Urteil des EuGH vom 07.05.1998

EuGH: staatliche beihilfe, unternehmen, kommission, regierung, anhörung, unbefristet, begriff, umwandlung, markt, befreiung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Vierte Kammer)
7. Mai 1998
„Staatliche Beihilfen — Begriff — Nationales Gesetz, das eine einzelne Einrichtung von öffentlichem Interesse
von der Einhaltung einer allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Vorschrift befreit“
In den verbundenen Rechtssachen C-52/97, C-53/97 und C-54/97
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag von der Pretura circondariale Trient (Italien) in
den bei dieser anhängigen Rechtsstreitigkeiten
Epifanio Viscido
Mauro Scandella u. a.
Massimiliano Terragnolo u. a.
gegen
Ente Poste Italiane
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 92 Absatz 1 und 93 EG-Vertrag
erläßt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten H. Ragnemalm sowie der Richter J. L. Murray (Berichterstatter) und
K. M. Ioannou,
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
— der italienischen Regierung, vertreten durch Professor Umberto Leanza, Leiter des Servizio del
contenzioso diplomatico des Außenministeriums, als Bevollmächtigten, Beistand: Avvocato dello Stato Danilo
Del Gaizo,
— der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder und Oberregierungsrat Bernd
Kloke, Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigte,
— der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Francisco Santaolalla, Juristischer
Hauptberater, Dimitris Triantafyllou, Juristischer Dienst, und Enrico Altieri, zum Juristischen Dienst der
Kommission abgeordneter nationaler Beamter, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der italienischen Regierung, vertreten durch Danilo Del Gaizo,
und der Kommission, vertreten durch Dimitris Triantafyllou und Laura Pignataro, Juristischer Dienst, als
Bevollmächtigte, in der Sitzung vom 29. Januar 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Februar 1998,
folgendes
Urteil
1.
Die Pretura circondariale Trient hat mit drei Beschlüssen vom 3. Februar 1997, beim Gerichtshof
eingegangen am 7. Februar 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag vier Fragen nach der Auslegung der
Artikel 92 Absatz 1 und 93 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich im Rahmen dreier Rechtsstreitigkeiten zwischen den Beschäftigten des
Ente Poste Italiane (Unternehmen Italienische Post) Viscido, Scandella u. a. sowie Terragnolo u. a. (im
folgenden: Kläger) und dem Ente Poste Italiane (im folgenden: Beklagter).
3.
Aus den Akten der Ausgangsverfahren ergibt sich, daß die Kläger des Ausgangsverfahrens dem
Beklagten vorwerfen, sie mit befristeten Verträgen eingestellt zu haben. Sie machen geltend, daß
diese Verträge in unbefristete Verträge umzudeuten seien.
4.
Das italienische Recht läßt den Rückgriff auf befristete Arbeitsverträge nur in Ausnahmefällen zu. So
sieht Artikel 1 des Gesetzes Nr. 230 vom 18. April 1962 vor, daß Arbeitsverträge — von einigen
gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen abgesehen — als unbefristet gelten. Artikel 5 dieses Gesetzes
sieht vor, daß einem aufgrund eines befristeten Vertrages eingestellten Arbeitnehmer alle
Vergünstigungen, die das Unternehmen den unbefristet beschäftigten Arbeitnehmern gewährt,
entsprechend der Dauer seiner Beschäftigung gewährt werden, sofern dies nicht mit der Natur des
befristeten Vertrages objektiv unvereinbar ist.
5.
Mit dem Gesetz Nr. 56 vom 28. Februar 1987 zur Regelung des Arbeitsmarkts wurden für bestimmte
Arbeitnehmergruppen weitere Ausnahmen vom Grundsatz des Verbotes befristeter Arbeitsverträge
eingeführt.
6.
Das am 28. November 1996 in das Gesetz Nr. 608 umgewandelte Decreto legge Nr. 510 vom 1.
Oktober 1996 über Dringlichkeitsbestimmungen auf dem Gebiet der gemeinnützigen Arbeiten sowie
der Maßnahmen zur Stützung der Einkommen und zur sozialen Vorsorge schreibt in Artikel 9 Absatz 21
vor:
„Diejenigen Arbeitnehmer, die ab 1. Dezember 1994 beim Unternehmen Poste Italiane mit befristetem
Arbeitsvertrag beschäftigt waren, haben entsprechend den vertraglichen Bestimmungen und den mit
den Gewerkschaften getroffenen Vereinbarungen bis zum 31. Dezember 1996 ein Vorrecht bei der
unbefristeten Einstellung für eine Stelle der gleichen Gehaltsstufe und/oder des gleichen
Aufgabenbereichs durch das Unternehmen Poste Italiane; die betreffenden Arbeitnehmer müssen ihre
Absicht, dieses Recht auszuüben, bis zum 30. November 1996 bekunden. Die Einstellungen von
Beschäftigten mit befristetem Arbeitsvertrag, die das Unternehmen Poste Italiane ab dem Zeitpunkt
seiner Gründung, spätestens aber bis zum 30. Juni 1997 vorgenommen hat, können nicht zu
unbefristeten Arbeitsverhältnissen führen und enden bei Ablauf des jeweiligen Arbeitsvertrags.“
7.
