Urteil des EuGH vom 15.07.2004

EuGH: emission, kommission, lieferung, belgien, aushändigung, regierung, gesellschaft, ausgabe, auflage, anleihe

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)
15. Juli 2004
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaates – Indirekte Steuern – Richtlinie 69/335/EWG – Ansammlung von
Kapital – Besteuerung von Börsenumsätzen – Besteuerung der Lieferung von Inhaberpapieren“
In der Rechtssache C-415/02
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Königreich Belgien,
Ghelcke, avocat,
Beklagter,
wegen Feststellung, dass das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 11 der
Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von
Kapital (ABl. L 249, S. 25) in der durch die Richtlinie 85/303/EWG des Rates vom 10. Juni 1985 (ABl. L 156,
S. 23) geänderten Fassung verstoßen hat, dass es
die in Belgien erfolgte Zeichnung von Wertpapieren, die bei der Gründung einer Gesellschaft oder eines
Anlagefonds oder nach einer Kapitalerhöhung oder bei der Auflage einer Anleihe neu ausgegeben werden,
der Börsenumsatzsteuer unterwirft,
die physische Aushändigung von Inhaberpapieren belgischer oder ausländischer Publikumsfonds, die bei der
Gründung einer Gesellschaft oder eines Anlagefonds oder nach einer Kapitalerhöhung oder bei der Auflage
einer Anleihe neu ausgegeben werden, der Steuer auf die Lieferung von Inhaberpapieren unterwirft,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, der Richter C. Gulmann und R. Schintgen
(Berichterstatter) sowie der Richterinnen F. Macken und N. Colneric,
Generalanwalt: A. Tizzano,
Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Januar 2004,
folgendes
Urteil
1
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 19. November 2002 bei der
Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 226 EG Klage erhoben, mit der sie beantragt,
festzustellen, dass das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 11 der Richtlinie
69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital
(ABl. L 249, S. 25) in der durch die Richtlinie 85/303/EWG des Rates vom 10. Juni 1985 (ABl. L 156, S. 23, im
Folgenden: Richtlinie 69/335) geänderten Fassung verstoßen hat, dass es
die in Belgien erfolgte Zeichnung von Wertpapieren, die bei der Gründung einer Gesellschaft oder
eines Anlagefonds oder nach einer Kapitalerhöhung oder bei der Auflage einer Anleihe neu
ausgegeben werden, der Börsenumsatzsteuer unterwirft und
die physische Aushändigung von Inhaberpapieren belgischer oder ausländischer Publikumsfonds, die
bei der Gründung einer Gesellschaft oder eines Anlagefonds oder nach einer Kapitalerhöhung oder
bei der Auflage einer Anleihe neu ausgegeben werden, der Steuer auf die Lieferung von
Inhaberpapieren unterwirft.
Rechtlicher Rahmen
2
Artikel 11 der Richtlinie 69/335 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten erheben keine Steuer irgendwelcher Art:
a)
auf die Ausfertigung, die Ausgabe, die Börsenzulassung, das Inverkehrbringen von oder den Handel
mit Aktien, Anteilen oder anderen Wertpapieren gleicher Art sowie Zertifikaten derartiger Wertpapiere,
ungeachtet der Person des Emittenten;
b)
auf Anleihen einschließlich Renten, die durch Ausgabe von Obligationen oder anderen handelsfähigen
Wertpapieren aufgenommen werden, ungeachtet der Person des Emittenten, auf alle damit
zusammenhängenden Formalitäten sowie auf die Ausfertigung, Ausgabe oder Börsenzulassung, das
Inverkehrbringen von oder den Handel mit diesen Obligationen oder anderen handelsfähigen
Wertpapieren.“
3
Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie 69/335 bestimmt:
„In Abweichung von den Artikeln 10 und 11 können die Mitgliedstaaten Folgendes erheben:
