Urteil des EuGH vom 07.02.2002

EuGH: arbeitssicherheit, uvv, nummer, kommission, gesundheit, arbeitsbedingungen, regierung, unfallverhütung, zahl, erfüllung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
7. Februar 2002
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Richtlinie 89/391/EWG - Maßnahmen zur Verbesserung der
Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit - Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a
und 10 Absatz 3 Buchstabe a - Pflicht des Arbeitgebers, über Dokumente zu verfügen, die eine Evaluierung
der am Arbeitsplatz bestehenden Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit enthalten“
In der Rechtssache C-5/00
Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Bundesrepublik Deutschland,
Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den
Artikeln 5 und 189 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG und 249 EG) sowie aus den Artikeln 9 Absatz 1 Buchstabe
a und 10 Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die
Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der
Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. L 183, S. 1) verstoßen hat, dass sie nach § 6 Absatz 1 des Gesetzes über
die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des
Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (Arbeitsschutzgesetz - ArbSchG, BGBl. 1996 I S. 1246)
Arbeitgeber mit zehn oder weniger Beschäftigten von der Pflicht befreit, über Dokumente zu verfügen, die die
Ergebnisse einer Evaluierung der Gefahren enthalten,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer S. von Bahr (Berichterstatter) in Wahrnehmung der
Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter D. A. O. Edward, A. La Pergola, M. Wathelet
und C. W. A. Timmermans,
Generalanwalt: L. A. Geelhoed
Kanzler: R. Grass
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. Juni 2001,
folgendes
Urteil
1.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 6. Januar 2000 bei
der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 226 EG Klage auf Feststellung erhoben,
dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 5 und 189
EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG und 249 EG) sowie aus den Artikeln 9 Absatz 1 Buchstabe a und 10
Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung
von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei
der Arbeit (ABl. L 183, S. 1, im Folgenden: Richtlinie) verstoßenhat, dass sie nach § 6 Absatz 1 des
Gesetzes über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der
Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (BGBl. 1996 I S. 1246, im
Folgenden: ArbSchG) Arbeitgeber mit zehn oder weniger Beschäftigten von der Pflicht befreit, über
Dokumente zu verfügen, die die Ergebnisse einer Evaluierung der Gefahren enthalten.
Die Gemeinschaftsregelung
2.
Wie sich aus ihrem Artikel 1 Absatz 2 ergibt, enthält die Richtlinie allgemeine Grundsätze für die
Verhütung berufsbedingter Gefahren, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer
bei der Arbeit, die Ausschaltung von Risiko- und Unfallfaktoren, die Information, die Anhörung und die
ausgewogene Beteiligung der Arbeitnehmer sowie allgemeine Regeln für die Durchführung dieser
Grundsätze.
3.
Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie verpflichtet den Arbeitgeber „je nach Art der
Tätigkeiten des Unternehmens bzw. Betriebes“ zur „Beurteilung von Gefahren für Sicherheit und
Gesundheit der Arbeitnehmer“. Die vom Arbeitgeber aufgrund dieser Beurteilung getroffenen
Maßnahmen zur Gefahrenverhütung sowie die von ihm angewandten Arbeits- und
Produktionsverfahren müssen erforderlichenfalls einen höheren Grad an Sicherheit und einen
besseren Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer gewährleisten und in alle Tätigkeiten des
Unternehmens bzw. des Betriebes einbezogen werden.
4.
Artikel 9 der Richtlinie („Sonstige Pflichten des Arbeitgebers“) sieht in Absatz 1 Buchstabe a vor:
„Der Arbeitgeber muss
a) über eine Evaluierung der am Arbeitsplatz bestehenden Gefahren für die Sicherheit und die
Gesundheit auch hinsichtlich der besonders gefährdeten Arbeitnehmergruppen verfügen.“
5.
Artikel 10 der Richtlinie („Unterrichtung der Arbeitnehmer“) bestimmt in Absatz 3:
„Der Arbeitgeber trifft die geeigneten Maßnahmen, damit die Arbeitnehmer mit einer besonderen
Funktion bei der Sicherheit und beim Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer oder die
Arbeitnehmervertreter mit einer besonderen Funktion bei der Sicherheit und beim Gesundheitsschutz
der Arbeitnehmer zur Ausübung ihrer jeweiligen Tätigkeiten gemäß den nationalen Rechtsvorschriften
bzw. Praktiken Zugang haben
a) zu der in Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben a) und b) vorgesehenen Evaluierung der Gefahren und zu
der Aufstellung der zu ergreifenden Schutzmaßnahmen.“
Die nationale Regelung
6.
