Urteil des EuGH vom 17.09.2002
EuGH: freizügigkeit der arbeitnehmer, verordnung, vertrag über die europäische union, staatsangehörigkeit, unterricht, immigration, eltern, mitgliedstaat, regierung, aufenthaltserlaubnis
WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES
17. September 2002
„Freizügigkeit - Wanderarbeitnehmer - Aufenthaltsrechte der Familienangehörigen des
Wanderarbeitnehmers - Anspruch der Kinder auf Fortsetzung ihrer Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat -
Artikel 10 und 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 - Unionsbürgerschaft - Aufenthaltsrecht - Richtlinie
90/364/EWG - Beschränkungen und Bedingungen“
In der Rechtssache C-413/99
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Immigration Appeal Tribunal (Vereinigtes Königreich)
in den bei diesem anhängigen Rechtsstreitigkeiten
Baumbast und R
gegen
Secretary of State for the Home Department
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 18 EG und Artikel 12 der
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer
innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2)
erlässt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, des Kammerpräsidenten P. Jann, der
Kammerpräsidentinnen F. Macken (Berichterstatterin) und N. Colneric, des Kammerpräsidenten S. von Bahr
sowie der Richter C. Gulmann, D. A. O. Edward, A. La Pergola, J.-P. Puissochet, M. Wathelet, V. Skouris, J. N.
Cunha Rodrigues und C. W. A. Timmermans,
Generalanwalt: L. A. Geelhoed
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- von Wolfgang Baumbast, Maria Belen Baumbast, Maria Fernanda Sarmiento und Idanella Baumbast,
vertreten durch N. Blake und L. Fransman, QC, beauftragt durch M. Davidson, Solicitor, und von R, vertreten
durch N. Blake und S. Harrison, Barrister, beauftragt durch B. Andonian, Solicitor,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. E. Collins als Bevollmächtigten im Beistand
von P. Saini, Barrister,
- der deutschen Regierung, vertreten durch W.-D. Plessing und B. Muttelsee-Schön als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch N. Yerrell und C. O'Reilly als
Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Wolfgang Baumbast, Maria Belen Baumbast, Maria
Fernanda Sarmiento, Idanella Baumbast, R, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission
in der Sitzung vom 6. März 2001,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Juli 2001,
folgendes
Urteil
1.
Das Immigration Appeal Tribunal hat mit Beschluss vom 28. Mai 1999, beim Gerichtshof
eingegangen am 28. Oktober 1999, gemäß Artikel 234 EG vier Fragen nach der Auslegung von Artikel
18 EG und Artikel 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) zur Vorabentscheidung
vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in Rechtsstreitigkeiten, in denen zum einen Wolfgang Baumbast, Maria
Belen Baumbast, Maria Fernanda Sarmiento und Idanella Baumbast (im Folgenden: Familie Baumbast)
und zum anderen R gegen den Secretary of State for the Home Department (im Folgenden: Secretary
of State) wegen dessen Ablehnung von Aufenthaltserlaubnissen für das Vereinigte Königreich geklagt
haben.
Rechtlicher Rahmen
3.
Artikel 17 EG lautet:
„(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit
eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale Staatsbürgerschaft, ersetzt
sie aber nicht.
(2) Die Unionsbürger haben die in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten.“
4.
Gemäß Artikel 18 Absatz 1 EG hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im EG-Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen
Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
5.
Die Artikel 10 bis 12 der Verordnung Nr. 1612/68 lauten:
„
(1) Bei dem Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im
Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, dürfen folgende Personen ungeachtet
ihrer Staatsangehörigkeit Wohnung nehmen:
a) sein Ehegatte sowie die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt sind
oder denen Unterhalt gewährt wird;
b) seine Verwandten und die Verwandten seines Ehegatten in aufsteigender Linie, denen er
Unterhalt gewährt.
(2) Die Mitgliedstaaten begünstigen den Zugang aller nicht in Absatz 1 genannten
Familienangehörigen, denen der betreffende Arbeitnehmer Unterhalt gewährt oder mit denen er im
Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft lebt.
(3) Voraussetzung für die Anwendung der Absätze 1 und 2 ist, dass der Arbeitnehmer für seine
Familie über eine Wohnung verfügt, die in dem Gebiet, in dem er beschäftigt ist, den für die
inländischen Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen entspricht; diese Bestimmung darf
nicht zu Diskriminierungen zwischen den inländischen Arbeitnehmern und den Arbeitnehmern aus
anderen Mitgliedstaaten führen.
Der Ehegatte eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis oder eine selbständige Tätigkeit ausübt,
sowie die Kinder dieses Staatsangehörigen, die noch nicht 21 Jahre alt sind oder denen er Unterhalt
gewährt, haben, selbst wenn sie nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, das
Recht, im gesamten Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats irgendeine Tätigkeit im Lohn- oder
Gehaltsverhältnis auszuüben.
Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen
Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses
Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses
Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen.
Die Mitgliedstaaten fördern die Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter
den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen.“
6.
Nach Artikel 1 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über
das Aufenthaltsrecht (ABl. L 180, S. 26) gewähren die Mitgliedstaaten „den Angehörigen der
Mitgliedstaaten, denen das Aufenthaltsrecht nicht aufgrund anderer Bestimmungen des
Gemeinschaftsrechts zuerkannt ist, sowie deren Familienangehörigen nach der Definition von Absatz 2
dieses Artikels unter der Bedingung das Aufenthaltsrecht, dass sie für sich und ihre
Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken
abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie
während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen
müssen“.
7.
Gemäß Artikel 1 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie 90/364 gelten die Existenzmittel nach
Unterabsatz 1 dieser Bestimmung als ausreichend, wenn sie den Betrag übersteigen, unterhalb
dessen der Aufnahmemitgliedstaat seinen Staatsangehörigen aufgrund der persönlichen Situation
des Antragstellers und gegebenenfalls der Situation der nach Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie
aufgenommenen Personen Sozialhilfe gewähren kann.
8.
Ist dieser Unterabsatz 2 nicht anwendbar, so gelten nach Unterabsatz 3 der Bestimmung die
Existenzmittel des Antragstellers als ausreichend, wenn sie die Mindestrente der Sozialversicherung
des Aufnahmemitgliedstaats übersteigen.
9.
Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 90/364 bestimmt:
„Bei dem Aufenthaltsberechtigten dürfen folgende Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit in
einem anderen Mitgliedstaat Wohnung nehmen:
a) sein Ehegatte sowie die Verwandten in absteigender Linie, denen Unterhalt gewährt wird;
b) seine Verwandten und die Verwandten seines Ehegatten in aufsteigender Linie, denen er
Unterhalt gewährt.“
10.
Gemäß Artikel 3 der Richtlinie 90/364 besteht das Aufenthaltsrecht, solange die Berechtigten die
Bedingungen des Artikels 1 der Richtlinie erfüllen.
11.
