Urteil des EuGH vom 12.10.2004

EuGH: gemeinsame einrichtung, ablauf der frist, sitz im ausland, mitgliedstaat, bürge, regierung, mindestlohn, sozialversicherung, dienstleistungsfreiheit, arbeitsförderung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)
12. Oktober 200
„Artikel 49 EG – Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs – Bauunternehmen – Subunternehmer –
Verpflichtung eines Unternehmens, als Bürge für die Zahlung eines Mindestentgelts an die von einem
Nachunternehmen beschäftigten Arbeitnehmer zu haften“
In der Rechtssache C-60/03
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht
(Deutschland) mit Entscheidung vom 6. November 2002, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Februar
2003, in dem Verfahren
Wolff & Müller GmbH & Co. KG
gegen
José Filipe Pereira Félix
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans (Berichterstatter) sowie der Richter
C. Gulmann und R. Schintgen und der Richterinnen F. Macken und N. Colneric,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,
Kanzler: M. Múgica Arzamendi, Hauptverwaltungsrätin,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der Wolff & Müller GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt T. Möller,
von Herrn Pereira Félix, vertreten durch Rechtsanwältin M. Veiga,
der deutschen Regierung, vertreten durch A. Tiemann als Bevollmächtigte,
der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, C. Bergeot‑Nunes und O. Christmann als
Bevollmächtigte,
der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl und G. Hesse als Bevollmächtigte,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Patakia als Bevollmächtigte,
Beistand: Rechtsanwalt R. Karpenstein,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Juni 2004,
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Artikels 49 EG.
2
Dieses Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Wolff & Müller GmbH & Co. KG (im Folgenden:
Wolff & Müller), einem Bauunternehmen, und Herrn Pereira Félix wegen der Haftung dieses Unternehmens
als Bürge für die Zahlung des Mindestarbeitsentgelts, das dem Letztgenannten von seinem Arbeitgeber
geschuldet wird.
Rechtlicher Rahmen
3
Die fünfte Begründungserwägung der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von
Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) lautet:
„Voraussetzung für eine solche Förderung des länderübergreifenden Dienstleistungsverkehrs sind ein fairer
Wettbewerb sowie Maßnahmen, die die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer garantieren“.
4
Artikel 1 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 96/71 sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie gilt für Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat, die im Rahmen der
länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer gemäß Absatz 3 in das Hoheitsgebiet
eines Mitgliedstaats entsenden.
(3) Diese Richtlinie findet Anwendung, soweit die in Absatz 1 genannten Unternehmen eine der folgenden
länderübergreifenden Maßnahmen treffen:
a)
einen Arbeitnehmer in ihrem Namen und unter ihrer Leitung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats
im Rahmen eines Vertrags entsenden, der zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem in
diesem Mitgliedstaat tätigen Dienstleistungsempfänger geschlossen wurde, sofern für die Dauer der
Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer
besteht,
…“
5
Artikel 3 („Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen“) der Richtlinie 96/71 bestimmt in seinem Absatz 1:
„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis
anwendbaren Recht die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten
Arbeitnehmern bezüglich der nachstehenden Aspekte die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen
garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird,
durch Rechts‑ oder Verwaltungsvorschriften und/oder
durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche im Sinne des Absatzes 8,
sofern sie die im Anhang genannten Tätigkeiten betreffen,
festgelegt sind:
c)
Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze; dies gilt nicht für die zusätzlichen betrieblichen
Altersversorgungssysteme;
...“
6
Artikel 5 („Maßnahmen“) der Richtlinie 96/71 lautet:
„Die Mitgliedstaaten sehen geeignete Maßnahmen für den Fall der Nichteinhaltung dieser Richtlinie vor.
Sie stellen insbesondere sicher, dass den Arbeitnehmern und/oder ihren Vertretern für die Durchsetzung
der sich aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen geeignete Verfahren zur Verfügung stehen.“
7
§ 1 der Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im Baugewerbe vom 25. August 1999 (BGBl. I
S. 1894) sieht vor:
„Die in der Anlage 1 zu dieser Verordnung aufgeführten Rechtsnormen des Tarifvertrages zur Regelung
eines Mindestlohnes im Baugewerbe im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (TV Mindestlohn) vom 26.
