Urteil des EuGH vom 10.07.2001

EuGH: vernehmung von zeugen, anhörung, rechnungshof der europäischen gemeinschaften, rechtsmittelgrund, vergabe von aufträgen, kommission, veröffentlichung, allgemeiner rechtsgrundsatz

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES
10. Juli 2001
„Rechtsmittel - Mittelmeerprogramme - Sonderbericht Nr. 1/96 des Rechnungshofes - Recht auf Anhörung -
Namentliche Nennung von Dritten - Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C-315/99 P
Ismeri Europa Srl
Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Rechtsmittelführerin,
betreffend ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
(Dritte Kammer) vom 15. Juni 1999 in der Rechtssache T-277/97 (Ismeri Europa/Rechnungshof, Slg. 1999, II-
1825) wegen Aufhebung dieses Urteils,
anderer Verfahrensbeteiligter:
Rechnungshof der Europäischen Gemeinschaften,
Giusta als Bevollmächtigte,
Beklagter im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. Gulmann, M. Wathelet
und V. Skouris, der Richter D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet (Berichterstatter), P. Jann, L. Sevón und R.
Schintgen, der Richterin F. Macken und des Richters C. W. A. Timmermans,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 20. März 2001,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. Mai 2001,
folgendes
Urteil
1.
Die Ismeri Europa Srl (nachstehend: Rechtsmittelführerin) hat mit Rechtsmittelschrift, die am 24.
August 1999 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 49 der EG-Satzung des
Gerichtshofes ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 15. Juni 1999 in der
Rechtssache T-277/97 (Ismeri Europa/Rechnungshof, 1999, Slg. II-1825, nachstehend: angefochtenes
Urteil) eingelegt, mit dem das Gericht ihre Klage auf Ersatz des Schadens, der ihr angeblich aufgrund
der im Sonderbericht Nr. 1/96 des Rechnungshofes vom 30. Mai 1996 über die Mittelmeerprogramme
(ABl. C 240, S. 1, nachstehend: Bericht Nr. 1/96) gegen sie erhobenen Beanstandungen entstanden
ist, abgewiesen hat.
2.
In diesem im vom 19. August 1996 veröffentlichten
Bericht beanstandete der Rechnungshof die Verwaltung der Mittelmeerprogramme in mehrfacher
Hinsicht, namentlich unter dem Gesichtspunkt einer Vermischung von Interessen im globalen System
zur Verwaltung. Er stellte insbesondere fest, dass von den vier Verwaltungsratsmitgliedern der Agence
pour les Réseaux Transméditerranées (Agentur für die transmediterranen Netze, im folgenden: ARTM),
einer Organisation ohne Erwerbszweck nach belgischem Recht, die von der Kommission zur
Übernahme der Verwaltung und Mittelbewirtschaftung der Mittelmeerprogramme gegründet worden
war, zwei Leiter der Büros für technische Hilfe waren, die mit der Überwachung der Programme
beauftragt worden waren, zu deren Ausarbeitung sie im Rahmen des Verwaltungsrats der ARTM
beigetragen hatten. Die Rechtsmittelführerin ist eines der beiden im Bericht Nr. 1/96 genannten Büros
für technische Hilfe.
3.
Am 31. Januar 1997 teilte die Rechtsmittelführerin dem Rechnungshof ihre Stellungnahme zum
Bericht Nr. 1/96 schriftlich mit und forderte ihn zur Berichtigung der sie betreffenden Punkte dieses
Berichts auf. Mit Schreiben vom 7. März 1997 antwortete der Rechnungshof, dass er seine
ursprünglichen Feststellungen aufrechterhalte, und lehnte eine Veröffentlichung der verlangten
Berichtigung ab.
4.
Am 17. Juli 1997 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung zum Bericht Nr. 1/96 (ABl. C
286, S. 263) an, in der es unter Zugrundelegung der Feststellungen des Rechnungshofes und unter
Hinweis auf den exemplarischen Charakter des Falles die Kommission aufforderte, energische
Maßnahmen zu ergreifen, um eine Wiederholung solcher Situationen zu verhindern.
5.