§ 5 ArbSchG („Beurteilung der Arbeitsbedingungen“) sieht in Absatz 1 vor, dass der Arbeitgeber
durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln
hat, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind.
7.
§ 6 ArbSchG („Dokumentation“) bestimmt in seinem Absatz 1:
„Der Arbeitgeber muss über die je nach Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten
erforderlichen Unterlagen verfügen, aus denen das Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung, die von ihm
festgelegten Maßnahmen des Arbeitsschutzes und das Ergebnis ihrer Überprüfung ersichtlich sind. ...
Soweit in sonstigen Rechtsvorschriften nichts anderes bestimmt ist, gilt Satz 1 nicht für Arbeitgeber
mit zehn oder weniger Beschäftigten; die zuständige Behörde kann, wenn besondere
Gefährdungssituationen gegeben sind, anordnen, dass Unterlagen verfügbar sein müssen. ...“
8.
Nach § 2 Absatz 4 ArbSchG sind „sonstige Rechtsvorschriften“ im Sinne dieses Gesetzes
Regelungen über Maßnahmen des Arbeitsschutzes in anderen Gesetzen, in Rechtsverordnungen und
Unfallverhütungsvorschriften (im Folgenden: UVV).
9.
Gemäß § 1 des Gesetzes über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für
Arbeitssicherheit (Arbeitssicherheitsgesetz) vom 12. Dezember 1973 (BGBl. 1973 I S. 1885) mit der
Änderung durch Artikel 10 des Gesetzes vom 25. September 1996 (BGBl. 1996 I S. 1476) (im
Folgenden: ASiG) hat der Arbeitgeber Betriebsärzte und Fachkräfte für die Arbeitssicherheit zu
bestellen, die ihn beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung unterstützen sollen, um zu
erreichen, dass die dem Arbeitsschutz und der Unfallverhütung dienenden Vorschriften den
besonderen Betriebsverhältnissen entsprechend angewandt werden.
10.
§ 2 Absatz 1 ASiG sieht vor, dass der Arbeitgeber Betriebsärzte schriftlich zu bestellen und ihnen die
in § 3 des Gesetzes genannten Aufgaben zu übertragen hat, soweit dies im Hinblick auf erstens die
Betriebsart und die damit für die Arbeitnehmer verbundenen Unfall- und Gesundheitsgefahren,
zweitens die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer und die Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft
und drittens die Betriebsorganisation, insbesondere im Hinblick auf die Zahl und die Art der für den
Arbeitsschutz und die Unfallverhütung verantwortlichen Personen erforderlich ist.
11.
Nach § 3 Absatz 1 ASiG haben die Betriebsärzte die Aufgabe, den Arbeitgeber beim Arbeitsschutz
und bei der Unfallverhütung in allen Fragen des Gesundheitsschutzes zu unterstützen. Sie haben
insbesondere den Arbeitgeber und die sonst für den Arbeitsschutz und die Unfallverhütung
verantwortlichen Personen nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe g bei der Beurteilung der
Arbeitsbedingungen zu beraten.
12.
Daneben bestimmt § 5 Absatz 1 ASiG, dass der Arbeitgeber Fachkräfte für Arbeitssicherheit
(Sicherheitsingenieure, -techniker, -meister) schriftlich zu bestellen und ihnen die in § 6 des Gesetzes
genannten Aufgaben zu übertragen hat. Die Aufgabeder Fachkräfte für Arbeitssicherheit hinsichtlich
der Beurteilung der Arbeitsbedingungen ist in § 6 Nummer 1 Buchstabe e ASiG mit den gleichen
Worten festgelegt wie die der Betriebsärzte in § 3 Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe g dieses Gesetzes.
13.
Die §§ 3 Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe g und 6 Nummer 1 Buchstabe e ASiG wurden durch Artikel 2
des Gesetzes zur Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutz-
Richtlinien vom 7. August 1996 (BGBl. 1996 I S. 1246) eingefügt, das die Richtlinie in deutsches Recht
umsetzte und dessen Artikel 1 das ArbSchG enthält.
14.