In den Ausgangsverfahren machte der Beklagte geltend, daß die streitigen Arbeitsverträge gemäß
Artikel 9 Absatz 21 des Decreto legge Nr. 510 nicht den Vorschriften der Gesetze Nrn. 230 und 56
unterlägen.
8.
Die Kläger machten ihrerseits geltend, daß die streitige Regelung eine staatliche Beihilfe darstelle,
so daß sie als solche den Verfahren und der Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt
gemäß den Artikeln 92 und 93 EG-Vertrag unterliege.
9.
Da die Pretura circondariale eine Auslegung dieser Bestimmungen für erforderlich hält, um über die
bei ihr anhängigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden zu können, hat sie beschlossen, das Verfahren
auszusetzen und dem Gerichtshof folgende vier Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Fällt unter den Begriff „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher
Art“ eine gesetzliche Bestimmung, die ein einzelnes öffentliches Wirtschaftsunternehmen von der
Einhaltung der allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Vorschriften befreit?
2. Falls die erste Frage bejaht wird: Hätte eine solche Beihilfe dem Vorprüfungsverfahren gemäß
Artikel 93 Absatz 3 EG-Vertrag unterzogen werden müssen?
3. Kann das Verbot einer solchen Beihilfe, wenn das vorgenannte Verfahren nicht durchgeführt
wurde, als im innerstaatlichen Recht des italienischen Staates unmittelbar anwendbar betrachtet
werden?
4. Falls die dritte Frage bejaht wird: Kann sich ein einzelner, der in einem Rechtsstreit mit dem
öffentlichen Wirtschaftsunternehmen die Nichtanwendung der allgemeinen Vorschriften über
Zeitarbeit in seinem Fall beanstandet, um die Umwandlung seines Arbeitsverhältnisses in ein
unbefristetes Arbeitsverhältnis und/oder Schadensersatz zu erlangen, auf ein solches Verbot berufen?
10.
Mit Beschluß des Präsidenten des Gerichtshofes vom 25. Februar 1997 sind die Rechtssachen C-
52/97, C-53/97 und C-54/97 zu gemeinsamem mündlichen und schriftlichen Verfahren und zu
gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
11.
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob eine nationale
Vorschrift, die ein einzelnes Unternehmen von der Einhaltung der allgemein für befristete
Arbeitsverträge geltenden Regelung befreit, eine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1
EG-Vertrag darstellt.
12.
Das vorlegende Gericht führt aus, daß der Beklagte, da er keine unbefristeten Arbeitsverträge
schließen müsse, flexibler sein könne als andere Unternehmen desselben Sektors.
13.
Es ist daran zu erinnern, daß nur solche Vorteile als Beihilfen im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 des
Vertrages anzusehen sind, die unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden. Die
in dieser Bestimmung vorgenommene
Unterscheidung zwischen „staatlichen“ und „aus staatlichen Mitteln gewährten“ Beihilfen bedeutet
nämlich nicht, daß alle von einem Staat gewährten Vorteile unabhängig davon Beihilfen darstellen, ob
sie aus staatlichen Mitteln finanziert werden, sondern dient nur dazu, in den Beihilfebegriff die
unmittelbar vom Staat gewährten Vorteile sowie diejenigen, die über eine vom Staat benannte oder
errichtete öffentliche oder private Einrichtung gewährt werden, einzubeziehen (vgl. Urteile vom 24.
Januar 1978 in der Rechtssache 82/77, Van Tiggele, Slg. 1978, 25, Randnrn. 24 und 25, vom 17. März
1993 in den verbundenen Rechtssachen C-72/91 und C-73/91, Sloman Neptun, Slg. 1993, I-887,
Randnr. 19, und vom 30. November 1993 in der Rechtssache C-189/91, Kirsammer-Hack, Slg. 1993, I-
6185, Randnr. 16).
14.
Im vorliegenden Fall führt die Befreiung eines einzelnen Unternehmens von der allgemein für
befristete Arbeitsverträge geltenden Regelung nicht zu einer unmittelbaren oder mittelbaren
Übertragung staatlicher Mittel auf dieses Unternehmen.
15.
Daraus folgt, daß eine Vorschrift der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art kein Mittel
dazu darstellt, unmittelbar oder mittelbar einen Vorteil aus staatlichen Mitteln zu gewähren.
16.
Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß eine nationale Vorschrift, die ein einzelnes
Unternehmen von der Einhaltung der allgemein für befristete Arbeitsverträge geltenden Regelung
befreit, keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EG-Vertrag darstellt.
17.
Angesichts der Antwort auf die erste Frage brauchen die zweite, die dritte und die vierte Frage
nicht beantwortet zu werden.
Kosten
18.
Die Auslagen der italienischen und der deutschen Regierung sowie der Kommission der
Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht
erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den
bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher
Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
auf die ihm von der Pretura circondariale Trient mit Beschlüssen vom 3. Februar 1997 vorgelegten
Fragen für Recht erkannt:
Eine nationale Vorschrift, die ein einzelnes Unternehmen von der Einhaltung der allgemein
für befristete Arbeitsverträge geltenden Regelung befreit, stellt keine staatliche Beihilfe
im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EG-Vertrag dar.
Ragnemalm
Murray
Ioannou
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 7. Mai 1998.
Der Kanzler
Der Präsident der Vierten Kammer
R. Grass
H. Ragnemalm
Verfahrenssprache: Italienisch.