Am 20. Oktober 1997 erhob die Rechtsmittelführerin beim Gericht Klage auf Ausgleich für die
Schädigung ihres Rufs sowie auf Ersatz des ihr angeblich durch die Auflösung der Verträge
entstandenen Schadens und infolge der Veröffentlichung des Berichts Nr. 1/96 entgangenen
Gewinns. Außerdem beantragte sie, die Beweisaufnahme durch Vernehmung von Zeugen anzuordnen.
Das angefochtene Urteil
6.
Das Gericht wies zunächst mehrere vom Rechnungshof erhobene Rügen der Unzulässigkeit zurück
(Randnrn. 25 bis 94 des angefochtenen Urteils) und befand dann in zwei Schritten über das
Vorbringen zur Begründetheit der Klage.
7.
Erstens wies das Gericht zum Klagegrund der Verletzung des Rechts auf Anhörung darauf hin, dass
ein rechtswidriges Verhalten nicht ausreiche, um die Haftung der Gemeinschaft zu begründen,
sondern dass außerdem ein Kausalzusammenhangzwischen diesem Verhalten und dem behaupteten
Schaden bewiesen sein müsse (Randnr. 100 des angefochtenen Urteils).
8.
Das Gericht erkannte jedoch, dass der Rechnungshof den Bericht Nr. 1/96 auch dann nicht
inhaltlich abgeändert hätte, wenn er die Rechtsmittelführerin vor dessen Verabschiedung und
Veröffentlichung zur Stellungnahme aufgefordert hätte. Das Gericht stützte dieses Ergebnis auf den
Umstand, dass die Rechtsmittelführerin in ihrem Schreiben vom 31. Januar 1997 zur Richtigkeit
bestimmter Passagen des Berichts Nr. 1/96 Stellung genommen habe und dass der Rechnungshof
diese Stellungnahme in seiner Antwort vom 7. März 1997 Punkt für Punkt zurückgewiesen und der
Rechtsmittelführerin mitgeteilt habe, dass der Bericht nicht zu berichtigen sei. Nach Auffassung des
Gerichts hätte der Rechnungshof die beanstandeten Formulierungen des Berichts Nr. 1/96 auch
unverändert beibehalten, wenn die Stellungnahme der Rechtsmittelführerin ihm nicht nach, sondern
vor der Verabschiedung des Dokuments vorgelegt worden wäre (Randnrn. 101 bis 104 des
angefochtenen Urteils).
9.
Das Gericht wies diesen Klagegrund daher zurück, ohne die Frage zu beantworten, ob der
Rechtsmittelführerin vor dem Rechnungshof vor der Verabschiedung des Berichts Nr. 1/96 ein Recht
auf Anhörung zustand (Randnr. 105 des angefochtenen Urteils).
10.
Zweitens erkannte das Gericht zum Klagegrund des verleumderischen Charakters der im Bericht Nr.
1/96 in Bezug auf die Rechtsmittelführerin erhobenen Beanstandungen, dass der Rechnungshof sich
in bestimmten Fällen veranlasst sehen könne, Dritte, die an gravierenden Missständen bei einem
Gemeinschaftsorgan unmittelbar beteiligt seien, zu nennen (Randnr. 109 des angefochtenen Urteils).
Die in einem solchen Fall über die betroffenen Personen abgegebenen Beurteilungen könnten eine
Haftung der Gemeinschaft für Pflichtverletzung begründen, wenn die zugrundeliegenden Tatsachen
falsch dargestellt oder unzutreffend gewürdigt seien. Dieser Punkt unterliege in vollem Umfang der
Nachprüfung durch das Gericht (Randnr. 110 des angefochtenen Urteils).
11.
Die erste spezifische Rüge im Rahmen des Verleumdungsvorwurfs betrifft die
Interessenverquickung. Hierzu befand das Gericht, dass der Rechnungshof, ohne sich zur Frage einer
eindeutigen Betrugsabsicht der Rechtsmittelführerin äußern zu müssen, verpflichtet gewesen sei, den
objektiven Missstand mitzuteilen, der es der Rechtsmittelführerin ermöglicht habe, auf den
Entscheidungsprozess in der ARTM Einfluss zu nehmen und somit aufgrund ihrer Stellung und der
ihres Leiters ihre Privatinteressen zu fördern. Diese Tatsachen seien bereits Ausdruck eines
Interessenkonflikts, der Rechnungshof habe durch ihre Offenlegung seine Pflichten nicht verletzt
(Randnrn. 112 bis 124 des angefochtenen Urteils).
