Urteil des EuGH vom 09.03.2000

EuGH: freizügigkeit der arbeitnehmer, belgien, kommission, unternehmen, öffentliche sicherheit, öffentliche ordnung, juristische person, genehmigung, mitgliedstaat, regierung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
9. März 2000
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Freizügigkeit der Arbeitnehmer - Niederlassungsfreiheit -
Dienstleistungsfreiheit - Bewachungs- und Sicherheitsdienste - Erfordernis einer vorherigen Genehmigung -
Verpflichtung juristischer Personen, eine betriebliche Niederlassung im Inland zu haben - Verpflichtung der
Führungskräfte und Arbeitnehmer, im Inland zu wohnen - Erfordernis eines Ausweises nach nationalem
Recht“
In der Rechtssache C-355/98
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: C. Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner,
Luxemburg-Kirchberg,
Klägerin,
gegen
Königreich Belgien,
Angelegenheiten, Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, als Bevollmächtigten,
Zustellungsanschrift: Belgische Botschaft, 4, rue des Girondins, Luxemburg,
Beklagter,
wegen Feststellung, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 48,
52 und 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG, 43 EG und 49 EG) verstoßen hat, daß es im
Rahmen des Gesetzes vom 10. April 1990 über Bewachungsunternehmen, Sicherheitsunternehmen und
interne Bewachungsdienste Vorschriften erlassen hat, nach denen
a) der Betrieb eines unter dieses Gesetz fallenden Unternehmens von einer vorherigen Genehmigung
abhängig ist, die bestimmten Voraussetzungen unterliegt, nämlich
- der Verpflichtung des Bewachungsunternehmens, eine Betriebsniederlassung in Belgien zu haben,
- der Verpflichtung der Personen, die
- mit der tatsächlichen Leitung eines Bewachungsunternehmens oder eines internen
Bewachungsdienstes betraut sind oder
- in einem solchen Unternehmen oder für dessen Rechnung arbeiten oder bei dessen Tätigkeiten
eingesetzt werden, mit Ausnahme von Bediensteten, die intern für administrative oder logistische Zwecke
verwendet werden,
ihren Wohnsitz oder hilfsweise ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien zu haben,
- der Verpflichtung eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmens, ungeachtet
der von dem Unternehmen bereits für die Ausübung seiner Tätigkeit im Mitgliedstaat der Niederlassung
erbrachten Nachweise und Sicherheiten eine Genehmigung einzuholen,
b) für jede Person, die in Belgien eine Bewachungstätigkeit ausüben oder einen internen
Bewachungsdienst wahrnehmen möchte, die Erteilung eines Ausweises nach diesem Gesetz erforderlich ist,
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Sechsten Kammer J. C. Moitinho de Almeida in Wahrnehmung der
Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter L. Sevón, C. Gulmann, J.-P. Puissochet und
P. Jann (Berichterstatter),
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: R. Grass
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. September 1999,
folgendes
Urteil
1.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 29. September 1998
bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 EG)
Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus
den Artikeln 48, 52 und 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG, 43 EG und 49 EG) verstoßen
hat, daß es im Rahmen des Gesetzes vom 10. April 1990 über Bewachungsunternehmen,
Sicherheitsunternehmen und interne Bewachungsdienste ( vom 29. Mai 1990, S.
10963; im folgenden: Gesetz) Vorschriften erlassen hat, nach denen
a) der Betrieb eines unter dieses Gesetz fallenden Unternehmens von einer vorherigen
Genehmigung abhängig ist, die bestimmten Voraussetzungen unterliegt, nämlich
- der Verpflichtung des Bewachungsunternehmens, eine Betriebsniederlassung in Belgien zu
haben,
- der Verpflichtung der Personen, die
- mit der tatsächlichen Leitung eines Bewachungsunternehmens oder eines internen
Bewachungsdienstes betraut sind oder
- in einem solchen Unternehmen oder für dessen Rechnung arbeiten oder bei dessen
Tätigkeiten eingesetzt werden, mit Ausnahme von Bediensteten, die intern für administrative oder
logistische Zwecke verwendet werden,
ihren Wohnsitz oder hilfsweise ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien zu haben,
- der Verpflichtung eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmens,
ungeachtet der von dem Unternehmen bereits für die Ausübung seiner Tätigkeit im Mitgliedstaat der
Niederlassung erbrachten Nachweise und Sicherheiten eine Genehmigung einzuholen,
b) für jede Person, die in Belgien eine Bewachungstätigkeit ausüben oder einen internen
Bewachungsdienst wahrnehmen möchte, die Erteilung eines Ausweises nach diesem Gesetz
erforderlich ist.