Mai 1999 … finden auf alle nicht an ihn gebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Anwendung, die unter
seinen am 1. September 1999 gültigen Geltungsbereich fallen, wenn der Betrieb überwiegend Bauleistungen
im Sinne des § 211 Abs. 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch [im Folgenden: SGB III] erbringt. Die
Rechtsnormen des Tarifvertrages gelten auch für Arbeitgeber mit Sitz im Ausland und ihre im
Geltungsbereich der Rechtsverordnung beschäftigten Arbeitnehmer.“
8
§ 1a des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (im Folgenden: AEntG), der durch das Gesetz zu Korrekturen in der
Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte vom 19. Dezember 1998 (BGBl. I S. 3843)
eingefügt worden und zum 1. Januar 1999 in Kraft getreten ist, lautet:
„Ein Unternehmer, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von Bauleistungen im Sinne des
§ 211 Abs. 1 [SGB III] beauftragt, haftet für die Verpflichtungen dieses Unternehmers, eines von diesem
eingesetzten Nachunternehmers oder eines von dem Unternehmer oder einem Nachunternehmer
beauftragten Verleihers zur Zahlung des Mindestentgelts an einen Arbeitnehmer oder zur Zahlung von
Beiträgen an eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien nach § 1 Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 2a ,
Abs. 3 Satz 2 und 3 oder Abs. 3a Satz 4 und 5 wie ein Bürge, der auf die Einrede der Vorausklage verzichtet
hat. Das Mindestentgelt im Sinne des Satzes 1 umfasst nur den Betrag, der nach Abzug der Steuern und der
Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung oder entsprechender Aufwendungen zur sozialen
Sicherung an den Arbeitnehmer auszuzahlen ist (Nettoentgelt).“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
9
Herr Pereira Félix ist portugiesischer Staatsangehöriger und war vom 21. Februar 2000 bis zum 15. Mai 2000
als Maurer auf einer Baustelle in Berlin (Deutschland) für ein Bauunternehmen mit Sitz in Portugal tätig.
Dieses Unternehmen führte auf dieser Baustelle für Wolff & Müller Beton‑ und Stahlbetonarbeiten durch.
10
Mit einer am 4. September 2000 beim Arbeitsgericht Berlin (Deutschland) eingereichten Klage verlangte Herr
Pereira Félix von seinem Arbeitgeber und von Wolff & Müller als Gesamtschuldnern die Zahlung
rückständiger Arbeitsvergütung in Höhe von 4 019,23 DM. Er trug vor, dass Wolff & Müller nach § 1a AEntG
als Bürge für die offenen Lohnforderungen hafte.
11
Wolff & Müller verteidigte sich gegen diese Forderungen von Herrn Pereira Félix insbesondere damit, dass
ihre Haftung deshalb ausscheide, weil § 1a AEntG einen unzulässigen Eingriff in die durch Artikel 12
Grundgesetz geschützte Berufsausübungsfreiheit enthalte und gegen die im EG-Vertrag gewährleistete
Dienstleistungsfreiheit verstoße.
12
Das Arbeitsgericht Berlin gab der Klage von Herrn Pereira Félix statt. Das hiergegen von Wolff & Müller
angerufene Landesarbeitsgericht wies die Berufung des Unternehmens teilweise zurück, das daraufhin
Revision beim Bundesarbeitsgericht einlegte.
13
Das Bundesarbeitsgericht stellte fest, dass die Voraussetzungen der Bürgenhaftung von Wolff & Müller nach
§ 1a AEntG vorlägen. Diese Vorschrift sei auch mit Artikel 12 Grundgesetz vereinbar, da die Einschränkung
verhältnismäßig sei. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte die Bestimmung des
Arbeitnehmer‑Entsendegesetzes aber den freien Dienstleistungsverkehr im Sinne von Artikel 49 EG
behindern.
14
Das vorlegende Gericht führt hierzu aus, dass die Bürgenhaftung aus § 1a AEntG besonders intensive
Kontrollen und Nachweispflichten insbesondere ausländischer Nachunternehmer auslösen könne. Hierdurch
würden nicht nur bei den Generalunternehmern, sondern gleichfalls bei den Nachunternehmern zusätzliche
Kosten und administrative Belastungen verursacht. Diese Belastungen behinderten die Erbringung von
Bauleistungen in Deutschland für Bauunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten und machten sie weniger
attraktiv.
