieser Befugnis das Gemeinschaftsrecht beachten.
24.
So unterliegen Maßnahmen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, die sich auf
den Absatz medizinischer Erzeugnisse und mittelbar auf deren Einfuhrmöglichkeiten auswirken
können, den Vorschriften des EG-Vertrags über den freien Warenverkehr (Urteil Duphar u. a., Randnr.
18).
25.
Daß die streitige Regelung zum Bereich der sozialen Sicherheit gehört, schließt daher die
Anwendung des Artikels 30 EG-Vertrag nicht aus.
Die Auswirkungen der Verordnung Nr. 1408/71
26.
Nach Auffassung der luxemburgischen Regierung stellt Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 den
Grundsatz auf, daß für jede Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat eine vorherige Genehmigung
erforderlich ist. Die Angriffe gegen die nationalen Bestimmungen über die Übernahme im Ausland
erlangter Leistungen richteten sich letztlich auch gegen die Gültigkeit der entsprechenden
Bestimmung der Verordnung Nr. 1408/71.
27.
Der Umstand, daß eine nationale Maßnahme möglicherweise einer Bestimmung des abgeleiteten
Rechts — hier dem Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 — entspricht, hat nicht zur Folge, daß sie
nicht an den Bestimmungen des EG-Vertrags zu messen wäre.
28.
Zudem soll Artikel 22 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, wie der Generalanwalt in den Nummern
55 und 57 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, dem Versicherten, der vom zuständigen Träger die
Genehmigung erhalten hat, sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, um dort eine
seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten, insbesondere dann erlauben, ohne
zusätzliche Kosten Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers nach den
Rechtsvorschriften des Staates zu erhalten, in dem die Leistungen erbracht werden, wenn dies wegen
seines Gesundheitszustands erforderlich ist.
29.
Bei zweckgerichteter Auslegung regelt Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 hingegen nicht den
Fall, daß die Kosten für eine in einem anderen Mitgliedstaat ohne vorherige Genehmigung erbrachte
Behandlung zu den Sätzen erstattet werden, die im Versicherungsstaat gelten, und hindert die
Mitgliedstaaten daher nicht an einer solchen Erstattung.
30.
Somit ist zu prüfen, ob eine Regelung der streitigen Art mit den Bestimmungen des EG-Vertrags
über den freien Warenverkehr vereinbar ist.
Die Anwendung der Bestimmungen über den freien Warenverkehr
31.
Zu erörtern ist, ob eine Regelung der streitigen Art den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr
unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell behindern kann (Urteil vom 11. Juli 1974 in der
Rechtssache 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837, Randnr. 5).
32.
Nach Auffassung des Klägers und der Kommission stellt es eine Beschränkung des freien
Warenverkehrs im Sinne des Artikels 30 EG-Vertrag dar, daß die Übernahme medizinischer Erzeugnisse
nach den Modalitäten des Rechts des Versicherungsstaats von der vorherigen Genehmigung des
Trägers dieses Staates abhängig gemacht wird, wenn diese Erzeugnisse in einem anderen
Mitgliedstaat abgegeben werden.
33.
Die Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, machen geltend, daß eine Regelung der
streitigen Art eine Beschränkung des Handelsverkehrs weder bezwecke noch bewirke, sondern nur die
Bedingungen für eine Erstattung von Krankheitskosten regele. Sie führe nicht zu einem Einfuhrverbot
von Brillen und wirke sich auch nicht unmittelbar auf die Möglichkeit aus, Brillen im Ausland zu
erwerben. Schließlich verbiete sie es luxemburgischen Optikern nicht, Brillen und Korrekturgläser aus
anderen Mitgliedstaaten zu importieren, sie zu bearbeiten und zu verkaufen.
34.
Die streitige Regelung veranlaßt die luxemburgischen Sozialversicherten dazu, ihre Brillen bei
Optikern im Großherzogtum und nicht in anderen Mitgliedstaaten zu erwerben und montieren zu
lassen.
35.
Zwar hindert die streitige Regelung die Versicherten nicht daran, medizinische Erzeugnisse in einem
anderen Mitgliedstaat zu erwerben. Sie macht aber die Erstattung von Kosten, die in diesem
Mitgliedstaat angefallen sind, von einer vorherigen Genehmigung abhängig, und versagt sie den
Versicherten, die keine Genehmigung haben. Kosten, die im Versicherungsstaat anfallen, unterliegen
hingegen keiner solchen Genehmigung.
36.
Eine derartige Regelung stellt ein Hindernis für den freien Warenverkehr dar, da sie die
Sozialversicherten dazu veranlaßt, diese Erzeugnisse im Großherzogtum und nicht in anderen
Mitgliedstaaten zu erwerben, und daher geeignet ist, die Einfuhr in diesen Staaten montierter Brillen
zu hemmen (Urteil vom 7. Mai 1985 in der Rechtssache 18/84, Kommission/Frankreich, Slg. 1985,
1339, Randnr. 16).
37.