Rechtlicher Rahmen
2.
Artikel 1 des Gesetzes lautet:
„(1) Als Bewachungsunternehmen im Sinne dieses Gesetzes ist jede natürliche oder juristische
Person anzusehen, die eine Tätigkeit ausübt, die in der dauernden oder zeitweiligen Erbringung von
Dienstleistungen auf dem Gebiet
a) der Überwachung und des Schutzes beweglicher oder unbeweglicher Gegenstände,
b) des Personenschutzes,
c) der Überwachung und des Schutzes von Gütertransporten,
d) des Betriebes von Alarmzentralen
an Dritte besteht.
(2) Als interner Bewachungsdienst im Sinne dieses Gesetzes ist jeder von einer natürlichen oder
juristischen Person für den eigenen Bedarf an einem öffentlich zugänglichen Ort eingerichtete Dienst
mit den in Absatz 1 Buchstaben a), b) oder c) genannten Tätigkeiten anzusehen.
(3) Als Sicherheitsunternehmen im Sinne dieses Gesetzes ist jede natürliche oder juristische Person
anzusehen, die eine Tätigkeit ausübt, die in der dauernden oder zeitweiligen Erbringung von
Dienstleistungen auf dem Gebiet des Entwurfs, des Einbaus und der Wartung von Alarmsystemen und
-zentralen an Dritte besteht.
...“
3.
Nach Artikel 2 des Gesetzes darf niemand ohne vorherige Genehmigung des Innenministers im
Benehmen mit dem Justizminister ein Bewachungsunternehmen betreiben oder einen internen
Bewachungsdienst einrichten. Bewachungsunternehmen können als juristische Personen nach dem
Recht eines Mitgliedstaats der Europäischen Union errichtet werden, doch müssen sie
eineBetriebsniederlassung in Belgien haben. Nach Artikel 4 des Gesetzes darf niemand ohne
vorherige Genehmigung des Innenministers ein Sicherheitsunternehmen betreiben.
4.
Nach Artikel 5 des Gesetzes müssen Personen, die mit der tatsächlichen Leitung eines
Bewachungsunternehmens oder eines internen Bewachungsdienstes betraut sind, ihren Wohnsitz
oder hilfsweise ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien haben. Dasselbe gilt nach Artikel 6 des
Gesetzes für die Bediensteten der Bewachungsunternehmen und internen Bewachungsdienste mit
Ausnahme der Bediensteten, die intern für administrative oder logistische Zwecke verwendet werden.
5.
Nach Artikel 8 des Gesetzes müssen Personen, die in einem solchen Unternehmen oder für dessen
Rechnung arbeiten, im Besitz eines vom Innenminister ausgestellten Ausweises sein.
6.
Das Gesetz wurde durch Gesetz vom 18. Juli 1997 ( vom 28. August 1997, S. 21964)
mit Wirkung vom 28. August 1997 geändert. Die hierdurch vorgenommenen Änderungen betreffen
allerdings nicht die Bestimmungen des Gesetzes, die Gegenstand des vorliegenden
Vertragsverletzungsverfahrens sind.
Vorverfahren
7.
Mit Schreiben vom 11. April 1996 forderte die Kommission die belgische Regierung auf, zur
Vereinbarkeit des Gesetzes mit dem freien Dienstleistungsverkehr, der Niederlassungsfreiheit und der
Freizügigkeit der Arbeitnehmer Stellung zu nehmen.
8.
Die belgische Regierung antwortete darauf am 14. Juni 1996, die Einschränkungen dieser
Freiheiten durch das Gesetz seien durch die in Artikel 48 Absatz 3 des Vertrages und Artikel 56 EG-
Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 46 EG) gegebenenfalls in Verbindung mit Artikel 66 EG-Vertrag
(jetzt Artikel 55 EG) vorgesehenen Ausnahmebestimmungen gerechtfertigt.
9.
Mit Schreiben vom 10. Juni 1997 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene
Stellungnahme an das Königreich Belgien, mit der sie dieses aufforderte, innerhalb einer Frist von zwei
Monaten ab Zustellung der Stellungnahme die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser
nachzukommen.