15
Dem vorlegenden Gericht erscheint es fraglich, ob die von § 1a AEntG ausgehende Beeinträchtigung der
Dienstleistungsfreiheit gerechtfertigt sei.
16
Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts gewährt die Bürgenhaftung den Arbeitnehmern zwar einen
tatsächlichen Vorteil, der zu ihrem Schutz beitrage. Die Arbeitnehmer bekämen neben ihrem Arbeitgeber
einen weiteren Schuldner für ihren nach der nationalen Regelung vorgesehenen Nettolohnanspruch.
17
Zum einen wirke dieser Vorteil jedoch nur begrenzt. Für die entsandten ausländischen Arbeitnehmer werde
es in der Praxis oftmals schwer sein, ihren Lohnanspruch gegen den als Bürgen haftenden Unternehmer vor
Gericht in Deutschland durchzusetzen. Da die Entsendung häufig nur wenige Monate für ein bestimmtes
Bauvorhaben erfolge, seien die ausländischen Arbeitnehmer in der Regel der deutschen Sprache nicht
mächtig und mit der Rechtslage in Deutschland nicht vertraut. Daher sei die Durchsetzung des
Bürgschaftsanspruchs vor einem deutschen Gericht mit beachtlichen tatsächlichen Schwierigkeiten
verbunden. Zudem werde dieser Schutz wirtschaftlich entwertet, wenn die rein tatsächliche Chance, in der
Bundesrepublik Deutschland entgeltlich tätig zu werden, deutlich abnehme.
18
Zum anderen sei zu berücksichtigen, dass es nach der Begründung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Zweck der Bürgenhaftung sei, die Auftragsvergabe an Nachunternehmen aus so genannten
Billiglohnländern zu erschweren, um damit den deutschen Arbeitsmarkt im Bausektor zu beleben, die
wirtschaftliche Existenz von Mittel- und Kleinbetrieben in Deutschland zu schützen und die Arbeitslosigkeit in
Deutschland zu bekämpfen. Diese Gesichtspunkte stünden nicht nur nach dem Wortlaut der
Gesetzesbegründung im Mittelpunkt der Regelung, sie seien es vielmehr auch bei objektiver Betrachtung. Es
gehöre nicht zu den ausdrücklich erklärten Zielen des § 1a AEntG, ausländischen Arbeitnehmern aus
sozialen Gründen den doppelten oder teilweise sogar dreifachen Lohn bei einer Tätigkeit auf Baustellen in
Deutschland zu sichern.
19
Da das vorlegende Gericht der Auffassung ist, dass das Ergebnis des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von
der Auslegung von Artikel 49 EG abhängt, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem
Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Steht Artikel 49 EG (vormals Artikel 59 EG-Vertrag) einer nationalen Regelung entgegen, nach der ein
Bauunternehmer, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von Bauleistungen beauftragt, für die
Verpflichtungen dieses Unternehmers oder eines Nachunternehmers zur Zahlung des Mindestentgelts an
einen Arbeitnehmer oder zur Zahlung von Beiträgen an eine gemeinsame Einrichtung der
Tarifvertragsparteien wie ein Bürge haftet, der auf die Einrede der Vorausklage verzichtet hat, wenn das
Mindestentgelt den Betrag erfasst, der nach Abzug der Steuern und der Beiträge zur Sozialversicherung und
zur Arbeitsförderung oder entsprechender Aufwendungen zur sozialen Sicherung an den Arbeitnehmer
auszuzahlen ist (Nettoentgelt), wenn der Entgeltschutz der Arbeitnehmer nicht vorrangiges oder nur
nachrangiges Ziel des Gesetzes ist?
Zur Vorlagefrage
20
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften macht geltend, das Problem der Bürgenhaftung für
Beiträge an gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien sei nicht Gegenstand des
Ausgangsrechtsstreits und müsse daher aus der Fragestellung des vorlegenden Gerichts ausgeklammert
werden.
21
Dazu ist festzustellen, dass eine Vorlagefrage eines Gerichts nur dann unzulässig ist, wenn sie sich
offensichtlich nicht auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts bezieht oder wenn sie hypothetisch ist
(Urteil vom 7. Januar 2004 in der Rechtssache C-201/02, Wells, Slg. 2004, I‑0000, Randnr. 35 und die dort
angeführte Rechtsprechung). Dieser Fall liegt hier nicht vor.