12.
Die zweite Rüge betrifft die Weigerung der Rechtsmittelführerin, den Aufforderungen der
Kommission Folge zu leisten, die Leiter der Büros für technische Hilfe sollten den Verwaltungsrat der
ARTM verlassen. Hierzu erkanntedas Gericht, dass die im Bericht Nr. 1/96 geschilderten Tatsachen
erwiesen und zutreffend ausgelegt worden seien, denn der Leiter der Rechtsmittelführerin sei erst
zwei Jahre nach der Aufforderung der Kommission zurückgetreten; auch seien immer wieder neue
Bedingungen - Erteilung von Aufträgen und Wahl des Nachfolgers - gestellt worden (Randnrn. 126 bis
143 des angefochtenen Urteils).
13.
Zur dritten Rüge, der Rechnungshof habe es versäumt, die positiven Arbeitsergebnisse zu
berücksichtigen, zu denen die Rechtsmittelführerin beigetragen habe, wies das Gericht darauf hin,
dass es sich dabei nicht um ein Kriterium handle, das geeignet sei, die Erheblichkeit der vom
Rechnungshof innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs, der Finanzverwaltung, getroffenen
Feststellungen in Frage zu stellen (Randnrn. 144 bis 147 des angefochtenen Urteils).
14.
Das Gericht wies daher die Klage ab (Randnr. 148 des angefochtenen Urteils).
Das Rechtsmittel
15.
Die Rechtsmittelführerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben, ihren in erster Instanz
gestellten Anträgen stattzugeben und dem Rechnungshof die Kosten des Verfahrens vor dem Gericht
und vor dem Gerichtshof aufzuerlegen. Sie führt dafür sechs Gründe an.
16.
Der Rechnungshof beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und der Rechtsmittelführerin die
Kosten aufzuerlegen.
17.
Die Rechtsmittelführerin trägt vor, ihr Antrag auf Vernehmung von Zeugen sei ein eigenständiger
Antrag gewesen, über den das Gericht im angefochtenen Urteil hätte befinden müssen. Wegen der
stillschweigenden Ablehnung dieses Antrags sei die Beweisaufnahme unzureichend, denn das Gericht
habe sich, obwohl es die Aussage- und Beweiskraft bestimmter Urkunden als fragwürdig bezeichnet
habe, auf die im Bericht Nr. 1/96 enthaltene Sachverhaltsschilderung gestützt.
18.
Der Rechnungshof erwidert, die Wahl der Beweismittel unterliege der freien Würdigung des
Gerichts, hilfsweise, die Beweisaufnahme sei ausreichend gewesen. Im Übrigen müsse der
Gemeinschaftsrichter in einem Urteil nicht erläutern, warum er einem Antrag auf Beweiserhebung
etwa durch Vernehmung von Zeugen nicht stattgebe.
19.
Es ist allein Sache des Gerichts, zu entscheiden, ob das ihm in einer Rechtssache vorliegende
Beweismaterial der Ergänzung bedarf. Ob Verfahrensunterlagenbeweiskräftig sind, unterliegt seiner
freien Würdigung des Sachverhalts, die nach ständiger Rechtsprechung nicht der Überprüfung durch
den Gerichtshof in der Rechtsmittelinstanz unterliegt, sofern dem Gericht vorgelegte Beweismittel
nicht verfälscht worden sind oder die Unrichtigkeit der Tatsachenfeststellungen des Gerichts sich
nicht aus den Akten ergibt (Urteil vom 4. März 1999 in der Rechtssache C-119/97 P, Ufex u.
a./Kommission, Slg. 1999, I-1341, Randnr. 66, und Beschluss vom 14. Oktober 1999 in der
Rechtssache C-437/98 P, Infrisa/Kommission, Slg. 1999, I-7145, Randnr. 34).
20.
Es ist nichts vorgetragen, was auf einen solchen Fall hindeuten könnte. Daher ist es nicht zu
beanstanden, dass das Gericht in seinem Urteil den Antrag der Rechtsmittelführerin auf die
Vernehmung von Zeugen nicht ausdrücklich beschieden hat.
21.
Der erste Rechtsmittelgrund ist daher zurückzuweisen.
22.