10.
In ihrem Antwortschreiben vom 6. Mai 1998 berief sich die belgische Regierung auf den besonderen
Charakter des Sektors private Sicherungsdienste und verwies hierzu auf Artikel 55 EG-Vertrag (jetzt
Artikel 45 EG).
11.
Speziell zu der Verpflichtung, eine Betriebsniederlassung in Belgien zu haben, machte die belgische
Regierung geltend, diese sei aus Gründen der öffentlichen Ordnung im Sinne von Artikel 56 EG-Vertrag
gerechtfertigt. Was das Erforderniseiner vorherigen Genehmigung oder Zulassung angehe, fehle es
an einer Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten; auch sei nicht dargetan worden, daß in
anderen Mitgliedstaaten ähnliche Dienstleistungen wie die in Belgien zugelassenen erbracht würden.
Zum Erfordernis des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts hat sie schließlich geltend gemacht,
die Personen, die auf dem Bewachungssektor tätig werden wollten, müßten einem „Screening“
unterzogen werden.
12.
Da die Kommission durch diese Antwort nicht zufriedengestellt war, hat sie die vorliegende
Vertragsverletzungsklage erhoben.
Vorbringen der Parteien
13.
Die Kommission trägt vor, das Gesetz schränke den freien Dienstleistungsverkehr in mehrfacher
Hinsicht ein. Diese Beschränkungen ergäben sich aus der Verpflichtung der
Bewachungsunternehmen, ihre Betriebsniederlassung in Belgien zu haben, dem Erfordernis einer
Genehmigung für die Ausübung der Tätigkeiten eines Bewachungsunternehmens sowie einer
Zulassung für die Ausübung der Tätigkeiten eines Sicherungsunternehmens und schließlich der
Verpflichtung des Personals der Bewachungsunternehmen und der internen Bewachungsdienste, im
Besitz eines vom belgischen Innenminister erteilten Ausweises zu sein.
14.
Das Gesetz schränke ferner die Niederlassungsfreiheit und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer
insoweit ein, als es für die Personen, die mit der tatsächlichen Leitung eines
Bewachungsunternehmens oder eines internen Bewachungsdienstes betraut seien, sowie für das
Personal dieser Unternehmen und Dienste, mit Ausnahme von Bediensteten, die intern für
administrative oder logistische Zwecke verwendet würden, ein Wohnsitzerfordernis aufstelle.
15.
Artikel 55 des Vertrages finde keine Anwendung, da die Bewachungsunternehmen und internen
Bewachungsdienste sowie die Sicherungsunternehmen nicht an der Ausübung öffentlicher Gewalt
teilnähmen.
16.
Zur Verpflichtung, eine Betriebsniederlassung in Belgien zu haben, vertritt die Kommission die
Auffassung, ein solches Erfordernis sei nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung im Sinne des
Artikels 56 des Vertrages zu rechtfertigen, wenn nachgewiesen wäre, daß das individuelle Verhalten
der betreffenden Person oder des betreffenden Unternehmens eine gegenwärtige, tatsächliche und
hinreichend schwere Gefährdung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Eine
solche Gefährdung sei im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen worden. Im übrigen stehe das
betreffende Erfordernis außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck.
17.
Auch das Erfordernis einer Genehmigung oder Zulassung sowie eines vom belgischen Innenminister
ausgestellten Ausweises sei bei gelegentlichen Dienstleistungen unverhältnismäßig. Zum einen lasse
das Gesetz es nicht zu, dieSicherheiten zu berücksichtigen, die der Leistende bereits im
Niederlassungsmitgliedstaat für die Ausübung seiner Tätigkeit erbracht habe. Zum anderen müsse
bereits nach Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung
der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der
Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABl. L 172, S. 14)
jeder, der sich vorübergehend nach Belgien begebe, um dort eine Dienstleistung zu erbringen, im
Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein.
18.
Die durch das Gesetz aufgestellten Wohnsitzbedingungen könnten nicht durch das Erfordernis
gerechtfertigt werden, die Betroffenen einem „Screening“ zu unterziehen.
19.