a)
pauschal oder nicht pauschal erhobene Börsenumsatzsteuern;
…“
4
In der Begründung des Vorschlags einer Richtlinie der Kommission vom 14. Dezember 1964 (KOM[64] 526
endg.), der zum Erlass der Richtlinie 69/335 geführt hat, heißt es:
„Bei [den indirekten] Steuern [auf den Kapitalverkehr] kann man zwischen Steuern auf die Ansammlung von
Kapital und Steuern auf den Wertpapierhandel unterscheiden. Der nachstehende Richtlinienentwurf bezieht
sich auf die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital; hierzu gehören: die Gesellschaftsteuer auf
das Eigenkapital der Gesellschaften, die Wertpapiersteuer auf inländische Wertpapiere, die bei der
Einführung oder Emission von Wertpapieren ausländischer Herkunft auf dem Binnenmarkt erhobene
Wertpapiersteuer sowie andere indirekte Steuern, die die gleichen Merkmale aufweisen. Die indirekten
Steuern, die auf den Wertpapierhandel erhoben werden, wie beispielsweise die Börsenumsatzsteuern,
werden in einer späteren Richtlinie gesondert behandelt werden. Die vorliegende Richtlinie lässt diese
Steuern somit unberührt.“
5
Nach Artikel 2 Absatz 1 des von der Kommission am 2. April 1976 vorgelegten Vorschlags einer Richtlinie des
Rates über die indirekten Steuern auf Geschäfte mit Wertpapieren (ABl. C 133, S. 1, im Folgenden:
Richtlinienvorschlag von 1976) besteht ein steuerbares Geschäft „in der Veräußerung oder in dem Erwerb
von Wertpapieren gegen Entgelt, wenn das Veräußerungs- oder Erwerbsgeschäft in einem Mitgliedstaat
oder von einem Ansässigen eines Mitgliedstaats in einem Drittland abgeschlossen wird. Jede Veräußerung
und jeder Erwerb von Wertpapieren stellt einen besonderen steuerbaren Vorgang dar.“
6
Artikel 4 Absatz 1 des Richtlinienvorschlags von 1976 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um folgende Geschäfte von der Steuer zu
befreien:
a)
die Emission von Wertpapieren und der Ersterwerb dieser Wertpapiere im Rahmen der Emission,
…“
7
In Teil V des Anhangs des Richtlinienvorschlags von 1976 wird klargestellt, dass „[a]ls Emission von
Wertpapieren im Sinne dieser Richtlinie … die Veräußerung von Wertpapieren durch den Emittenten
einschließlich der Veräußerung von Wertpapieren im Anschluss an die Umwandlung von Rücklagen [gilt]“.
8
Die im vorliegenden Fall einschlägigen belgischen Rechtsvorschriften finden sich im belgischen Code des
Taxes Assimilées au Timbre (Gesetz über den Stempelgebühren gleichgestellte Abgaben, im Folgenden:
CTAT) und gehen auf das Gesetz vom 14. April 1965 zur Änderung des Code des droits d'enregistrement,
d'hypothèque et de greffe, des Code des droits de timbre und des Code des taxes assimilées au timbre
(Gesetz über Register-, Hypotheken- und Kanzleiabgaben, Gesetz über Stempelgebühren und Gesetz über
den Stempelgebühren gleichgestellte Abgaben) ( vom 24. April 1965, S. 4430) zurück.
9
Artikel 120 CTAT bestimmt:
„Folgende in Belgien vereinbarten oder getätigten Umsätze unterliegen, wenn sie belgische oder
ausländische Publikumsfonds betreffen, der Börsenumsatzsteuer:
1.
jeder Verkauf, jeder Ankauf und, allgemeiner, jede Veräußerung und jeder Erwerb gegen Entgelt;
2.
jede Ausgabe an den Zeichner im Anschluss an öffentlich ausgeschriebene Emissionen,
Ausstellungen, Angebote oder öffentliche Verkäufe.“
10
Nach den Artikeln 120 Nummer 2 und 121 Absatz 1 CTAT wird die Ausgabe an den Zeichner von Aktien und
Anleihepapieren mit der Börsenumsatzsteuer belegt. Der Steuersatz liegt zwischen 0,07 % und 1 %.
11
Artikel 126‑1 Nummer 1 CTAT befreit die Umsätze von der Börsenumsatzsteuer, bei denen kein
gewerbsmäßiger Vermittler tätig wird oder für Rechnung einer der Parteien oder für eigene Rechnung
abschließt.