Section 7 (1) des Immigration Act 1988 (Zuwanderungsgesetz von 1988) sieht vor:
„Die Bestimmungen des Immigration Act 1971 über die Erlaubnis zur Einreise in das Vereinigte
Königreich oder zum Aufenthalt dort gelten nicht für Personen, die aus gemeinschaftsrechtlichen
Bestimmungen, auf die sie sich unmittelbar berufen können, oder aus nach Section 2 (2) des
European Communities Act 1972 [Gesetz über die Europäischen Gemeinschaften von 1972]
erlassenen Bestimmungen einen Anspruch auf Einreise und Verbleib im Vereinigten Königreich
haben.“
12.
Artikel 3 der Immigration (European Economic Area) Order 1994 (Verordnung von 1994 über die
Einreise aus dem europäischen Wirtschaftsraum, SI 1994, 1895, im Folgenden: EEA Order) legt fest,
dass Staatsangehörigen einer Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen
Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen) und ihren
Familienangehörigen auf einfache Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses die
Einreise in das Vereinigte Königreich zu gestatten ist.
13.
Nach Artikel 4 (1) der EEA Order darf sich ein „Berechtigter“ („qualified person“) im Vereinigten
Königreich so lange aufhalten, wie er zum Kreis der Berechtigten gehört. Nach Artikel 4 (2) der EEA
Order haben seine Familienangehörigen einschließlich des Ehegatten das gleiche Recht.
14.
Nach Artikel 6 der EEA Order gehören zu diesen „Berechtigten“ u. a. die Staatsangehörigen einer
Vertragspartei des EWR-Abkommens, die im Vereinigten Königreich als Arbeitnehmer tätig sind.
15.
Paragraph 255 der United Kingdom Immigration Rules (House of Commons Paper 395) (Vorschriften
über die Zuwanderung, die 1994 vom Parlament des Vereinigten Königreichs gebilligt wurden; im
Folgenden: Immigration Rules) bestimmt:
„EWR-Bürger (außer Studenten) und ihre Familienangehörigen, können, wenn sie im Besitz einer
Aufenthaltserlaubnis oder einer [sonstigen] Aufenthaltsbescheinigung mit einer Gültigkeit von fünf
Jahren sind und gemäß den Bestimmungen der EEA Order 1994 mindestens vier Jahre im Vereinigten
Königreich verblieben sind, auf Antrag ihre Aufenthaltserlaubnis oder (gegebenenfalls) eine [sonstige]
Aufenthaltsbescheinigung mit einem Vermerk versehen lassen, wonach sie unbefristet im Vereinigten
Königreich verbleiben dürfen.“
Ausgangsrechtsstreitigkeiten
16.
Maria Belen Baumbast, eine kolumbianische Staatsangehörige, ging im Mai 1990 mit dem
deutschen Staatsangehörigen Wolfgang Baumbast die Ehe ein. Zu ihrer Familie gehören zwei Töchter;
die ältere, Maria Fernanda Sarmiento, ist ein nichteheliches Kind von Frau Baumbast kolumbianischer
Staatsangehörigkeit, die jüngere, Idanella Baumbast, besitzt die deutsche und die kolumbianische
Staatsangehörigkeit.
17.
Wie dem Vorlagebeschluss zu entnehmen ist, sind die Parteien des Ausgangsverfahrens im Hinblick
auf das Vorabentscheidungsersuchen übereingekommen, dass in gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht
auch Maria Fernanda Sarmiento als Familienangehörige von Herrn Baumbast gelten solle; deshalb
wird sie im Vorlagebeschluss als eines der beiden Kinder der Familie Baumbast bezeichnet.
18.
Im Juni 1990 wurde den Mitgliedern der Familie Baumbast eine Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre
erteilt. Von 1990 bis 1993 war Herr Baumbast im Vereinigten Königreich zunächst als Arbeitnehmer
und dann als Unternehmer erwerbstätig. Nachdem sein eigenes Unternehmen in Konkurs gefallen war
und er im Vereinigten Königreich keine hinreichend gut dotierte Arbeitsstelle finden konnte, arbeitete
er seit 1993 für deutsche Unternehmen in China und Lesotho. Obgleich Herr Baumbast seither immer
wieder Arbeit im Vereinigten Königreich suchte, hat sich seine berufliche Situation bis zum Erlass des
Vorlagebeschlusses nicht verändert.
19.
Im fraglichen Zeitraum besaßen Herr und Frau Baumbast im Vereinigten Königreich ein Haus; ihre
Töchter besuchten dort die Schule. Sie nahmen keine Sozialleistungen in Anspruch und begaben sich
zur ärztlichen Betreuung erforderlichenfalls nach Deutschland, da sie dort in vollem Umfang
krankenversichert waren.
20.
Im Mai 1995 beantragte Frau Baumbast im Vereinigten Königreich für sich und ihre
Familienangehörigen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis („indefinite leave to remain“). Im Januar
1996 lehnte der Secretary of State eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis für Herrn und Frau
Baumbast und ihre Kinder ab.
21.
Am 12. Januar 1998 wurde gegen diesen Bescheid Klage zum Immigration Adjudicator erhoben.
Dieser stellte fest, dass Herr Baumbast weder Arbeitnehmer sei noch eine allgemeine
Aufenthaltsberechtigung nach der Richtlinie 90/364 habe. Hinsichtlich der Kinder entschied er, dass
sie ein eigenes Aufenthaltsrecht aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 besäßen. Solange seine
Kinder die Rechte aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 in Anspruch nehmen könnten, habe
allerdings auch Herr Baumbast ein Aufenthaltsrecht. Das Aufenthaltsrecht von Frau Baumbast ergebe
sich aus der Pflicht der Mitgliedstaaten aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68, dafür zu sorgen,
dass Kinder im Aufnahmemitgliedstaat unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilnehmen
könnten.
22.
Gegen diese Entscheidung des Immigration Adjudicator legten Herr Baumbast in seinem eigenen
Fall und der Secretary of State in den Fällen von Frau Baumbast und den beiden Kindern Berufung zum
vorlegenden Gericht ein.
23.
R, Staatsangehörige der Vereinigten Staaten von Amerika, hat aus ihrer ersten Ehe mit einem
französischen Staatsangehörigen zwei Kinder mit französischer und amerikanischer
Staatsangehörigkeit. Als Ehefrau eines Gemeinschaftsangehörigen, dem die Rechte aus dem EG-
Vertrag zustanden und der eine bis Oktober 1995 befristete Aufenthaltserlaubnis im Vereinigten
Königreich besaß, siedelte sie 1990 in das Vereinigte Königreich über.
24.
Im September 1992 wurden R und ihr erster Ehemann geschieden. Der Secretary of State
unternahm seinerzeit nichts hinsichtlich ihrer ausländerrechtlichen Stellung, und sie wohnte weiterhin
im Vereinigten Königreich. Nach der Scheidungsvereinbarung sollten die Kinder für mindestens fünf
Jahre ab der Scheidung oder einen anderen von den Parteien einvernehmlich festzulegenden
Zeitraum bei ihrer Mutter in England oder Wales bleiben. Nach der Scheidung hatten die Kinder
weiterhin regelmäßig Umgang mit ihrem Vater, der weiterhin im Vereinigten Königreich wohnt und
arbeitet und sich sowohl in persönlicher als auch in finanzieller Hinsicht mit der Mutter die
Verantwortung für ihre Erziehung teilt.