Die belgische Regierung trägt vor, die Bewachungstätigkeit mache ihrer besonderen Natur nach
eine strikte Regelung erforderlich, die es auf Gemeinschaftsebene und in den meisten Mitgliedstaaten
nicht gebe. Jedes Bewachungsunternehmen könne eine tatsächliche und hinreichend schwere
Gefährdung darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft, nämlich die öffentliche Sicherheit und
Ordnung, berühre.
20.
Im Zusammenhang mit dem Wohnsitzerfordernis führt die belgische Regierung aus, sie habe das
Urteil vom 29. Oktober 1998 in der Rechtssache C-114/97 (Kommission/Spanien, Slg. 1998, I-6717) zur
Kenntnis genommen und die Möglichkeit, die streitigen Vorschriften des Gesetzes zu ändern, würden
gegenwärtig nach Maßgabe dieses Urteils geprüft.
21.
Mit Schreiben vom 23. August 1999 hat die belgische Regierung dem Gerichtshof den Wortlaut des
Gesetzes vom 9. Juni 1999 zur Änderung des Gesetzes vom 10. April 1990 ( vom 29. Juli
1999, S. 28316) sowie die Kopie eines Schreibens übermittelt, mit dem sie die Kommission um
Rücknahme der vorliegenden Klage ersucht hatte.
Würdigung durch den Gerichtshof
22.
Bezüglich der Mitteilung der belgischen Regierung vom 23. August 1999 ist daran zu erinnern, daß
das Vorliegen einer Vertragsverletzung nach ständiger Rechtsprechung anhand der Lage zu
beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen
versehenen Stellungnahme gesetzt wurde; später eingetretene Veränderungen können vom
Gerichtshof nicht berücksichtigt werden (vgl. u. a. Urteil vom 16. Dezember 1997 in der Rechtssache
C-316/96, Kommission/Italien, Slg. 1997, I-7231, Randnr. 14).
23.
Im Hinblick auf die Vorschriften des Gesetzes in seiner bei Ablauf der in der mit Gründen
versehenen Stellungnahme gesetzten Frist geltenden Fassung, die Gegenstand der vorliegenden
Klage sind, bestreitet die belgische Regierung nicht,daß diese die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die
Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr beschränken. Sie macht jedoch geltend,
diese Maßnahmen seien gerechtfertigt.
24.
Vorab ist festzustellen, daß die in Artikel 55 Absatz 1 des Vertrages, gegebenenfalls in Verbindung
mit Artikel 66 des Vertrages, vorgesehene Ausnahmeregelung hier keine Anwendung finden kann.
25.
Nach ständiger Rechtsprechung muß sich diese Ausnahmeregelung nämlich auf Tätigkeiten
beschränken, die als solche eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung
öffentlicher Gewalt darstellen (Urteile vom 21. Juni 1974 in der Rechtssache 2/74, Reyners, Slg. 1974,
631, Randnr. 45, und Kommission/Spanien, Randnr. 35).
26.
Die Tätigkeit der Bewachungs- oder Sicherheitsunternehmen und der internen Bewachungsdienste
stellt normalerweise keine direkte und spezifische Beteiligung an der Ausübung der öffentlichen
Gewalt dar, und die belgische Regierung hat keine Anhaltspunkte dargetan, aus denen sich etwas
anderes ergeben könnte.
27.
Das Erfordernis, daß ein Bewachungsunternehmen seine Betriebsniederlassung in Belgien haben
muß, läuft dem freien Dienstleistungsverkehr direkt zuwider, da es die Erbringung von
Dienstleistungen in Belgien durch in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Unternehmen
unmöglich macht (vgl. Urteil vom 4. Dezember 1986 in der Rechtssache 205/84,
Kommission/Deutschland, Slg. 1986, 3755, Randnr. 52).
28.
Was die zur Rechtfertigung dieses Erfordernisses geltend gemachten Gründe der öffentlichen
Ordnung und der öffentlichen Sicherheit angeht, ist zum einen daran zu erinnern, daß der Begriff der
öffentlichen Ordnung eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung voraussetzt, die ein
Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Wie bei allen Abweichungen von einem Grundprinzip des
Vertrages ist jedoch auch bei der Berufung auf die öffentliche Ordnung eine enge Auslegung geboten
(vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Januar 1999 in der Rechtssache C-348/96, Calfa, Slg. 1999, I-11,
Randnrn. 21 und 23).
29.