12
Artikel 159 Absätze 1 und 2 CTAT lautet:
„Jede Lieferung von belgische oder ausländische Publikumsfonds betreffenden Inhaberpapieren unterliegt
der Taxe sur les livraisons de titres au porteur (Steuer auf die Lieferung von Inhaberpapieren).
Unter Lieferung ist jede physische Aushändigung zu verstehen im Anschluss an
1.
eine Zeichnung;
2.
einen Erwerb gegen Entgelt;
3. eine Umwandlung von Namenspapieren in Inhaberpapiere;
4.
eine Einziehung von Wertpapieren aus einem Sammeldepot bei einem Kreditinstitut, einer
Börsengesellschaft, einer Vermögensverwaltungsgesellschaft oder der Caisse interprofessionnelle de
dépôts et de virements de titres (Berufsübergreifende Kasse für die Hinterlegung und Übertragung
von Wertpapieren).“
13
Artikel 163 Nummer 1 CTAT sieht vor, dass die Lieferung von Wertpapieren im Anschluss an einen Erwerb
gegen Entgelt, bei dem kein gewerbsmäßiger Vermittler tätig wird oder für Rechnung einer der Parteien
abschließt, von der Steuer auf die Lieferung von Inhaberpapieren befreit ist.
14
Die Artikel 120 Absätze 1 und 2 und 159 CTAT, die den Anwendungsbereich der Börsenumsatzsteuer bzw.
der Steuer auf die Lieferung von Inhaberpapieren festlegen, unterscheiden nicht zwischen der erstmaligen
Ausgabe von Wertpapieren und dem weiteren Handel mit vorhandenen Wertpapieren.
Vorverfahren
15
Da die Kommission der Ansicht war, dass die Börsenumsatzsteuer und die Steuer auf die Lieferung von
Inhaberpapieren gegen Artikel 11 der Richtlinie 69/335 verstießen, forderte sie das Königreich Belgien auf,
binnen zwei Monaten Stellung zu nehmen.
16
Mit Schreiben vom 2. August 1999 unterrichtete die belgische Regierung die Kommission von ihrem
Standpunkt, wonach die beiden in Rede stehenden Steuern in den Anwendungsbereich von Artikel 12 Absatz
1 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 fielen.
17
Da diese Antwort die Kommission nicht zufrieden stellte, sandte sie dem Königreich Belgien am 26. Januar
2000 eine mit Gründen versehene Stellungnahme mit der Aufforderung, die erforderlichen Maßnahmen zu
ergreifen, um dieser Stellungnahme innerhalb von zwei Monaten nach ihrer Bekanntgabe nachzukommen.
18
Mit Schreiben vom 29. März 2000 teilte die belgische Regierung der Kommission mit, dass sie auf ihrem
Standpunkt beharre, und ersuchte um ein Treffen mit Vertretern der Kommission. Da sich bei diesem
Treffen, das am 14. Dezember 2000 stattfand, keine Lösung erzielen ließ, hat die Kommission beschlossen,
die vorliegende Klage zu erheben.
Zur Klage
19
Die Kommission trägt vor, das Königreich Belgien habe gegen Artikel 11 der Richtlinie 69/335, der den
Mitgliedstaaten verbiete, u. a. auf die Ausgabe von Wertpapieren eine Steuer irgendwelcher Art zu erheben,
verstoßen, indem es auf neue Wertpapiere die Börsenumsatzsteuer und die Steuer auf die Lieferung von
Inhaberpapieren erhebe.
Vorbringen der Parteien
20
Nach Ansicht der Kommission verstößt die Börsenumsatzsteuer gegen Artikel 11 der Richtlinie 69/335, da sie
die Zeichnung von Wertpapieren, die bei der Gründung einer Gesellschaft oder eines Anlagefonds oder nach
einer Kapitalerhöhung oder bei der Auflage einer Anleihe neu ausgegeben werden, der Börsenumsatzsteuer
unterwirft.