25.
Den Akten des Ausgangsverfahrens ist weiter zu entnehmen, dass R während ihres Aufenthalts im
Vereinigten Königreich dort ein Haus erwarb und ein Büro für Innenarchitektur gründete, in das sie
erhebliche Beträge investierte. 1997 ging sie eine Ehe mit einem britischen Staatsangehörigen ein.
26.
Im Oktober 1995 beantragte R für sich und ihre beiden Töchter nach nationalem Recht eine
unbefristete Aufenthaltserlaubnis im Vereinigten Königreich. Am 3. Dezember 1996 wurde diese den
Kindern als Familienangehörigen eines Wanderarbeitnehmers gewährt, während der Antrag von R
abgelehnt wurde, weil der Secretary of State nicht davon überzeugt war, dass die Lage der Familie so
außergewöhnlich sei, dass er von seinem Ermessen in diesem Sinne Gebrauch zu machen hätte. Nach
seiner Auffassung waren die Kinder noch so jung, dass sie sich an das Leben in den Vereinigten
Staaten von Amerika gewöhnen könnten, falls sie ihrer Mutter dorthin nachzufolgen hätten.
27.
Im Rahmen der Klage zum Immigration Adjudicator gegen den Bescheid des Secretary of State, R
entgegen ihrem Antrag keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wurde u. a. die Frage
erörtert, ob dieser Bescheid einen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch der Kinder, im Vereinigten
Königreich erzogen zu werden und sich dort aufzuhalten, oder das Recht auf Familienleben verletze.
Der Immigration Adjudicator wies die Klage jedoch ab, wogegen R beim Immigration Appeal Tribunal
Berufung einlegte.
Vorlagefragen
28.
Nach Auffassung des Immigration Appeal Tribunal erfordern die bei ihm anhängigen
Rechtsstreitigkeiten eine Auslegung des Artikels 18 EG und der Verordnung Nr. 1612/68. Es hat das
Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof die nachstehenden Fragen zur Vorabentscheidung
vorgelegt.
Folgende Fragen des vorlegenden Gerichts beziehen sich auf beide Ausgangsverfahren:
1. a) Sind Kinder eines Bürgers der Europäischen Union, die selbst Bürger der Europäischen Union
sind und eingeschult wurden, während ihr Vater (oder ihre Mutter) sein (ihr) Aufenthaltsrecht als
Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er (sie)
besitzt, ausübte, nach Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates berechtigt, sich im
Aufnahmestaat aufzuhalten, um dort am allgemeinen Schulunterricht teilzunehmen?
b) Welche Kriterien müssen die nationalen Behörden anwenden, falls die Antwort auf die
vorstehende Frage in Fällen, in denen
i) die Eltern geschieden sind;
ii) nur ein Elternteil Bürger der Europäischen Union und nicht mehr Arbeitnehmer im
Aufnahmestaat ist;
iii) die Kinder selbst nicht Bürger der Europäischen Union sind,
unterschiedlich ausfallen kann?
2. Ist, sofern die Kinder nach Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates berechtigt sind, sich
im Aufnahmestaat aufzuhalten, um am allgemeinen Schulunterricht teilzunehmen, die Pflicht dieses
Staates, „die Bemühungen [zu fördern], durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den
besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen“, so zu verstehen, dass der
Personensorgeberechtigte - sei er Bürger der Europäischen Union oder nicht - berechtigt ist, sich mit
den Kindern im Aufnahmestaat aufzuhalten, um die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, auch wenn
i) die Eltern geschieden sind oder
ii) der Vater, der Bürger der Europäischen Union ist, nicht mehr Arbeitnehmer im Aufnahmestaat
ist?
Folgende Vorlagefragen beziehen sich nur auf die Sache Baumbast:
3. a) Genießt Herr Baumbast, so wie sein Fall liegt, nach Artikel 18 EG (früher Artikel 8a EG-
Vertrag) als Bürger der Europäischen Union ein unmittelbar wirksames Recht auf Aufenthalt in einem
anderen Mitgliedstaat, wenn er keine Aufenthaltsrechte als Arbeitnehmer nach Artikel 39 EG (früher
Artikel 48 EG-Vertrag) mehr besitzt und auch nach keiner anderen Bestimmung des
Gemeinschaftsrechts zum Aufenthalt im Aufnahmestaat berechtigt ist?
b) Falls ja, folgt daraus, dass seine Frau und die Kinder abgeleitete Rechte auf Aufenthalt,
Arbeitsaufnahme u. a. geltend machen können?
c) Falls ja, lässt sich dies auf die Artikel 11 und 12 der Verordnung Nr. 1612/68 oder eine andere
(gegebenenfalls welche) Bestimmung des Gemeinschaftsrechts stützen?
4. a) Behalten die Familienangehörigen eines Bürgers der Europäischen Union, wenn die
vorstehende Frage zu seinen Ungunsten beantwortet wird, die abgeleiteten Rechte, die sie in ihrer
Eigenschaft als Angehörige ursprünglich erworben hatten, als sie mit einem Arbeitnehmer im
Vereinigten Königreich Aufenthalt nahmen?
b) Falls ja, welche Voraussetzungen sind dann maßgebend?
Zur Zulässigkeit der ersten beiden Vorlagefragen
29.
Wie aus den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen hervorgeht, wurde in der Zeit zwischen
dem Beginn des Ausgangsverfahrens und dem Vorabentscheidungsersuchen sowohl Frau Baumbast
und ihren beiden Kindern als auch R eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis im Vereinigten Königreich
erteilt. Im Fall von R geschah dies, auch wenn das vorlegende Gericht dazu nichts ausgeführt hat,
vermutlich wegen ihrer Eheschließung mit einem britischen Staatsangehörigen. Nur Herr Baumbast
hat somit noch keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten.
30.
Daher ist zu prüfen, ob die ersten beiden Vorlagefragen des nationalen Gerichts zulässig sind.
31.
Das in Artikel 234 EG vorgesehene Verfahren ist ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem
Gerichtshof und den nationalen Gerichten, in dem der Gerichtshof diejenigen Bestimmungen des
Gemeinschaftsrechts auslegt, die die Gerichte zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen
Rechtsstreitigkeiten benötigen (Urteil vom 8. November 1990 in der Rechtssache C-231/89,
Gmurzynska-Bscher, Slg. 1990, I-4003, Randnr. 18).
32.
Folglich ist es allein Sache der nationalen Gerichte, die mit dem Rechtsstreit befasst sind und ihn zu
entscheiden haben, im Einzelfall sowohl die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass
ihres Urteils als auch die Rechtserheblichkeit der Fragen, die sie dem Gerichtshof stellen, zu
beurteilen. Wenn die von den nationalen Gerichten gestellten Fragen die Auslegung einer
Bestimmung des Gemeinschaftsrechts betreffen, ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten,
darüber zu befinden (u. a. Urteil Gmurzynska-Bscher, Randnrn. 19 und 20).
33.