Zum anderen bezweckt das Recht der Mitgliedstaaten, den freien Verkehr von Personen und
Dienstleistungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einzuschränken,
nicht, Wirtschaftsbereiche wie den der privaten Sicherheitsdienste von der Anwendung dieses
Grundsatzes auszunehmen, sondern soll den Mitgliedstaaten die Möglichkeit verschaffen, solchen
Personen die Einreise oder den Aufenthalt im Staatsgebiet zu verwehren, deren Einreise oder
Aufenthalt in diesem Staatsgebiet für sich allein genommen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung,
Sicherheit oder Gesundheit darstellt (vgl. Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 42).
30.
Das Argument der belgischen Regierung, jedes Bewachungsunternehmen könne eine tatsächliche
und hinreichend schwere Gefährdung darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft, nämlich die
öffentliche Sicherheit und Ordnung, berühre, ist offensichtlich unbegründet und jedenfalls nicht
belegt; es kann daher die Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs, die sich aus der
Verpflichtung der ein solches Unternehmen betreibenden Gesellschaften ergibt, ihre
Betriebsniederlassung in Belgien zu haben, nicht rechtfertigen.
31.
Das den Führungskräften und dem Personal der Bewachungsunternehmen und internen
Bewachungsdienste mit Ausnahme der Bediensteten, die für administrative oder logistische Zwecke
verwendet werden, auferlegte Wohnsitzerfordernis behindert sowohl die Niederlassungsfreiheit (vgl.
Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 44) als auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (vgl. Urteil vom 7.
Mai 1998 in der Rechtssache C-350/96, Clean Car Autoservice, Slg. 1998, I-2521, Randnrn. 27 bis 30).
32.
Dieses Erfordernis kann nicht durch die Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die Vergangenheit
und das Verhalten der Betreffenden zu prüfen, die die belgische Regierung in ihrer Antwort auf die mit
Gründen versehene Stellungnahme geltend gemacht hat.
33.
Dem Erfordernis, Informationen über das Verhalten der Führungskräfte und des Personals zu
erlangen, kann nämlich durch Maßnahmen Genüge getan werden, die die Freizügigkeit weniger
einschränken, gegebenenfalls durch eine Zusammenarbeit der Behörden der Mitgliedstaaten.
34.
Überdies kann jedes in einem Mitgliedstaat niedergelassene Unternehmen unabhängig vom
Wohnsitz seiner Führungskräfte kontrolliert und Sanktionen unterworfen werden (vgl. in diesem Sinne
Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 47).
35.
Nach ständiger Rechtsprechung stellt eine nationale Regelung, die die Erbringung bestimmter
Dienstleistungen durch ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen im Inland
von der Erteilung einer behördlichen Erlaubnis abhängig macht, eine Beschränkung der
Dienstleistungsfreiheit im Sinne von Artikel 59 des Vertrages dar (vgl. insbesondere Urteil vom 9.
August 1994 in der Rechtssache C-43/93, Vander Elst, Slg. 1994, I-3803, Randnr. 15).
36.
Im Zusammenhang mit dem besonderen Charakter der Tätigkeiten der Bewachungs- und
Sicherheitsdienste sowie der fehlenden Regelung auf Gemeinschaftsebene und in den meisten
Mitgliedstaaten, auf die sich die belgische Regierung beruft, um dieses Erfordernis zu rechtfertigen,
ist festzustellen, daß dasGesetz jedenfalls über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten
Zwecks, eine strikte Kontrolle dieser Tätigkeiten sicherzustellen, erforderlich ist.
37.
Der freie Dienstleistungsverkehr als fundamentaler Grundsatz des Vertrages darf nämlich nur durch
Regelungen beschränkt werden, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt
sind und für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen
gelten, soweit dieses Interesse nicht durch die Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende
in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist (Urteil vom 17. Dezember 1981 in der
Rechtssache 279/80, Webb, Slg. 1981, 3305, Randnr. 17).
38.
Indem es verlangt, daß alle Unternehmen dieselben Voraussetzungen erfüllen, um eine vorherige
Genehmigung oder Zulassung zu erhalten, macht es das belgische Recht jedoch unmöglich, den
Verpflichtungen Rechnung zu tragen, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in
dem er ansässig ist.
39.