21
Die Kommission vertritt die Ansicht, dass diese Steuer entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung
nicht unter die in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 vorgesehene abweichende Regelung
falle, die als Ausnahme von der Regel der Nichtbesteuerung eng auszulegen sei und auf neu ausgegebene
Wertpapiere keine Anwendung finde. Nach dieser Bestimmung dürften die Mitgliedstaaten zwar Steuern auf
Börsenumsätze erheben, jedoch setze der Begriff „Umsatz“ voraus, dass die betreffenden Werte vor dem
Übertragungsvorgang einem anderen Eigentümer gehört hätten. Diese Auslegung werde zum einen durch
die Begründung des Vorschlags einer Richtlinie vom 14. Dezember 1964 und zum anderen durch die
Rechtsprechung des Gerichtshofes bestätigt (vgl. Urteile vom 2. Februar 1988 in der Rechtssache 36/86,
Dansk Sparinvest, Slg. 1988, 409, und vom 25. Mai 1989 in der Rechtssache 15/88, Maxi Di, Slg. 1989,
1391), aus denen hervorgehe, dass es einem Mitgliedstaat nicht gestattet sei, die Kapitalgesellschaften in
Bezug auf die in Artikel 11 der Richtlinie 69/335 genannten Umsätze einer anderen Besteuerung zu
unterwerfen als den in Artikel 12 dieser Richtlinie vorgesehenen Steuern und Abgaben.
22
Zum Begriff „Emission von Wertpapieren“ trägt die Kommission vor, dass dieser Begriff nicht so ausgelegt
werden könne, dass er die erste Übertragung dieser Wertpapiere erfasse, da eine solche Auslegung das in
Artikel 11 der Richtlinie 69/335 vorgesehene Verbot sinnlos mache. Die Emission von Wertpapieren lasse
sich von ihrem Erwerb durch die Zeichnenden nicht trennen, und das Verbot der Besteuerung der Emission
gelte in entsprechender Anwendung dessen, was der Gerichtshof im Urteil vom 27. Oktober 1998 in den
Rechtssachen C‑31/97 und C‑32/97 (Fecsa und Acesa, Slg. 1998, I‑6491, Randnrn. 18 und 19) entschieden
habe, für den Gesamtumsatz, der den Erwerb von Wertpapieren durch den Zeichnenden umfasse.
23
Die Kommission beanstandet die Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 des Richtlinienvorschlags von 1976
durch die belgischen Behörden. Entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung sehe diese
Bestimmung nämlich zwar das Verbot der Besteuerung der Emission und des Ersterwerbs von Wertpapieren
vor, jedoch könne ein solches Verbot nicht als Indiz dafür ausgelegt werden, dass diese beiden Umsätze zu
unterscheiden seien oder dass allein die Emission von Artikel 11 der Richtlinie 69/335 erfasst werde. Die
Wiederholung des in dieser Bestimmung enthaltenen Verbotes in einem anderen Richtlinienvorschlag habe
seinen Grund vielmehr im Bemühen um Klarheit. So sei die Wendung „Ersterwerb dieser Wertpapiere im
Rahmen der Emission“ nur eine inhaltliche Erläuterung des Verbotes in Artikel 11.
24
Zum Anwendungsbereich der Börsenumsatzsteuer trägt die Kommission vor, der Umstand, dass bestimmte
Umsätze nicht dieser Steuer unterworfen seien, sei nicht geeignet, den Verstoß gegen Artikel 11 der
Richtlinie 69/335 zu rechtfertigen. Außerdem sei entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung die
Börsenumsatzsteuer dem Gegenstand nach nicht auf die Durchführung eines Wertpapiergeschäfts in
Ausführung eines Börsenauftrags beschränkt. Jedenfalls könnten weder das Tätigwerden gewerbsmäßiger
Vermittler bei den von dieser Steuer erfassten Umsätzen noch die Person des Steuerschuldners bei der
Beurteilung der Vereinbarkeit dieser Steuer mit der genannten Bestimmung berücksichtigt werden.
25
Die belgische Regierung vertritt die Meinung, dass Artikel 11 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 der
Besteuerung der ersten Übertragung von Wertpapieren, die nach deren Ausfertigung erfolge, nicht
entgegenstehe.
26
Die Verwendung des Begriffes „Handel“ in Artikel 11 der Richtlinie 69/335 bedeute notwendigerweise, dass
es eine Reihe weiterer Übertragungen geben müsse. Das Verbot jeglicher Besteuerung dieser Umsätze
hätte einen äußerst weiten Geltungsbereich, der jedoch durch die in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a dieser
Richtlinie enthaltene abweichende Regelung, wonach die Erhebung von Börsenumsatzsteuern gestattet sei,
beschränkt werden müsse.