Im Rahmen der in Artikel 234 EG vorgesehenen Verteilung der richterlichen Aufgaben zwischen den
nationalen Gerichten und dem Gerichtshof entscheidet dieser daher im Wege der Vorabentscheidung,
ohne dass er grundsätzlich nach den Umständen fragen müsste, die die nationalen Gerichte zu ihren
Vorlagefragen veranlassen und unter denen sie die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift, um deren
Auslegung sie den Gerichtshof ersuchen, anwenden wollen (Urteil Gmurzynska-Bscher, Randnr. 22).
34.
Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn feststünde, dass das Verfahren des Artikels 234 EG
zweckwidrig angewendet wurde und der Gerichtshof in Wirklichkeit ohne Vorliegen eines echten
Rechtsstreits zu einer Entscheidung veranlasst werden soll, oder wenn offensichtlich wäre, dass die
Bestimmung des Gemeinschaftsrechts, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt worden ist, im
Ausgangsverfahren weder unmittelbar noch mittelbar anwendbar ist (in diesem Sinne Urteile
Gmurzynska-Bscher, Randnr. 23, und vom 17. Juli 1997 in der Rechtssache C-130/95, Giloy, Slg. 1997, I-
4291, Randnr. 22).
35.
Zwar wurden Frau Baumbast und ihren Kindern am 23. Juni 1998, also noch vor Erlass der
Entscheidung des vorlegenden Gerichts vom 28. Mai 1999, und zu einem späteren, nicht bekannten
Zeitpunkt auch R für das Vereinigte Königreich unbefristete Aufenthaltserlaubnisse erteilt.
36.
Nach den Darlegungen in der mündlichen Verhandlung wurden diese Erlaubnisse aber nach
britischem Recht erteilt, ohne dass über die etwaigen gemeinschaftsrechtlichen Ansprüche der
Beteiligten entschieden worden wäre.
37.
Weiterhin stellen sich die Vorlagefragen in einem echten Rechtsstreit; das vorlegende Gericht hat
dem Gerichtshof auch den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen sowie die Gründe erläutert, aus
denen ihm die Beantwortung dieser Fragen für den Erlass seiner eigenen Entscheidung notwendig
erscheint.
38.
Die ersten beiden Fragen des vorlegenden Gerichts sind demnach zulässig.
Zur ersten Frage
39.
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Kinder eines Bürgers der
Europäischen Union, die in einem Mitgliedstaat seit einem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser Bürger
dort als Wanderarbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht hatte, zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat
berechtigt sind, um dort gemäß Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 weiterhin am allgemeinen
Unterricht teilzunehmen, und zwar auch dann, wenn die Eltern inzwischen geschieden sind, wenn nur
einer der Eltern Unionsbürger und nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
wenn die Kinder selbst nicht Unionsbürger sind.
40.
R und die Familie Baumbast tragen vor, dass in den Ausgangsfällen, auch wenn die in den Artikeln
10 und 12 der Verordnung Nr. 1612/68 niedergelegten Rechte auf Aufenthalt und Schulbesuch im
Aufnahmemitgliedstaat nicht schrankenlos gälten, die Voraussetzungen für die Ausübung der Rechte
aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 erfüllt seien. So spreche im Fall von R nichts dafür, dass
die Kinder nicht weiterhin zur Familie ihres Vaters gehörten, der nach wie vor im
Aufnahmemitgliedstaat arbeite. In der Sache Baumbast ließe sich die Auffassung, dass die Kinder die
Voraussetzungen des Artikels 12 der Verordnung Nr. 1612/68 nicht länger erfüllten, allenfalls darauf
stützen, dass ihr Vater nicht mehr in dem Aufnahmemitgliedstaat erwerbstätig sei. Nach dem Urteil
vom 15. März 1989 in den verbundenen Rechtssachen 389/87 und 390/87 (Echternach und Moritz, Slg.
1989, 723) sei dies aber für den Fortbestand ihrer Rechte unerheblich.
41.
Auch die Regierung des Vereinigten Königreichs und die deutsche Regierung sind der Ansicht, dass
die Rechte des Kindes eines Wanderarbeitnehmers aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68
grundsätzlich fortbestünden, selbst wenn die Eltern den Aufnahmemitgliedstaat verließen.
42.
Die deutsche Regierung meint indessen, dass Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 nach dem
Urteil Echternach und Moritz dem Kind ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nur dann gewähre, wenn
es seine Ausbildung nicht im Herkunftsmitgliedstaat fortsetzen könnte.
43.
Die Regierung des Vereinigten Königreichs trägt speziell zum Fall von R vor, dass deren Kinder,
obgleich ihr Vater und R inzwischen geschieden seien, nach Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68
deshalb zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich berechtigt seien, weil ihr Vater weiterhin seine
Rechte als Wanderarbeitnehmer im Vereinigten Königreich wahrnehme.
44.
Die Kommission führt zur Sache R aus, dass die Kinder trotz der Scheidung ihrer Eltern weiterhin ein
Aufenthaltsrecht aus Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 und einen Anspruch auf Schulbesuch aus
Artikel 12 der Verordnung hätten, solange nur einer der Eltern im Aufnahmemitgliedstaat weiterhin
Wanderarbeitnehmer sei.
45.
Was den Fall der Familie Baumbast angehe, so gelte nach dem Urteil Echternach und Moritz das
Kind eines Wanderarbeitnehmers auch dann weiterhin als dessen Familienangehöriger im Sinne der
Verordnung Nr. 1612/68, wenn seine Familie in den Herkunftsmitgliedstaat zurückkehre, während es
selbst im Aufnahmemitgliedstaat verbleibe, um dort eine Ausbildung fortzusetzen, die es im
Herkunftsmitgliedstaat nicht fortführen könnte.
46.
Auch wenn den Ausgangssachverhalt des Urteils Echternach und Moritz die Besonderheit
gekennzeichnet habe, dass das Kind sein Studium im Herkunftsmitgliedstaat nicht hätte fortsetzen
können, habe der Gerichtshof darin indessen eine weite Auslegung von Artikel 12 der Verordnung Nr.
1612/68 gewählt. Von jenem Ausgangssachverhalt unterscheide sich die Lage der Kinder der Familie
Baumbast nur unwesentlich, so dass auf den ersten Blick nichts für ein anderes Ergebnis spreche.
Wenn der Gerichtshof an der in jenem Urteil gewählten Auslegung festhalte, dürften sich somit die
Kinder der Familie Baumbast weiterhin im Vereinigten Königreich aufhalten, um dort ihre Rechte aus
Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 auszuüben.
47.
Um die erste Frage des vorlegenden Gerichts sachgerecht beantworten zu können, ist zwischen
den beiden Fallgestaltungen, auf deren Grundlage es sie stellt, zu unterscheiden.
48.
Nach Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68, der den Begriff des Wanderarbeitnehmers
umschreibt, ist jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats ungeachtet seines Wohnorts berechtigt,
eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats
aufzunehmen und auszuüben.
49.