Das Erfordernis, daß jeder Mitarbeiter eines Bewachungsunternehmens oder eines internen
Bewachungsdienstes im Besitz eines vom belgischen Innenminister ausgestellten Ausweises sein muß,
ist ebenfalls als Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs anzusehen. Die mit der Erteilung
eines solchen Ausweises verbundenen Formalitäten können die Erbringung grenzüberschreitender
Dienstleistungen nämlich verteuern.
40.
Im übrigen muß, wie die Kommission zu Recht hervorgehoben hat, ein Dienstleistender, der sich in
einen anderen Mitgliedstaat begibt, im Besitz eines Ausweises oder Reisepasses sein. Folglich steht
das Erfordernis eines zusätzlichen, vom belgischen Innenminister erteilten Ausweises außer Verhältnis
zu der Notwendigkeit, die Feststellung der Identität der Betreffenden zu gewährleisten.
41.
Somit ist festzustellen, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den
Artikeln 48, 52 und 59 EG-Vertrag verstoßen hat, daß es im Rahmen des Gesetzes Vorschriften
erlassen hat, nach denen
a) der Betrieb eines unter dieses Gesetz fallenden Unternehmens von einer vorherigen
Genehmigung abhängig ist, die bestimmten Voraussetzungen unterliegt, nämlich
- der Verpflichtung des Bewachungsunternehmens, eine Betriebsniederlassung in Belgien zu
haben,
- der Verpflichtung der Personen, die
- mit der tatsächlichen Leitung eines Bewachungsunternehmens oder eines internen
Bewachungsdienstes betraut sind oder
- in einem solchen Unternehmen oder für dessen Rechnung arbeiten oder bei dessen
Tätigkeiten eingesetzt werden, mit Ausnahme von Bediensteten, die intern für administrative oder
logistische Zwecke verwendet werden,
ihren Wohnsitz oder hilfsweise ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien zu haben,
- der Verpflichtung eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmens,
ungeachtet der von dem Unternehmen bereits für die Ausübung seiner Tätigkeit im Mitgliedstaat der
Niederlassung erbrachten Nachweise und Sicherheiten eine Genehmigung einzuholen,
b) für jede Person, die in Belgien eine Bewachungstätigkeit ausüben oder einen internen
Bewachungsdienst wahrnehmen möchte, die Erteilung eines Ausweises nach diesem Gesetz
erforderlich ist.
Kosten
42.
Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der
Kosten zu verurteilen. Da die Kommission beantragt hat, dem Königreich Belgien die Kosten
aufzuerlegen, und dieses mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Königreich Belgien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 48,
52 und 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG, 43 EG und 49 EG) verstoßen, daß
es im Rahmen des Gesetzes vom 10. April 1990 über Bewachungsunternehmen,
Sicherheitsunternehmen und interne Bewachungsdienste Vorschriften erlassen hat, nach
denen
a) der Betrieb eines unter dieses Gesetz fallenden Unternehmens von einer
vorherigen Genehmigung abhängig ist, die bestimmten Voraussetzungen unterliegt,
nämlich
- der Verpflichtung des Bewachungsunternehmens, eine Betriebsniederlassung in
Belgien zu haben,
- der Verpflichtung der Personen, die
- mit der tatsächlichen Leitung eines Bewachungsunternehmens oder eines
internen Bewachungsdienstes betraut sind oder
- in einem solchen Unternehmen oder für dessen Rechnung arbeiten oder bei
dessen Tätigkeiten eingesetzt werden, mit Ausnahme von Bediensteten, die intern für
administrative oder logistische Zwecke verwendet werden,
ihren Wohnsitz oder hilfsweise ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien zu haben,
- der Verpflichtung eines in einem anderen Mitgliedstaatniedergelassenen
Unternehmens, ungeachtet der von dem Unternehmen bereits für die Ausübung seiner
Tätigkeit im Mitgliedstaat der Niederlassung erbrachten Nachweise und Sicherheiten eine
Genehmigung einzuholen,
b) für jede Person, die in Belgien eine Bewachungstätigkeit ausüben oder einen
internen Bewachungsdienst wahrnehmen möchte, die Erteilung eines Ausweises nach
diesem Gesetz erforderlich ist.
2. Das Königreich Belgien trägt die Kosten des Verfahrens.
Moitinho de Almeida
Sevón
Gulmann
Puissochet Jann
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. März 2000.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
D. A. O. Edward
Verfahrenssprache: Französisch.