22
Wie sich nämlich aus dem Wortlaut der vorgelegten Frage ergibt, die § 1a AEntG, die im Ausgangsverfahren
streitige Bestimmung, sinngemäß wiedergibt, ist die Frage der Zahlung von Beiträgen zu einer gemeinsamen
Einrichtung der Tarifvertragsparteien eng mit der der Zahlung des Mindestlohns verknüpft.
23
Die Vorlagefrage ist daher in vollem Umfang zulässig.
24
Es ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof, um dem Gericht, das ihm eine Frage zur Vorabentscheidung
vorgelegt hat, eine sachdienliche Antwort zu geben, auf gemeinschaftsrechtliche Vorschriften eingehen
kann, die das vorlegende Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteil vom 22. Januar 2004 in der
Rechtssache C-271/01, COPPI, Slg. 2004, I‑0000, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25
Wie die österreichische Regierung und die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen zu Recht ausgeführt
haben, fällt der Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits, wie er im Vorlagebeschluss beschrieben worden ist,
in den Anwendungsbereich der Richtlinie 96/71. Er entspricht nämlich dem Fall des Artikels 1 Absatz 3
Buchstabe a dieser Richtlinie.
26
Im Übrigen steht fest, dass der Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits sich im Jahr 2000 zugetragen hat,
d. h. nach dem Ablauf der Frist, die den Mitgliedstaaten für die Umsetzung der Richtlinie 96/71 gesetzt war,
da dieser Zeitpunkt auf den 16. Dezember 1999 festgelegt worden war.
27
Daher sind die Bestimmungen dieser Richtlinie bei der Prüfung der Vorlagefrage zu berücksichtigen.
28
Nach Artikel 5 der Richtlinie 96/71 sehen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen für den Fall der
Nichteinhaltung dieser Richtlinie vor. Sie stellen insbesondere sicher, dass den Arbeitnehmern und/oder
ihren Vertretern für die Durchsetzung der sich aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen geeignete
Verfahren zur Verfügung stehen. Zu diesen Verpflichtungen gehört nach Artikel 3 Absatz 1 zweiter
Gedankenstrich Buchstabe c der Richtlinie die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass die
Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern die Zahlung des Mindestlohns
garantieren.
29
Infolgedessen müssen die Mitgliedstaaten insbesondere dafür sorgen, dass den entsandten Arbeitnehmern
geeignete Verfahren zur Verfügung stehen, damit sie den Mindestlohn tatsächlich erhalten.
30
Wie sich aus Artikel 5 der Richtlinie 96/71 ergibt, verfügen die Mitgliedstaaten über ein weites Ermessen bei
der Festlegung der Form und der Art und Weise der geeigneten Verfahren im Sinne des zweiten Absatzes
dieser Bestimmung. Bei der Ausübung dieses Ermessens müssen sie jedoch jederzeit die vom Vertrag
gewährleisteten Grundfreiheiten beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Januar 2002 in der
Rechtssache C‑390/99, Canal Satélite Digital, Slg. 2002, I‑607, Randnrn. 27 und 28, und vom 25. März 2004
in der Rechtssache C‑71/02, Karner, Slg. 2004, I‑0000, Randnrn. 33 und 34) und damit, soweit es um den
Ausgangsfall geht, auch die Dienstleistungsfreiheit.
31
In diesem Zusammenhang ist zunächst daran zu erinnern, dass Artikel 49 EG nach ständiger
Rechtsprechung nicht nur die Beseitigung jeder Diskriminierung des in einem anderen Mitgliedstaat
ansässigen Dienstleistenden aufgrund seiner Staatsangehörigkeit verlangt, sondern auch die Aufhebung
aller Beschränkungen – selbst wenn sie unterschiedslos für inländische Dienstleistende wie für solche aus
anderen Mitgliedstaaten gelten –, sofern sie geeignet sind, die Tätigkeiten des Dienstleistenden, der in
einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und der dort rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu
unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (Urteile vom 24. Januar 2002 in der
Rechtssache C‑164/99, Portugaia Construções, Slg. 2002, I‑787, Randnr. 16 und die dort angeführte
Rechtsprechung).