§ 14 ASiG („Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen“) sieht in Absatz 1 vor:
„Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung kann mit Zustimmung des Bundesrates durch
Rechtsverordnung bestimmen, welche Maßnahmen der Arbeitgeber zur Erfüllung der sich aus diesem
Gesetz ergebenden Pflichten zu treffen hat. Soweit die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung
ermächtigt sind, die gesetzlichen Pflichten durch Unfallverhütungsvorschriften näher zu bestimmen,
macht der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung von der Ermächtigung erst Gebrauch,
nachdem innerhalb einer von ihm gesetzten angemessenen Frist der Träger der gesetzlichen
Unfallversicherung eine entsprechende Unfallverhütungsvorschrift nicht erlassen hat oder eine
unzureichend gewordene Unfallverhütungsvorschrift nicht ändert.“
15.
§ 14 Absatz 2 ASiG lautet:
„Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung kann mit Zustimmung des Bundesrates durch
Rechtsverordnung
1. feststellen, dass für bestimmte Betriebsarten unter Berücksichtigung der in § 2 Abs. 1 Nr. 2 und 3
und § 5 Abs. 1 Nr. 2 und 3 genannten Umstände die in den §§ 3 und 6 genannten Aufgaben ganz oder
zum Teil nicht erfüllt zu werden brauchen,
2. bestimmen, dass die in den §§ 3 und 6 genannten Aufgaben in bestimmten Betriebsarten nicht
oder nur zu einem Teil erfüllt zu werden brauchen, soweit dies unvermeidbar ist, weil nicht genügend
Betriebsärzte oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit zur Verfügung stehen.“
16.
§ 15 Absatz 1 Nummer 6 des Sozialgesetzbuchs VII (Siebtes Buch - Sozialgesetzbuch, BGBl. 1996 I S.
1254, im Folgenden: SGB VII) sieht vor, dass die Unfallversicherungsträger UVV über die Maßnahmen,
die der Unternehmer zur Erfüllung der sich aus dem ASiG ergebenden Pflichten zu treffen hat, als
autonomes Recht erlassen.
17.
§ 15 Absatz 4 SGB VII bestimmt:
„Die Vorschriften nach Absatz 1 bedürfen der Genehmigung durch das Bundesministerium für Arbeit
und Sozialordnung. Die Entscheidung hierüber wird im Benehmen mit den zuständigen obersten
Verwaltungsbehörden der Länder getroffen. Soweit die Vorschriften von einem
Unfallversicherungsträger erlassen werden, welcher der Aufsicht eines Landes untersteht,
entscheidet die zuständige oberste Landesbehörde über die Genehmigung im Benehmen mit dem
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung.“
Das vorprozessuale Verfahren
18.
Da die Kommission der Ansicht war, dass die Richtlinie nicht hinreichend ins deutsche Recht
umgesetzt worden sei, leitete sie das Vertragsverletzungsverfahren ein. Nachdem sie der
Bundesrepublik Deutschland zunächst Gelegenheit zur Äußerung gegeben hatte, richtete sie mit
Schreiben vom 19. Oktober 1998 an diese eine mit Gründen versehene Stellungnahme mit der
Aufforderung, innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieser Stellungnahme die erforderlichen
Maßnahmen zu treffen, um den Verpflichtungen aus der Richtlinie nachzukommen.
19.
Da die Antwort der deutschen Regierung auf die mit Gründen versehene Stellungnahme die
Kommission nicht zufrieden stellte, hat sie die vorliegende Klage erhoben.
Würdigung durch den Gerichtshof
20.
Die Kommission macht geltend, § 6 ArbSchG, der Arbeitgeber mit zehn oder weniger Beschäftigten
von der Pflicht befreie, über die erforderlichen Unterlagen zu verfügen, aus denen das Ergebnis der
Beurteilung der Gefährdung der Arbeitnehmer bei der Arbeit ersichtlich sei, verstoße gegen Artikel 9
Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie, der alle Arbeitgeber verpflichte, über eine solche Evaluierung zu
verfügen, und Artikel 10 Absatz 3 Buchstabe a dieser Richtlinie, der bestimmten Personen den
Zugang zu dieser Evaluierung garantiere.
21.