Die luxemburgische Regierung trägt freilich vor, daß der freie Warenverkehr nicht absolut zu setzen
sei und die streitige Regelung, die der Kontrolle der verbindlich zu erstattenden Gesundheitskosten
dienen solle, aus diesem Grund gerechtfertigt sei.
38.
Der Kläger hält dem entgegen, bei Erstattung seines Kaufes werde das Budget der Krankenkasse in
gleicher Höhe belastet, da diese nur einen Pauschalbetrag erstatte, der sowohl das Gestell wie die
Korrekturgläser erfasse, die ein Optiker verkaufe. Dieser Pauschalbetrag sei unabhängig von den
tatsächlichen Kosten festgesetzt. Daher habe die Krankenkasse keinen objektiven Grund, die
Erstattung zu versagen, wenn der Kauf bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt
sei. Die streitige Regelung könne daher nicht mit der Begründung gerechtfertigt werden, die
Gesundheitskosten müßten kontrolliert werden.
39.
Rein wirtschaftliche Gründe können eine Beschränkung des elementaren Grundsatzes des freien
Warenverkehrs nicht rechtfertigen. Jedoch kann eine erhebliche Gefährdung des finanziellen
Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses
darstellen, der eine solche Beschränkung rechtfertigen kann.
40.
Wie die luxemburgische Regierung in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofes anerkannt hat,
hat die Pauschalerstattung für in anderen Mitgliedstaaten gekaufte Brillen und Korrekturgläser keine
Auswirkungen auf die Finanzierung oder das Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit.
41.
Die belgische, die deutsche und die niederländische Regierung machen weiter geltend, das Recht
der Versicherten auf Zugang zu ordnungsgemäßer Behandlung rechtfertige die fragliche Regelung
aus Gründen des Gesundheitsschutzes nach Artikel 36 EG-Vertrag. Die belgische Regierung fügt
hinzu, die Abgabe von Brillen sei Personen vorbehalten, die dazu rechtlich befugt seien. Würden die
Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat erbracht, werde die Kontrolle ihrer ordnungsgemäßen
Ausführung erheblich beeinträchtigt, wenn nicht gar unmöglich.
42.
Die Bedingungen des Zugangs zu geregelten Berufen und ihrer Ausübung sind Gegenstand der
Richtlinie 92/51/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über eine zweite allgemeine Regelung zur
Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise in Ergänzung zur Richtlinie 89/48/EWG (ABl. L 209, S.
25) und der Richtlinie 95/43/EG der Kommission vom 20. Juli 1995 zur Änderung der Anhänge C und D
der Richtlinie 92/51 (ABl. L 184, S. 21).
43.
Daher bietet der Kauf einer Brille bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat Garantien, die
denen gleichwertig sind, die beim Kauf einer Brille bei einem Optiker im Inland gegeben sind (vgl. zum
Kauf von Arzneimitteln in einem anderen Mitgliedstaat die Urteile vom 7. März 1989 in der Rechtssache
215/87, Schumacher, Slg. 1989, 617, Randnr. 20, und vom 8. April 1992 in der Rechtssache C-62/90,
Kommission/Deutschland, Slg. 1992, I-2575, Randnr. 18).
44.
Zudem erfolgte der Kauf der Brille im Ausgangsverfahren aufgrund augenärztlicher Verschreibung,
was die Sicherung des Gesundheitsschutzes gewährleistet.
45.
Eine Regelung der streitigen Art kann daher nicht unter Berufung auf Gründe des
Gesundheitsschutzes damit gerechtfertigt werden, daß die Qualität in anderen Mitgliedstaaten
gelieferter medizinischer Erzeugnisse gewährleistet werden müsse.
46.
Zu antworten ist daher, daß eine nationale Regelung, nach der ein Träger der sozialen Sicherheit
eines Mitgliedstaats einem Versicherten die pauschale Kostenerstattung für eine Brille mit
Korrekturgläsern, die dieser bei einem Optiker
in einem anderen Mitgliedstaat gekauft hat, mit der Begründung versagt, daß der Erwerb
medizinischer Erzeugnisse im Ausland der vorherigen Genehmigung bedarf, gegen die Artikel 30 und
36 EG-Vertrag verstößt.
Kosten
47.
Die Auslagen der luxemburgischen, der belgischen, der deutschen, der französischen, der
niederländischen, der spanischen und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben
haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein
Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung
ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Conseil arbitral des assurances sociales mit Urteil vom 5. April 1995 vorgelegte Frage
für Recht erkannt:
Eine nationale Regelung, nach der ein Träger der sozialen Sicherheit eines
Mitgliedstaates einem Versicherten die pauschale Kostenerstattung für eine Brille mit
Korrekturgläsern, die dieser bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat gekauft
hat, mit der Begründung versagt, daß der Erwerb medizinischer Erzeugnisse im Ausland
der vorherigen Genehmigung bedarf, verstößt gegen die Artikel 30 und 36 EG-Vertrag.
Rodríguez Iglesias Gulmann Ragnemalm
Mancini Moitinho de Almeida
Kapteyn Murray Edward Puissochet
Hirsch Jann
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 28. April 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
Verfahrenssprache: Französisch.