Was zunächst die Sache Baumbast anbelangt, so unterscheidet sie sich, wie aus den Akten
hervorgeht, von der Sache R darin, dass Herr Baumbast, der die deutsche Staatsangehörigkeit
besitzt, zwar mehrere Jahre im Vereinigten Königreich unselbständig und selbständig berufstätig war
und dort weiterhin wohnt, aber nicht mehr dort arbeitet. Vor diesem Hintergrund fragt das vorlegende
Gericht, ob seine Kinder auf der Grundlage von Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 auch weiterhin
im Vereinigten Königreich die Schule besuchen dürfen.
50.
Hierfür ist von Belang, dass die Verwirklichung der von der Verordnung Nr. 1612/68 bezweckten
Freizügigkeit der Arbeitnehmer unter Wahrung der Freiheit und Menschenwürde es erforderlich macht,
die bestmöglichen Bedingungen für die Integration der Familie des EG-Arbeitnehmers im
Aufnahmeland zu schaffen (Urteil vom 13. November 1990 in der Rechtssache C-308/89, di Leo, Slg.
1990, I-4185, Randnr. 13).
51.
Wie der Gerichtshof in Randnummer 21 des Urteils Echternach und Moritz ausgeführt hat, kann
diese Integration nur gelingen, wenn das Kind eines EG-Arbeitnehmers die Möglichkeit hat, im
Aufnahmeland die Schule zu besuchen und ein Studium zu absolvieren, wie dies in Artikel 12 der
Verordnung Nr. 1612/68 ausdrücklich vorgesehen ist, um seine Ausbildung erfolgreich abschließen zu
können.
52.
Würde das Kind eines Unionsbürgers in einem Fall, wie er in der Sache Baumbast vorliegt, durch
Versagung einer Aufenthaltserlaubnis am weiteren Schulbesuch im Aufnahmemitgliedstaat gehindert,
so könnte dies den Unionsbürger von der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit gemäß Artikel 39
EG abhalten und bildete damit ein Hemmnis für die tatsächliche Wahrnehmung dieser vom EG-Vertrag
gewährleisteten Freiheit.
53.
Auch wenn der Gerichtshof im Urteil Echternach und Moritz festgehalten hat, dass das betroffene
Kind nach der Rückkehr seines Vaters in den Herkunftsmitgliedstaat dort mangels einer Koordinierung
der Schulabschlusszeugnisse sein Studium nicht fortsetzen könnte, wollte er doch gemäß dem mit der
Verordnung Nr. 1612/68 verfolgten Ziel einer Integration der Familienangehörigen der
Wanderarbeitnehmer vor allem gewährleisten, dass deren Kindern im Aufnahmemitgliedstaat unter
Voraussetzungen, die nicht diskriminierend sind, die Schule besuchen und studieren können, um ihre
Ausbildung erfolgreich abschließen zu können (siehe auch Urteil vom 27. September 1988 in der
Rechtssache 42/87, Kommission/Belgien, 1988, 5445, Randnr. 10).
54.
Würde den Kindern eines Unionsbürgers, die sich in einer Situation wie die Kinder von Herrn
Baumbast befinden, der weitere Schulbesuch im Aufnahmemitgliedstaat nur dann gestattet, wenn sie
ihn im Mitgliedstaat ihrer Herkunft nicht fortführen könnten, so widerspräche dies nämlich nicht nur
dem Wortlaut, sondern auch dem Geist von Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68, der das Recht auf
Teilnahme am allgemeinen Unterricht den Kindern des Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats
gewährt, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats „beschäftigt ist oder beschäftigt
gewesen ist“.
55.
Die restriktive Auslegung dieser Vorschrift, die die deutsche Regierung vorschlägt, ist deshalb
abzulehnen.
56.
Für die Antwort auf die erste Frage spielt es keine Rolle, dass die Kinder selbst nicht Unionsbürger
sind. Nach Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 gelten nämlich die Verwandten eines EG-
Arbeitnehmers in absteigender Linie, die noch nicht einundzwanzig Jahre alt sind oder denen Unterhalt
gewährt wird, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit als seine Familienangehörige; ihnen ist deshalb
nach Artikel 12 der Verordnung Zugang zum allgemeinen Unterricht zu gewähren.
57.
Das Recht des „Ehegatte[n] sowie [der] Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht
einundzwanzig Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird“, auf Wohnungnahme bei dem
Wanderarbeitnehmer ist weiter dahin auszulegen, dass es sowohl den Abkömmlingen des
Arbeitnehmers als auch denen seines Ehegatten zusteht. Eine enge Auslegung dieser Bestimmung,
wonach nur die gemeinsamen Kinder des Wanderarbeitnehmers und seines Ehegatten zum Aufenthalt
bei ihnen berechtigt wären, liefe nämlich dem oben genannten Zweck der Verordnung Nr. 1612/68
zuwider.
58.
Was sodann die Sache R angeht, so genießen deren Kinder als Familienangehörige eines
Arbeitnehmers, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines
anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, ein Aufenthaltsrecht und ein Recht auf Fortsetzung ihres
Schulbesuchs aus den Artikeln 10 und 12 der Verordnung Nr. 1612/68.
59.
Wie oben in Randnummer 50 ausgeführt, sollen diese Bestimmungen nämlich die Integration des
Wanderarbeitnehmers und seiner Familie im Aufnahmemitgliedstaat erleichtern, um das mit der
Verordnung Nr. 1612/68 verfolgte Ziel der Freizügigkeit der Arbeitnehmer unter Wahrung der Freiheit
und der Menschenwürde zu verwirklichen.
60.
Auch wenn R und ihr erster Ehemann inzwischen geschieden sind, ist dieser doch, wie sich aus den
Akten ergibt, weiterhin im Vereinigten Königreich unselbständig beschäftigt und damit im Sinne der
Artikel 1 und 10 der Verordnung Nr. 1612/68 ein Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines
Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist.
61.
Somit folgt aus der Verordnung Nr. 1612/68, insbesondere ihren Artikeln 10 und 12,
unmissverständlich, dass die Kinder des ersten Ehemanns von R weiterhin dazu berechtigt sind, im
Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen und dort unter den gleichen Bedingungen wie die
Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats ihren Schulbesuch fortzusetzen.
62.
Dass die Kinder des ersten Ehemanns von R nicht ständig bei ihm wohnen, berührt ihre Rechte aus
den Artikeln 10 und 12 der Verordnung Nr. 1612/68 nicht. Wenn Artikel 10 der Verordnung bestimmt,
dass der Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers bei diesem Wohnung nehmen darf, bedeutet
dies nicht, dass der Angehörige dort ständig wohnen muss, sondern - wie sich aus Artikel 10 Absatz 3
ergibt - lediglich, dass die Wohnung, über die der Arbeitnehmer verfügt, normalen Anforderungen an
die Aufnahme seiner Familie entsprechen muss (Urteil vom 13. Februar 1985 in der Rechtssache
267/83, Diatta, Slg. 1985, 567, Randnr. 18).
63.
Auf die erste Frage ist deshalb zu antworten, dass die Kinder eines Bürgers der Europäischen
Union, die in einem Mitgliedstaat seit einem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser Bürger dort als
Wanderarbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht hatte, zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat berechtigt
sind, um dort gemäß Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 weiterhin am allgemeinen Unterricht
teilzunehmen. Dass die Eltern dieser Kinder inzwischen geschieden sind, dass nur einer von ihnen
Bürger der Europäischen Union und nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist
und dass die Kinder selbst nicht Bürger der Europäischen Union sind, ist dabei ohne Belang.