32
Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, ist die Anwendung nationaler Regelungen des
Aufnahmemitgliedstaats für Dienstleistende geeignet, Dienstleistungen von in anderen Mitgliedstaaten
ansässigen Personen oder Unternehmen zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen,
sofern sie zusätzliche administrative und wirtschaftliche Kosten und Belastungen verursacht (Urteil Portugaia
Construções, Randnr. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33
Das vorlegende Gericht wird zu prüfen haben, ob dies für die Bürgenhaftung im Ausgangsfall zutrifft. Dabei
ist die Wirkung dieser Maßnahme nicht nur auf die Dienstleistungen von Nachunternehmern, die in einem
anderen Mitgliedstaat ansässig sind, sondern auch auf Dienstleistungen eventueller Generalunternehmer
aus einem solchen Staat zu berücksichtigen.
34
Infolgedessen kann eine Regelung wie § 1a AEntG, wenn sie denn eine Beschränkung des freien
Dienstleistungsverkehrs darstellt und sofern sie für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats
tätigen Personen oder Unternehmen gilt, nach ständiger Rechtsprechung gerechtfertigt sein, wenn sie auf
zwingenden Gründen des Allgemeininteresses beruht, soweit dieses Interesse nicht bereits durch
Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig
ist, und sofern sie geeignet sind, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, ohne
über das hinauszugehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil
Portugaia Construções, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35
Zu den vom Gerichtshof bereits anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehört auch der
Schutz der Arbeitnehmer (Urteil Portugaia Construções, Randnr. 20 und die dort angeführte
Rechtsprechung).
36
Wenn aber grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass der Aufnahmemitgliedstaat mit der
Anwendung seiner Regelung über den Mindestlohn auf Dienstleistende, die in einem anderen Mitgliedstaat
ansässig sind, ein Ziel verfolgt, das im Allgemeininteresse liegt, nämlich den Schutz der Arbeitnehmer (Urteil
Portugaia Construções, Randnr. 22), so muss grundsätzlich das Gleiche für Maßnahmen des erstgenannten
Mitgliedstaats zur Stärkung der Verfahrensmodalitäten gelten, die es einem entsandten Arbeitnehmer
erlauben, seinen Anspruch auf Mindestlohn mit Erfolg geltend zu machen.
37
Wenn nämlich der Anspruch auf den Mindestlohn Teil des Arbeitnehmerschutzes ist, müssen die
Verfahrensmodalitäten zur Durchsetzung dieses Anspruchs wie die im Ausgangsfall streitige Haftung des
Bürgen ebenfalls als geeignet angesehen werden, diesen Schutz zu gewährleisten.
38
Was die Feststellung des vorlegenden Gerichts betrifft, dass der Schutz des inländischen Arbeitsmarktes
und nicht das Arbeitsentgelt des Arbeitnehmers das vorrangige Ziel gewesen sei, das der nationale
Gesetzgeber mit dem Erlass des § 1a AEntG verfolgt habe, so ist daran zu erinnern, dass das Gericht zu
prüfen haben wird, ob die im Ausgangsverfahren streitige Regelung bei objektiver Betrachtung den Schutz
der entsandten Arbeitnehmer gewährleistet. Dabei ist zu prüfen, ob diese Regelung den betroffenen
Arbeitnehmern einen tatsächlichen Vorteil verschafft, der deutlich zu ihrem sozialen Schutz beiträgt. In
diesem Zusammenhang kann die erklärte Absicht des Gesetzgebers eine eingehendere Prüfung der Vorteile
erforderlich machen, die den Arbeitnehmern durch die gesetzgeberischen Maßnahmen angeblich gewährt
werden (Urteil Portugaia Construções, Randnrn. 28 und 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39
Das vorlegende Gericht äußert gewisse Zweifel, ob die Bürgenhaftung den entsandten Arbeitnehmern einen
tatsächlichen Vorteil bringt, da sie sich zum einen praktischen Schwierigkeiten gegenübersähen, wenn sie
ihren Lohnanspruch gegen den Generalunternehmer vor deutschen Gerichten geltend machten, und zum
anderen dieser Schutz wirtschaftlich entwertet werde, wenn die rein tatsächliche Chance, in Deutschland
entgeltlich tätig zu werden, deutlich abnehme.