Mit seinem zweiten Rechtsmittelgrund wirft die Rechtsmittelführerin dem Gericht vor, es habe sich
im angefochtenen Urteil auf den Umstand gestützt, dass der Rechnungshof es abgelehnt habe, den
Bericht Nr. 1/96 nach seiner Veröffentlichung in dem von ihr gewünschten Sinne zu berichtigen, und
daraus gefolgert, dass der Rechnungshof dies auch getan hätte, wenn die Rechtsmittelführerin sich
vor der Verabschiedung des Berichts Nr. 1/96 Gehör hätte verschaffen können.
23.
Das Recht auf Anhörung bedeute aber, dass die Betroffenen vor der Verabschiedung einer sie
betreffenden Entscheidung anzuhören seien, und seine Beachtung sei eine Grundvoraussetzung für
die Ausübung von Ermessen durch eine Behörde. Das gelte gemäß Artikel 206 EG-Vertrag (nach
Änderung jetzt Artikel 276 EG) sowohl für die Gemeinschaftsorgane als auch für die anderen vom
Rechnungshof überwachten Rechtssubjekte. Die vorherige Anhörung sei außerdem notwendiger
Bestandteil des Entlastungsverfahrens vor dem Europäischen Parlament.
24.
Der Rechnungshof weist darauf hin, dass die drei Voraussetzungen der außervertraglichen Haftung
der Gemeinschaft, zu denen das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen einem
rechtswidrigen Verhalten und einem Schaden gehöre, kumulativ vorliegen müssten, und dass das
Gericht, wenn eine dieser Voraussetzungen nach seiner Auffassung nicht vorliege, sich nicht zu den
beiden anderen zu äußern brauche. Das Vorbringen, ein betroffener Dritter habe ebenso ein Recht
auf Anhörung wie ein überwachtes Organ, sei unzulässig, da es sich nicht gegen das angefochtene
Urteil richte, hilfsweise unbegründet.
25.
Mit ihrem dritten Rechtsmittelgrund wiederholt die Rechtsmittelführerin im Wesentlichen den
zweiten und wirft dem Gericht vor, es sei der von ihr für zentral gehaltenen Frage ausgewichen, ob das
Unterbleiben der Anhörung im vorliegenden Fall rechtswidrig sei. Der Rechnungshof antwortet mit dem
gleichen Vorbringen wie beim zweiten Rechtsmittelgrund.
26.
Die beiden Rechtsmittelgründe, die zusammen zu prüfen sind, richten sich gegen die Ausführungen,
mit denen das Gericht in den Randnummern 100 bis 105 des angefochtenen Urteils den Klagegrund
einer Verletzung des Rechts auf Anhörung zurückwies, „ohne dass eine Prüfung der Frage erforderlich
wäre, ob der Klägerin dieses Recht im vorliegenden Fall zusteht“.
27.
Der Rechnungshof ist nach seinen Verfahrensvorschriften weder dazu verpflichtet, Entwürfe seiner
Berichte Dritten in derselben Weise vorzulegen, wie er dies gegenüber den Gemeinschaftsorganen
tut, noch ist er verpflichtet, die Antworten der Betroffenen im Anschluss an seine Berichte zu
veröffentlichen. Das in Artikel 188c Absatz 4 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 248 Absatz 4 EG)
und Artikel 206 EG-Vertrag vorgesehene Verfahren soll nämlich dazu beitragen, dass die
Finanzverwaltung der Gemeinschaft durch die Übermittlung der Berichte an die Organe und die
Ausarbeitung ihrer Antworten verbessert wird. Eine Aufforderung an Dritte, an diesem Verfahren
teilzunehmen, könnte zu diesem Ziel nichts beitragen.
28.
Freilich ist das Recht auf Anhörung ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dessen Wahrung vom
Gerichtshof zu sichern ist. Er gilt für jedes Verfahren, das zu einer Entscheidung eines
Gemeinschaftsorgans führen kann, durch die Interessen eines Dritten spürbar beeinträchtigt werden
(vgl. insbesondere in diesem Sinne Urteil vom 23. Oktober 1974 in der Rechtssache 17/74,
Transocean Marine Paint/Kommission, Slg. 1974, 1063, Randnr. 15).
29.