Zur zweiten Frage
64.
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 12 der Verordnung Nr.
1612/68 in einem Fall, in dem Kinder ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben, um dort,
wie in diesem Artikel vorgesehen, am allgemeinen Unterricht teilzunehmen, dahin auszulegen ist, dass
er dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet seiner
Staatsangehörigkeit den Aufenthalt bei den Kindern erlaubt, um ihnen die Wahrnehmung ihres
genannten Rechts zu erleichtern, selbst wenn die Eltern inzwischen geschieden sind oder der
Elternteil, der Bürger der Europäischen Union ist, nicht mehr Wanderarbeitnehmer im
Aufnahmemitgliedstaat ist.
65.
Nach Auffassung von R und der Familie Baumbast sind die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen
weit auszulegen, um eine effektive Wahrnehmung der durch sie gewährten Rechte zu ermöglichen;
das gelte besonders dann, wenn ein so grundlegendes Recht wie das auf Familienleben in Frage
stehe. Wenn minderjährige Kinder ihr ganzes Leben bei ihrer Mutter verbracht hätten und weiterhin
bei ihr lebten, so werde damit, dass während ihrer Schulausbildung der Mutter ein Aufenthaltsrecht
verweigert werde, in einer Weise in die Rechte der Kinder eingegriffen, die deren Ausübung sinnlos
mache. Dies sei zugleich ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Familienleben, der gegen Artikel 8 der
europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verstoße.
66.
Die Regierung des Vereinigten Königreichs, die deutsche Regierung und die Kommission schlagen
vor, die zweite Frage zu verneinen. Aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 lasse sich kein
Aufenthaltsrecht für Eltern mit der Staatsangehörigkeit eines Drittlands ableiten. Deren Rechte
unterlägen den Bedingungen, die für die Wahrnehmung der Freizügigkeit unmittelbar Geltung hätten.
Nach einer Scheidung oder dem Ende der Betätigung des die Unionsbürgerschaft besitzenden
Ehegatten als Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat gewähre das Gemeinschaftsrecht dem
einem Drittland angehörenden Ehepartner kein Aufenthaltsrecht, das sich aus dem Recht zur
Erziehung der Kinder ergäbe.
67.
Die Regierung des Vereinigten Königreichs meint, wenn der Aufnahmemitgliedstaat Kindern den
Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu gestatten habe, damit sie dort nach Artikel 12 der Verordnung
Nr. 1612/68 am allgemeinen Unterricht teilnehmen könnten, so sei seine Verpflichtung zur Förderung
der Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden solle, unter den besten
Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen, nicht dahin auszulegen, dass er dem
Erziehungsberechtigten den Aufenthalt bei ihnen erlauben müsse. Wenn und soweit nachgewiesen
werde, dass mit der Versagung eines solchen Aufenthaltsrechts ungerechtfertigt in das durch Artikel
8 EMRK geschützte Familienleben eingegriffen würde, könne das Home Office (Innenministerium) dem
die Personensorge wahrnehmenden Elternteil unter Abweichung von den Immigration Rules
ausnahmsweise eine Aufenthaltserlaubnis erteilen.
68.
Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 und die sich daraus ergebenden Rechte sind nach Maßgabe
des Aufbaus und des Zwecks dieser Verordnung auszulegen. Aus deren Gesamtzusammenhang folgt,
dass der Rat für die erleichterte Freizügigkeit der Familienangehörigen der Arbeitnehmer zum einen
berücksichtigt hat, welche Bedeutung das Zusammenleben mit seiner Familie für den Arbeitnehmer
aus menschlicher Sicht hat, und zum anderen die in jeder Hinsicht bestehende Bedeutung einer
Integration des Arbeitnehmers und seiner Familie im Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage der
Gleichbehandlung mit dessen Staatsangehörigen (in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 1989 in der
Rechtssache 249/86, Kommission/Deutschland, Slg. 1989, 1263, Randnr. 11).
69.
Wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, soll Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68
insbesondere sicherstellen, dass die Kinder eines Wanderarbeitnehmers auch dann, wenn dieser
nicht mehr im Aufnahmemitgliedstaat als Arbeitnehmer beschäftigt ist, ihre schulische Ausbildung in
diesem Mitgliedstaat absolvieren und gegebenenfalls auch abschließen können.
70.
Zudem können nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die Rechte der Familienangehörigen
eines EG-Arbeitnehmers aus der Verordnung Nr. 1612/68 ebenso wie der Status als
Wanderarbeitnehmer selbst unter bestimmten Umständen auch nach Beendigung des
Arbeitsverhältnisses fortgelten (in diesem Sinne Urteile Echternach und Moritz, Randnr. 21, und vom
12. Mai 1998 in der Rechtssache C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691, Randnr. 32).
71.
In Fällen wie denen der Ausgangsverfahren, in denen die Kinder nach Artikel 12 der Verordnung Nr.
1612/68 zur Fortsetzung ihrer Schulausbildung im Aufnahmemitgliedstaat berechtigt sind, während die
Eltern, die die Personensorge für sie wahrnehmen, ihre Aufenthaltsrechte - im einen Fall wegen
Scheidung vom Wanderarbeitnehmer und im anderen Fall, weil der ehemals im Aufnahmemitgliedstaat
als Wanderarbeitnehmer beschäftigte Elternteil dort nicht mehr arbeitet - zu verlieren drohen,
könnten die Kinder offensichtlich das Recht, das ihnen der Gemeinschaftsgesetzgeber zuerkannt hat,
ebenfalls verlieren, wenn den Eltern die Möglichkeit versagt würde, während der Schulausbildung ihrer
Kinder im Aufnahmemitgliedstaat zu bleiben.
72.
Im Übrigen ist die Verordnung Nr. 1612/68 nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes im Licht des
Rechts auf Achtung des Familienlebens in Artikel 8 EMRK auszulegen. Dieses Recht gehört zu den
Grundrechten, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes vom Gemeinschaftsrecht
anerkannt werden (Urteil Kommission/Deutschland, Randnr. 10).
73.
Das dem Kind eines Wanderarbeitnehmers in Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zuerkannte
Recht, im Aufnahmemitgliedstaat weiterhin unter den bestmöglichen Voraussetzungen am Unterricht
teilzunehmen, umfasst unabdingbar das Recht, dass sich die die Personensorge tatsächlich
wahrnehmende Person bei ihm aufhält und dass es demgemäß dieser Person ermöglicht wird,
während der Ausbildung des Kindes mit diesem zusammen in dem betreffenden Mitgliedstaat zu
wohnen. Würde dem Elternteil, der effektiv die Personensorge für ein Kind ausübt, das sein Recht auf
weitere Teilnahme am Unterricht im Aufnahmemitgliedstaat wahrnimmt, die Aufenthaltserlaubnis
versagt, so würde dieses Recht verletzt.
74.