40
Dennoch bleibt, wie Herr Pereira Félix, die deutsche, die österreichische und die französische Regierung
sowie die Kommission zu Recht ausgeführt haben, die Tatsache bestehen, dass eine Vorschrift wie § 1a
AEntG einen Vorteil für die entsandten Arbeitnehmer darstellt, da sie neben dem ersten Schuldner des
Arbeitslohns, ihrem Arbeitgeber, einen zweiten Schuldner bekommen, der gesamtschuldnerisch mit dem
ersten verbunden und im Allgemeinen sogar zahlungsfähiger ist. Bei objektiver Betrachtung ist eine solche
Vorschrift also geeignet, den Schutz der entsandten Arbeitnehmer sicherzustellen. Der Ausgangsrechtsstreit
bestätigt im Übrigen diese Schutzwirkung des § 1a AEntG.
41
Soweit eines der Ziele des nationalen Gesetzgebers gewesen ist, einen unlauteren Wettbewerb seitens der
Unternehmen zu verhindern, die ihren Arbeitnehmern einen Lohn zahlen, der unterhalb des Mindestlohns
liegt, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat, so kann ein solches Ziel als zwingendes Erfordernis, das
eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen kann, Berücksichtigung finden, sofern die in
Randnummer 34 dieses Urteils angeführten Voraussetzungen erfüllt sind.
42
Im Übrigen besteht, wie die österreichische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen zu Recht ausgeführt
hat, nicht unbedingt ein Widerspruch zwischen dem Ziel des Schutzes eines fairen Wettbewerbs auf der
einen Seite und dem Ziel der Sicherstellung des Arbeitnehmerschutzes auf der anderen Seite. Die fünfte
Begründungserwägung der Richtlinie 96/71 zeigt, dass diese beiden Ziele nebeneinander verfolgt werden
können.
43
Was schließlich das Vorbringen von Wolff & Müller betrifft, dass die Bürgenhaftung im Verhältnis zu dem
verfolgten Ziel unverhältnismäßig sei, so folgt aus der in Randnummer 34 dieses Urteils angeführten
Rechtsprechung, dass eine Maßnahme nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie geeignet ist, die Verwirklichung
des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten, ohne über das hinauszugehen, was zur Erreichung dieses
Zieles erforderlich ist.
44
Das vorlegende Gericht wird zu prüfen haben, ob diese Voraussetzungen hinsichtlich des verfolgten Zieles,
nämlich der Sicherstellung des Schutzes des betroffenen Arbeitnehmers, erfüllt sind.
45
Somit ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Artikel 5 der Richtlinie 96/71 bei Auslegung im Licht
des Artikels 49 EG in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens einer nationalen Regelung nicht
entgegensteht, nach der ein Bauunternehmer, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von
Bauleistungen beauftragt, für die Verpflichtungen dieses Unternehmers oder eines Nachunternehmers zur
Zahlung des Mindestentgelts an einen Arbeitnehmer oder zur Zahlung von Beiträgen an eine gemeinsame
Einrichtung der Tarifvertragsparteien wie ein Bürge haftet, der auf die Einrede der Vorausklage verzichtet
hat, wenn das Mindestentgelt den Betrag erfasst, der nach Abzug der Steuern und der Beiträge zur
Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung oder entsprechender Aufwendungen zur sozialen Sicherung an
den Arbeitnehmer auszuzahlen ist (Nettoentgelt), wenn der Entgeltschutz der Arbeitnehmer nicht
vorrangiges oder nur nachrangiges Ziel des Gesetzes ist.
Kosten
46
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden
Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen
anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Artikel 5 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember
1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen
steht bei Auslegung im Licht des Artikels 49 EG in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens
einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der ein Bauunternehmer, der einen anderen
Unternehmer mit der Erbringung von Bauleistungen beauftragt, für die Verpflichtungen dieses
Unternehmers oder eines Nachunternehmers zur Zahlung des Mindestentgelts an einen
Arbeitnehmer oder zur Zahlung von Beiträgen an eine gemeinsame Einrichtung der
Tarifvertragsparteien wie ein Bürge haftet, der auf die Einrede der Vorausklage verzichtet hat,
wenn das Mindestentgelt den Betrag erfasst, der nach Abzug der Steuern und der Beiträge zur
Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung oder entsprechender Aufwendungen zur sozialen
Sicherung an den Arbeitnehmer auszuzahlen ist (Nettoentgelt), wenn der Entgeltschutz der
Arbeitnehmer nicht vorrangiges oder nur nachrangiges Ziel des Gesetzes ist.
Unterschriften.
Verfahrenssprache: Deutsch.