Die Verabschiedung und die Veröffentlichung der Berichte des Rechnungshofes sind zwar keine
Entscheidungen, durch die die Rechte der darin genannten Personen unmittelbar beeinträchtigt
werden, können für diese aber so folgenschwer sein, dass den Betroffenen vor der endgültigen
Verabschiedung der Berichte Gelegenheit gegeben werden muss, zu den darin enthaltenen Punkten,
in denen sie namentlich genannt sind, Stellung zu nehmen.
30.
Da der Rechnungshof die Rechtsmittelführerin nicht aufgefordert hatte, ihren Standpunkt zu den
sie betreffenden Stellen, die in den Bericht Nr. 1/96 aufgenommen werden sollten, mitzuteilen, hat er
in dem Verfahren der Verabschiedung dieses Berichts gegen das Recht auf Anhörung verstoßen.
31.
Dieser Verstoß konnte nicht dadurch beseitigt werden, dass die Rechtsmittelführerin nach
Veröffentlichung des Berichts Nr. 1/96 Gelegenheit zur Stellungnahme hatte. Denn es versteht sich
von selbst, dass ein Organ vor derendgültigen Festlegung seines Standpunkts eher bereit ist,
Bemerkungen zu entsprechen, als nach dessen Veröffentlichung; würde es nämlich Beanstandungen
nach der Veröffentlichung als begründet anerkennen, so müsste es seine Entscheidung ändern und
eine Berichtigung verabschieden.
32.
Darum kann auch allein aus dem Umstand, dass die Beanstandungen, die die Rechtsmittelführerin
am 31. Januar 1997 zu dem am 19. August 1996 veröffentlichten Bericht Nr. 1/96 abgegeben hatte,
vom Rechnungshof am 7. März 1997 zurückgewiesen wurden, nicht geschlossen werden, dass dieser
genauso gehandelt hätte, wenn diese Beanstandungen vor der Verabschiedung dieses Berichts am
30. Mai 1996 geäußert worden wären.
33.
Jedoch ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände des Falles, wie sie vom Gericht dargelegt
wurden, und insbesondere aus dem offenkundigen schwerwiegenden Verstoß gegen die Regeln einer
guten Verwaltung, der darin besteht, dass Personen lange Zeit Mitglied des Verwaltungsrats der
ARTM waren, die durch die Beschlüsse dieses Gremiums unmittelbar betroffene Privatinteressen
vertraten, dass eine Anhörung der Rechtsmittelführerin den Rechnungshof nicht hätte veranlassen
können, seine Auffassung über die Opportunität ihrer namentlichen Nennung im Bericht Nr. 1/96 oder
die dafür vorgesehenen Formulierungen zu ändern.
34.
Folglich war im vorliegenden Fall das rechtswidrige Verhalten ohne Einfluss auf den Inhalt des
Berichts Nr. 1/96; es fehlt daher am Kausalzusammenhang zwischen dem Fehlen der vorherigen
Anhörung der Rechtsmittelführerin und dem ihr angeblich durch die Veröffentlichung dieses Berichts
entstandenen Schaden.
35.
Die Rechtsmittelführerin kann daher nicht rügen, dass der Klagegrund der Verletzung des Rechts
auf Anhörung vom Gericht zurückgewiesen wurde.
36.
Der zweite und der dritte Rechtsmittelgrund sind daher zurückzuweisen.
37.
Die Rechtsmittelführerin trägt vor, das Gericht habe eine Verleumdung zu Unrecht und ohne
Begründung verneint, obwohl die - nicht erforderliche - Veröffentlichung von Angaben über namentlich
genannte Dritte mit Hinweis auf eine etwaige Strafverfolgung gegen folgende Grundsätze verstoße:
erstens gegen den Grundsatz der Anonymität, den das Gericht vorbehaltlich von Ausnahmefällen
anerkannt habe, zweitens gegen den Grundsatz der Vertraulichkeit, der nach den allgemeinen
Rechtsgrundsätzen bei der Verhängung einer Strafmaßnahme gelte, und drittens gegen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wonach die Gemeinschaftsorgane nicht stärker in die subjektive
Stellung der Einzelnen eingreifen dürften, als zur Erreichung des verfolgten Zieles erforderlich sei.
38.