Zu dem Vorbringen der Kommission, aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 lasse sich kein
Aufenthaltsrecht einer Person ableiten, die nicht Kind eines Wanderarbeitnehmers sei, weil jedes
Recht aus dieser Bestimmung unabdingbar gerade diesen Status voraussetze, ist darauf hinzuweisen,
dass angesichts des Zusammenhangs und der Zielsetzung der Verordnung Nr. 1612/68 und
insbesondere ihres Artikels 12 dieser nicht eng ausgelegt (in diesem Sinne Urteil Diatta, Randnr. 17)
und ihm keinesfalls die praktische Wirksamkeit genommen werden darf.
75.
Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 in
einem Fall, in dem Kinder ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben, um dort, wie in
diesem Artikel vorgesehen, am allgemeinen Unterricht teilzunehmen, dahin auszulegen ist, dass er
dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet seiner
Staatsangehörigkeit den Aufenthalt bei den Kindern erlaubt, um ihnen die Wahrnehmung ihres
genannten Rechts zu erleichtern, selbst wenn die Eltern inzwischen geschieden sind oder der
Elternteil, der Bürger der Europäischen Union ist, nicht mehr Wanderarbeitnehmer im
Aufnahmemitgliedstaat ist.
Zur dritten Frage
76.
Mit dem ersten Teil seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Bürger der
Europäischen Union, der im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer
mehr besitzt, dort als Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht genießen kann, das sich aus der
unmittelbaren Anwendung von Artikel 18 EG ergibt.
77.
Herr Baumbast trägt vor, dass das Recht aus Artikel 18 EG zum freien Aufenthalt in dem
Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten Beschränkungen unterliege und im EG-Vertrag festgelegt sei,
nehme ihm nicht seine unmittelbare Wirkung. Artikel 18 EG sei dahin auszulegen, dass er auch
weiterhin das Recht habe, im Vereinigten Königreich zu wohnen, auch wenn er außerhalb der Union
arbeite. Diese Anwendung von Artikel 18 EG ermögliche eine Wahrnehmung des im EG-Vertrag
gewährten Freizügigkeitsrechts auf den bloßen Nachweis der Staatsangehörigkeit hin, aber halte sich
auf der Linie der schon vorher bestehenden Rechtsvorschriften in diesem Bereich.
78.
Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die deutsche Regierung machen geltend, dass sich
aus Artikel 18 Absatz 1 EG unmittelbar kein Aufenthaltsrecht ableiten lasse. Die in Absatz 1 genannten
Beschränkungen und Bedingungen zeigten, dass er nicht als selbständige Anspruchsgrundlage
konzipiert sei.
79.
Die Kommission führt aus, trotz der politischen und rechtlichen Bedeutung von Artikel 18 EG
verdeutliche bereits der Wortlaut der Bestimmung, insbesondere der des Absatzes 1, deren Grenzen.
Nach dem gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts unterliege das in Artikel 18 EG normierte
Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht den bereits bestehenden Vorschriften des primären und
sekundären Gemeinschaftsrechts, die festlegten, welche Personengruppen diese Rechte besäßen.
Diese Rechte blieben davon abhängig, dass eine Erwerbstätigkeit oder hinreichende wirtschaftliche
Mittel vorlägen. Unter der Prämisse, auf der die dritte Vorlagefrage beruhe, nämlich dass Herr
Baumbast keine andere gemeinschaftsrechtliche Anspruchsgrundlage für ein Aufenthaltsrecht im
Vereinigten Königreich geltend machen könne, könne ihm nach dem gegenwärtigen Rechtsstand
Artikel 18 EG nicht zugute kommen.
80.
Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei dem Recht der Staatsangehörigen eines
Mitgliedstaats, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort
aufzuhalten, um einen Anspruch, der sich unmittelbar aus dem EG-Vertrag oder, je nach den
Umständen des Falls, aus den zu seiner Durchführung erlassenen Vorschriften ergibt (z. B. Urteil vom
8. April 1976 in der Rechtssache 48/75, Royer, Slg. 1976, 497, Randnr. 31).
81.
Auch wenn der Gerichtshof vor Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union ausgeführt
hatte, dass das unmittelbar aus dem EG-Vertrag fließende Aufenthaltsrecht die Ausübung einer
wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne der Artikel 48, 52 oder 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel
39 EG, 43 EG und 49 EG) voraussetzt (Urteil vom 5. Februar 1991 in der Rechtssache C-363/89, Roux,
Slg. 1991, I-273, Randnr. 9), wurde doch seither die Unionsbürgerschaft in den EG-Vertrag
aufgenommen und durch Artikel 18 Absatz 1 EG jedem Unionsbürger ein Recht zuerkannt, sich im
Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
82.
Nach Artikel 17 Absatz 1 EG ist Unionsbürger jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines
Mitgliedstaats besitzt. Dabei ist die Unionsbürgerschaft dazu bestimmt, der grundlegende Status der
Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2001 in der
Rechtssache C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Randnr. 31).
83.
Nach dem Vertrag über die Europäische Union ist es im Übrigen nicht erforderlich, dass die
Unionsbürger einer unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, um in den
Genuss der im Zweiten Teil des EG-Vertrags über die Unionsbürgerschaft vorgesehenen Rechte zu
kommen. Der Wortlaut des Vertrages über die Europäische Union enthält auch nichts, was dafür
spräche, dass Unionsbürger, die zur Ausübung einer unselbständigen Beschäftigung in einen anderen
Mitgliedstaat übergesiedelt sind, die ihnen vom EG-Vertrag als Unionsbürgern gewährten Rechte
verlören, wenn diese Beschäftigung endet.
84.
Was namentlich das Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nach Artikel 18
Absatz 1 EG angeht, so wird es jedem Unionsbürger durch eine klare und präzise Vorschrift des EG-
Vertrags unmittelbar zuerkannt. Allein deshalb, weil er Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats und
damit Unionsbürger ist, ist Herr Baumbast daher berechtigt, sich auf Artikel 18 Absatz 1 EG zu
berufen.
85.
Zwar besteht das Recht der Unionsbürger zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen
Mitgliedstaats nur vorbehaltlich der im EG-Vertrag und in seinen Durchführungsvorschriften
vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen.
86.
Die Anwendung der Beschränkungen und Bedingungen, die nach Artikel 18 Absatz 1 EG für die
Wahrnehmung dieses Aufenthaltsrechts bestehen, unterliegt jedoch der gerichtlichen Kontrolle. Diese
Beschränkungen und Bedingungen stehen daher nicht dem entgegen, dass Artikel 18 Absatz 1 EG
den Einzelnen Rechte verleiht, die sie gerichtlich geltend machen können und die die innerstaatlichen
Gerichte zu wahren haben (in diesem Sinne Urteil vom 4. Dezember 1974 in der Rechtssache 41/74,
Van Duyn, Slg. 1974, 1337, Randnr. 7).
87.
Was die im abgeleiteten Recht vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen angeht, so
können die Mitgliedstaaten nach Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 90/364 von Angehörigen eines
Mitgliedstaats, die das Recht zum Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet wahrnehmen wollen, verlangen,
dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im
Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch
die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des
Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen.
88.