Die deutsche Regierung trägt vor, dass nach dem ASiG in Verbindung mit § 15 Absatz 1 Nummer 6
SGB VII und den UVV, die von den Unfallversicherungsträgern für jede Branche erlassen worden seien,
alle Unternehmen einschließlich der Unternehmen mit zehn oder weniger Beschäftigten, verpflichtet
seien, Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit zu bestellen, die wiederum verpflichtet seien,
Berichte zu erstellen, die eine Evaluierung der Gefahren am Arbeitsplatz enthielten, so dass die
Verpflichtung aus Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie vollständig erfüllt sei.
22.
Die Kommission erhebt zwei Rügen gegenüber den Vorschriften, auf die sich die deutsche
Regierung beruft.
23.
Die Kommission macht erstens geltend, dass die Berichtspflicht der Betriebsärzte und der
Fachkräfte für Arbeitssicherheit über die Erfüllung ihrer Aufgabe, die sich aus demASiG in Verbindung
mit § 15 Absatz 1 Nummer 6 SGB VII und den UVV ergebe, nicht mit der Verpflichtung des Arbeitgebers
nach Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie gleichzusetzen sei, über eine Evaluierung der
Gefahren in Form von Dokumenten zu verfügen. Zum einen obliege die Berichtspflicht nicht dem
Arbeitgeber, sondern den Betriebsärzten und den Fachkräften für Arbeitssicherheit, und der
Arbeitgeber sei nicht verpflichtet, die in diesen Berichten enthaltenen Ratschläge zu befolgen. Zum
anderen sei der Inhalt der von den Betriebsärzten und den Fachkräften für Arbeitssicherheit erstellten
Berichte nicht mit dem Inhalt der Dokumente gleichzusetzen, die die Richtlinie verlange.
24.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie den Arbeitgeber
verpflichtet, über Dokumente zu verfügen, die eine Evaluierung der am Arbeitsplatz bestehenden
Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit enthalten und zu denen die Arbeitnehmer oder die
Arbeitnehmervertreter mit einer besonderen Funktion bei der Sicherheit und beim Gesundheitsschutz
der Arbeitnehmer nach Artikel 10 Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie Zugang haben müssen.
25.
Wie der Generalanwalt in Nummer 60 seiner Schlussanträge festgestellt hat, schreibt Artikel 9
Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie nicht vor, wer die Dokumente, die eine Gefahrenevaluierung
enthalten, zu erstellen hat.
26.
Außerdem ergibt sich die Verpflichtung des Arbeitgebers, aufgrund des Ergebnisses der
Gefahrenevaluierung Maßnahmen zu erlassen, nicht aus dieser Vorschrift, sondern aus Artikel 6 der
Richtlinie, der nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist.
27.
Somit geht es um die Frage, ob die Berichte der Betriebsärzte und der Fachkräfte für
Arbeitssicherheit über die Erfüllung ihrer Aufgabe, die in den Vorschriften vorgesehen sind, auf die
sich die deutsche Regierung beruft, also im ASiG, in § 15 Absatz 1 Nummer 6 SGB VII und in den UVV,
denselben Gegenstand haben wie die in Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie geforderten
Dokumente, die eine Gefahrenevaluierung enthalten, so dass beide einen gleichartigen Inhalt haben.
28.
Insoweit ist festzustellen, dass zum einen die Berichte, die die Betriebsärzte und die Fachkräfte für
Arbeitssicherheit gemäß dem ASiG in Verbindung mit § 15 Absatz 1 Nummer 6 SGB VII und den UVV
erstellen, ausweislich der Akten das Ergebnis einer Beurteilung der Arbeitsbedingungen enthalten
müssen. Zum anderen stellt § 5 ArbSchG („Beurteilung der Arbeitsbedingungen“) die Verpflichtung
auf, die am Arbeitsplatz bestehenden Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit zu beurteilen.
29.
Folglich scheint der Gegenstand der Berichte der Betriebsärzte und der Fachkräfte für
Arbeitssicherheit nach dem ASiG in Verbindung mit § 15 Absatz 1 Nummer 6 SGB VII und den UVV kein
anderer zu sein als der der in § 6 Absatz 1 ArbSchG vorgesehenen Unterlagen über das Ergebnis der
Gefährdungsbeurteilung.
30.
In Bezug auf den Gegenstand der im ArbSchG vorgesehenen Unterlagen über das Ergebnis der
Gefährdungsbeurteilung erhebt die Kommission keine Rüge, und er scheint auf den ersten Blick dem
Gegenstand der von der Richtlinie geforderten Dokumente über eine Gefahrenevaluierung zu
entsprechen.