Nach Auffassung des Rechnungshofes sind die Rügen unzulässig, da sie sich nicht unmittelbar
gegen die rechtlichen Ausführungen des Gerichts richteten. Hilfsweise trägt er vor, das Gericht habe
die Nennung der Personen, bei denen die beanstandete Interessenverquickung vorlag, im Hinblick auf
die gravierenden Missstände, an denen die Rechtsmittelführerin beteiligt gewesen sei, zu Recht als
erforderlich und damit verhältnismäßig betrachtet. Jedenfalls handle es sich bei dem Hinweis der
Rechtsmittelführerin auf einen angeblichen Grundsatz der Vertraulichkeit um neues Vorbringen.
39.
Wie aus Randnummer 109 des angefochtenen Urteils hervorgeht, hat das Gericht befunden, dass
sich der Rechnungshof ausnahmsweise, vor allem aber bei gravierenden Missständen, die die
Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Einnahmen und Ausgaben oder die Erfordernisse der
Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung ernsthaft berührten, veranlasst sehen könne, den
festgestellten Sachverhalt vollständig offenzulegen und damit unmittelbar beteiligte Dritte namentlich
zu nennen. Diese Nennung, die durch das Bemühen um eine wirkungsvolle Erfüllung der
Überwachungsaufgabe gerechtfertigt sei, könne insbesondere dann erforderlich sein, wenn das
Verschweigen der Namen Zweifel an der Identität der beteiligten Personen hervorrufen könnte.
40.
Entsprechend der Auffassung des Gerichts ist der Rechnungshof aufgrund besonderer Umstände,
etwa wenn ein schwerwiegender Fall vorliegt oder eine Verwechslungsgefahr besteht, durch die
Drittinteressen beeinträchtigen werden könnten, berechtigt, Personen, die grundsätzlich nicht seiner
Überwachung unterliegen, in seinen Berichten namentlich zu nennen, sofern diesen Personen, wie
oben in den Randnummern 28 und 29 hervorgehoben, ein Recht auf Anhörung zugestanden wird.
41.
In einem solchen Fall prüft der mit der Klage befasste Gemeinschaftsrichter, ob die namentliche
Nennung im Hinblick auf das mit der Veröffentlichung des Berichts verfolgte Ziel erforderlich und
verhältnismäßig war. Die umfassende Nachprüfungsbefugnis, die er dabei ausübt, fällt unter seine
freie Würdigung des Sachverhalts, die im Rechtsmittelverfahren nicht angreifbar ist, sofern die
getroffenen Tatsachenfeststellungen nicht unrichtig und der Akteninhalt nicht entstellt worden sind.
42.
Daher ist die Prüfung, auf deren Grundlage das Gericht feststellte, der Rechnungshof sei berechtigt
gewesen, die Rechtsmittelführerin in seinem Bericht Nr. 1/96 ausdrücklich zu nennen und
insbesondere in Nummer 57 dieses Berichts zu erwähnen, dass die Kommission die Notwendigkeit
rechtlicher Schritte gegen die Verantwortlichen geprüft habe, der Kontrolle durch den Gerichtshof
entzogen, denn im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens wurde nichts vorgetragen, was
auf eine Entstellung des Akteninhalts durch das Gericht oder die Unrichtigkeit seiner
Tatsachenfeststellungen schließen ließe.
43.
Der vierte Rechtsmittelgrund ist daher zurückzuweisen.
44.
Die Rechtsmittelführerin behauptet, dass das Gericht durch die Feststellung, bei der
Rechtsmittelführerin habe eine Interessenverquickung vorgelegen, den zugrundeliegenden
Sachverhalt entstellt habe. Sie trägt weiter vor, dass die ARTM, in deren Verwaltungsrat einer ihrer
Leiter Mitglied gewesen sei, bei der Vergabe von Aufträgen an die Büros für technische Hilfe keine
Entscheidungsbefugnis gehabt habe, dass die Entscheidung über die Vergabe der zwei einzigen an
die Rechtsmittelführerin erteilten Aufträge, auf die sich der Bericht Nr. 1/96 beziehe, von der
Kommission getroffen worden sei und dass die Anlaufphase der Mittelmeerprogramme, während der
Aufträge freihändig vergeben worden seien, nach der Gründung der ARTM fortgedauert habe.
45.
Der Begriff der „Interessenverquickung“, der ohne Bezug auf die Absichten der Beteiligten
verwendet werde, sei rechtlich irrelevant und für jegliche Bewertung der Lage untauglich.
46.