Was die Anwendung dieser Bedingungen in der Sache Baumbast anbelangt, so ergibt sich aus den
Akten, dass Herr Baumbast als Arbeitnehmer deutscher Unternehmen in Drittländern tätig ist und
dass weder er noch seine Familie im Aufnahmemitgliedstaat Sozialhilfe in Anspruch genommen haben.
Damit erfüllt Herr Baumbast unstreitig die in der Richtlinie 90/364 statuierte Bedingung ausreichender
Existenzmittel.
89.
Was die weitere Bedingung einer Krankenversicherung betrifft, so sind nach den Akten Herr
Baumbast und seine Familienangehörigen in Deutschland in vollem Umfang krankenversichert. Der
Immigration Adjudicator ist offenbar davon ausgegangen, dass diese Krankenversicherung keine
Notversorgung im Vereinigten Königreich abdecken könne. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die
Richtigkeit dieser Feststellung im Licht der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni
1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die
innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), zu überprüfen. Dabei ist
insbesondere Artikel 19 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 zu beachten, wonach
Arbeitnehmer oder Selbständige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen und der ärztlichen
Behandlung im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ihres Wohnsitzes bedürfen, für Rechnung des
zuständigen Staates Sachleistungen vom Träger des Wohnmitgliedstaats beanspruchen können.
90.
Jedenfalls beruhen die in Artikel 18 EG genannten und in der Richtlinie 90/364 festgelegten
Beschränkungen und Bedingungen auf dem Gedanken, dass die Wahrnehmung des Aufenthaltsrechts
der Unionsbürger von der Wahrung der berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten abhängig
gemacht werden kann. So heißt es in der vierten Begründungserwägung der Richtlinie 90/364, dass
die Aufenthaltsberechtigten die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats nicht „über
Gebühr“ belasten dürfen.
91.
Allerdings sind diese Beschränkungen und Bedingungen unter Einhaltung der einschlägigen
gemeinschaftsrechtlichen Grenzen und im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des
Gemeinschaftsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, anzuwenden. Das
bedeutet, dass unter diesem Gesichtspunkt erlassene nationale Maßnahmen zur Erreichung des
angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich sein müssen (in diesem Sinne Urteil vom 2. August
1993 in den verbundenen Rechtssachen C-259/91, C-333/91 und C-332/91, Alluè u. a., Slg. 1993, I-
4309, Randnr. 15).
92.
Für die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Ausgangsfall ist von Belang, dass
erstens Herr Baumbast unstreitig über ausreichende Existenzmittel im Sinne der Richtlinie 90/364
verfügt, dass er zweitens mehrere Jahre lang, zunächst als Arbeitnehmer und dann als Selbständiger,
im Aufnahmemitgliedstaat gearbeitet und somit rechtmäßig gewohnt hat, dass drittens in dieser Zeit
auch seine Familie im Aufnahmemitgliedstaat wohnte und nach Beendigung seiner dortigen
unselbständigen und selbständigen Erwerbstätigkeit in diesem Staat verblieben ist, dass viertens
weder Herr Baumbast noch seine Familienangehörigen die öffentlichen Finanzen des
Aufnahmemitgliedstaats belastet haben und dass schließlich sowohl Herr Baumbast als auch seine
Familie in einem anderen Mitgliedstaat in vollem Umfang krankenversichert sind.
93.
Damit wäre es ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Aufenthaltsrecht aus Artikel 18 Absatz 1 EG,
wenn Herrn Baumbast dessen Ausübung in Anwendung der Richtlinie 90/364 mit der Begründung
versagt würde, dass seine Krankenversicherung eine Notversorgung im Aufnahmemitgliedstaat nicht
abdecke.
94.
Auf den ersten Teil der dritten Frage ist deshalb zu antworten, dass ein Bürger der Europäischen
Union, der im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer mehr besitzt,
dort als Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht genießen kann, das sich aus der unmittelbaren
Anwendung von Artikel 18 Absatz 1 EG ergibt. Die Wahrnehmung dieses Rechts kann den in dieser
Bestimmung genannten Beschränkungen und Bedingungen unterworfen werden, jedoch haben die
zuständigen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte dafür Sorge zu tragen, dass bei
der Anwendung dieser Beschränkungen und Bedingungen die allgemeinen Grundsätze des
Gemeinschaftsrechts und insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.
95.
Mit dem zweiten und dritten Teil seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob,
falls Herrn Baumbast ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage von Artikel 18 Absatz 1 EG zustünde,
auch seine Familienangehörigen ein Aufenthaltsrecht auf dieser Rechtsgrundlage genießen.
Angesichts der Antworten auf die ersten beiden Fragen braucht auf diese beiden Teile der dritten
Frage nicht mehr geantwortet zu werden.
96.
Wegen der Antwort auf den ersten Teil der dritten Frage braucht auch die vierte Frage nicht mehr
beantwortet zu werden.
Kosten
97.
Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs, der deutschen Regierung und der
Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für
die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden
Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Immigration Appeal Tribunal mit Beschluss vom 28. Mai 1999 vorgelegten Fragen für
Recht erkannt:
1. Die Kinder eines Bürgers der Europäischen Union, die in einem Mitgliedstaat seit
einem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser Bürger dort ein Aufenthaltsrecht als
Wanderarbeitnehmer hatte, sind zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat berechtigt, um
dort gemäß Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft weiterhin am allgemeinen
Unterricht teilzunehmen. Dass die Eltern dieser Kinder inzwischen geschieden sind, dass
nur einer von ihnen Bürger der Europäischen Union und nicht mehr Wanderarbeitnehmer
im Aufnahmemitgliedstaat ist und dass die Kinder selbst nicht Bürger der Europäischen
Union sind, ist dabei ohne Belang.
2. Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 ist in einem Fall, in dem Kinder ein
Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben, um dort, wie in diesem Artikel
vorgesehen, am allgemeinen Unterricht teilzunehmen, dahin auszulegen, dass er dem
Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet seiner
Staatsangehörigkeit den Aufenthalt bei den Kindern erlaubt, um ihnen die Wahrnehmung
ihres genannten Rechts zu erleichtern, selbst wenn die Eltern inzwischen geschieden sind
oder der Elternteil, der Bürger der Europäischen Union ist, nicht mehr
Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist.
3. Ein Bürger der Europäischen Union, der im Aufnahmemitgliedstaat kein
Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer mehr besitzt, kann dort als Unionsbürger ein
Aufenthaltsrecht genießen, das sich aus der unmittelbaren Anwendung von Artikel 18
Absatz 1 EG ergibt. Die Wahrnehmung dieses Rechts kann den in dieser Bestimmung
genannten Beschränkungen und Bedingungen unterworfen werden, jedoch haben die
zuständigen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte dafür Sorge zu
tragen, dass bei der Anwendung dieser Beschränkungen und Bedingungen die
allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.
Rodríguez Iglesias
Jann
Macken
Colneric
Von Bahr
Gulmann
Edward
La Pergola
Puissochet
Wathelet
Skouris
Cunha Rodrigues
Timmermans
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. September 2002.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
Verfahrenssprache: Englisch.