31.
Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Kommission nicht dargetan hat, dass die
Berichte der Betriebsärzte und der Fachkräfte für Arbeitssicherheit nach dem ASiG in Verbindung mit §
15 Absatz 1 Nummer 6 SGB VII und den UVV einen anderen Gegenstand haben als die von Artikel 9
Absatz 1 Buchstabe a geforderten Dokumente über eine Gefahrenevaluierung und dass der Inhalt
beider unterschiedlich ist.
32.
Daher ist die erste Rüge der Kommission als unbegründet zurückzuweisen.
33.
Die Kommission trägt zweitens vor, dass der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung - mit
Zustimmung des Bundesrates - gemäß § 14 Absatz 2 ASiG für bestimmte Betriebsarten unter
Berücksichtigung insbesondere der Zahl der Beschäftigten die Betriebsärzte und die Fachkräfte für
Arbeitssicherheit ganz oder teilweise von den in den §§ 3 und 6 dieses Gesetzes genannten Aufgaben,
darunter der Berichtspflicht, befreien und mithin Betriebe, die verpflichtet seien, über diese Berichte
zu verfügen, freistellen könne, so dass Ausnahmen von der Verpflichtung nach Artikel 9 Absatz 1
Buchstabe a der Richtlinie erlaubt seien.
34.
Nach Ansicht der deutschen Regierung kann der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung von
seiner Befugnis zur Befreiung gemäß § 14 Absatz 2 ASiG nur dann Gebrauch machen, wenn die
Unfallversicherungsträger keine UVV erlassen oder unzureichend gewordene UVV nicht geändert
hätten, also unter den gleichen Voraussetzungen, die für den Erlass von Rechtsverordnungen durch
den Minister gemäß § 14 Absatz 1 dieses Gesetzes vorgesehen seien. Da alle
Unfallversicherungsträger angemessene UVV erlassen hätten, sei eine Befreiung von der
Berichtspflicht nicht mehr möglich.
35.
Hierzu ist festzustellen, dass eine Vorschrift, die dem zuständigen Bundesminister für bestimmte
Betriebsarten insbesondere nach Maßgabe der Zahl der Beschäftigten die Befugnis gibt, die
Betriebsärzte und die Fachkräfte für Arbeitssicherheit von der Erstellung von Berichten über die
Beurteilung der Arbeitsbedingungen zu befreien, eindeutig gegen die Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a
und 10 Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie verstößt, da die Betriebe mit zehn oder weniger
Beschäftigten auf diese Weise von der Verpflichtung, über eine Gefahrenevaluierung in Form von
Dokumenten zu verfügen, freigestellt wären.
36.
Außerdem ergibt sich weder aus dem Wortlaut des § 14 Absatz 1 ASiG noch aus dem des § 14
Absatz 2 dieses Gesetzes, noch aus irgendeinem Umstand dieser Rechtssache, dass die in der
letzteren Vorschrift vorgesehene Freistellungsbefugnis von der Voraussetzung abhängig wäre, dass
die Unfallversicherungsträger keine UVV erlassen haben oder unzureichend gewordene UVV nicht
geändert haben.
37.
Nach alledem hat die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den
Artikeln 9 Absatz 1 Buchstabe a und 10 Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie verstoßen, dass sie nicht
sichergestellt hat, dass die von der Richtlinie vorgesehene Pflicht, über eine Evaluierung der am
Arbeitsplatz bestehenden Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit zu verfügen, unter allen
Umständen für Arbeitgeber mit zehn oder weniger Beschäftigten gilt.
Kosten
38.
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der
Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland beantragt
hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den
Artikeln 9 Absatz 1 Buchstabe a und 10 Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie verstoßen,
dass sie nicht sichergestellt hat, dass die von der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12.
Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des
Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit vorgesehene Pflicht, über eine
Evaluierung der am Arbeitsplatz bestehenden Gefahren für die Sicherheit und die
Gesundheit zu verfügen, unter allen Umständen für Arbeitgeber mit zehn oder weniger
Beschäftigten gilt.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens.
von Bahr
Edward
La Pergola
Wathelet
Timmermans
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 7. Februar 2002.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
P. Jann
Verfahrenssprache: Deutsch.