Der Rechnungshof führt aus, mangels Entstellung des Akteninhalts oder unrichtiger
Tatsachenfeststellungen sei das Vorbringen über die Befugnisse der ARTM, über die Rolle der
Kommission und über die Dauer der Anlaufphase nichts weiter als eine unzulässige Aufforderung zur
Überprüfung der im ersten Rechtszug getroffenen Tatsachenfeststellungen. Bei der Erörterung des
Begriffes der Anlaufphase werde nur Vorbringen aus der ersten Instanz wiederholt; es sei unzulässig
und unbegründet, da das Gericht eindeutig festgelegt habe, was unter diesem Begriff zu verstehen
sei.
47.
Erstens ist der Begriff der Interessenverquickung, deren Tatbestand nach der Definition des
Gerichts in Randnummer 112 des angefochtenen Urteils erfüllt ist, „wenn demjenigen ein öffentlicher
Auftrag erteilt wird, der bei der Evaluierung und der Auswahl der Angebote für diesen Auftrag
mitwirkt“, im Rahmen der Überwachung der Finanzverwaltung der Organe und Einrichtungen der
Gemeinschaft durch den Rechnungshof treffend und sachdienlich; er kennzeichnet gravierende
Missstände bei dem betroffenen Organ oder der betroffenen Einrichtung.
48.
Zweitens gehört die Entscheidung des Gerichts, der ihm vorliegende Sachverhalt erfülle den
Tatbestand der Interessenverquickung, zur freien Würdigung des Sachverhalts durch die
Tatsacheninstanz. Da im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens nicht dargetan wurde,
dass im angefochtenen Urteil die Tatsachen unrichtig festgestellt oder der Akteninhalt entstellt
worden wären, unterliegt diese Entscheidung nicht der Kontrolle durch den Gerichtshof.
49.
Der fünfte Rechtsmittelgrund ist daher zurückzuweisen.
50.
Die Rechtsmittelführerin trägt vor, es genüge nicht, wenn das Gericht die Aussage- und Beweiskraft
einer Urkunde, mit der nachgewiesen werden solle, dass die Kommission auf die Aufforderung zum
Rücktritt eines der Leiter der Rechtsmittelführerin von seinem Amt im Verwaltungsrat der ARTM
verzichtet habe, als fragwürdig bezeichne. Außerdem beanstandet die Rechtsmittelführerin die
Ausführungen, mit denen das Gericht festgestellt habe, der Rücktritt sei erst nach langem Feilschen
über Auftragsvergaben und Vorschläge für Nachfolger erfolgt.
51.
Der Rechnungshof sieht in diesen Feststellungen nichts, woraus auf eine Entstellung der
Tatsachen geschlossen werden könnte; eine solche sei Voraussetzung für eine Überprüfung der
Entscheidung des Gerichts.
52.
Das Vorbringen der Rechtsmittelführerin im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens zur
Auslegung des Protokolls über die Sitzung des Verwaltungsrats der ARTM vom 21. Januar 1994 und
über die von ihr gestellten Bedingungen für den Rücktritt ihres Leiters von seinem Amt im
Verwaltungsrat der ARTM hat nichts dafür ergeben, dass die Begründung des angefochtenen Urteils
unrichtige Tatsachenfeststellungen oder eine Entstellung des Akteninhalts enthielt.
53.
Das sechste Rechtsmittel ist unter diesen Umständen eine Aufforderung zur Überprüfung der
Würdigung des Sachverhalts durch das Gericht, der nicht Gegenstand eines Rechtsmittels sein kann.
54.
Der sechste Rechtsmittelgrund ist daher als unzulässig zurückzuweisen.
55.
Nach alledem ist das Rechtsmittel in seiner Gesamtheit zurückzuweisen.
Kosten
56.
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes, der nach Artikel 118 auf das
Rechtsmittelverfahren entsprechende Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur
Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rechnungshof einen entsprechenden Antrag gestellt hat
und die Rechtsmittelführerin mit ihrem Rechtsmittel unterlegen ist, sind der Rechtsmittelführerin die
Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Ismeri Europa Srl trägt die Kosten des Verfahrens.
Rodríguez Iglesias
Gulmann
Wathelet
Skouris
Edward
Puissochet
Jann
Sevón
Schintgen
Macken
Timmermans
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. Juli 2001
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
Verfahrenssprache: Italienisch.