27
Der von der Kommission befürworteten Auslegung des Begriffes „Emission“ und der Auffassung, die
Übertragung setze das Vorhandensein eines Voreigentümers voraus, könne nicht gefolgt werden. Der
Begriff „Emission von Wertpapieren“ erfasse nicht den Ersterwerb von Wertpapieren durch den sie
Zeichnenden, sondern beschränke sich auf die Tätigkeit der emittierenden Gesellschaft.
28
Aus dem Richtlinienvorschlag von 1976 gehe nämlich hervor, dass die „Emission von Wertpapieren“ dahin zu
verstehen sei, dass sie die erste Veräußerung dieser Wertpapiere erfasse, sich aber nicht auf deren
Ersterwerb erstrecke. Da dieser Vorschlag nie angenommen worden sei, sei es den Mitgliedstaaten
gestattet, auf den Ersterwerb von Wertpapieren Steuern zu erheben. Im Übrigen sei dem Urteil vom 17.
Dezember 1998 in der Rechtssache C‑236/97 (Codan, Slg. 1998, I‑8679) zu entnehmen, dass der Begriff
„Umsatz“ in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 weit auszulegen sei und dass alle
Übertragungen von Wertpapieren einschließlich der an der Börse getätigten Veräußerungen der gleichen
Regelung zu unterwerfen seien und die in dieser Bestimmung vorgesehene abweichende Regelung
beanspruchen könnten.
29
Die belgische Regierung macht geltend, dass Artikel 4 Absatz 1 des Richtlinienvorschlags von 1976 zwar dem
allgemeinen Verbot des Artikels 11 der Richtlinie 69/335 entgegenstehe, dass sich aber aus der dort
getroffenen Unterscheidung zwischen der Emission von Wertpapieren und ihrem Erwerb ergebe, dass nur
die Emission nicht besteuert werden dürfe. Der zweite Umsatz, der unter die in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe
a dieser Richtlinie vorgeschriebene abweichende Regelung falle, werde von diesem Verbot nicht erfasst.
30
Sie trägt hierzu ergänzend vor, dass nach den Urteilen Dansk Sparinvest und Maxi Di das in Artikel 11 der
Richtlinie 69/335 enthaltene Verbot der Besteuerung nur die Kapitalgesellschaften, d. h. die Emittenten,
betreffe und dass der Umstand, dass die Kapitalgeber oder die Ersterwerber der Zahlung einer Steuer
unterworfen würden, nicht gegen diese Bestimmung verstoße. Da aber allein die Kapitalgeber der
Börsenumsatzsteuer unterlägen, befreie das belgische Recht tatsächlich die Ausgabe von Wertpapieren als
Gesamtumsatz von der Besteuerung.
Würdigung durch den Gerichtshof
31
Zur ersten Rüge der Kommission ist daran zu erinnern, dass Artikel 11 Buchstabe a der Richtlinie 69/335
verbietet, auf die Ausfertigung, die Ausgabe, die Börsenzulassung, das Inverkehrbringen von oder den
Handel mit Aktien, Anteilen oder anderen Wertpapieren gleicher Art sowie Zertifikaten derartiger
Wertpapiere, ungeachtet der Person des Emittenten, eine Steuer irgendwelcher Art zu erheben.
32
Es trifft zwar zu, dass diese Bestimmung, wie die belgische Regierung vorträgt, den Ersterwerb von Aktien,
Anteilen oder anderen Wertpapieren gleicher Art nicht ausdrücklich erwähnt, gleichwohl aber würde, wie der
Generalanwalt in Nummer 14 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Erlaubnis zur Erhebung einer Steuer
oder Gebühr auf den Ersterwerb eines neu emittierten Wertpapiers in Wirklichkeit auf die Besteuerung der
Emission dieses Wertpapiers selbst als Bestandteil eines Gesamtumsatzes im Hinblick auf die Ansammlung
von Kapital hinauslaufen. Eine Emission von Wertpapieren ist nämlich kein Selbstzweck, sondern wird erst in
dem Moment sinnvoll, in dem diese Wertpapiere Erwerber finden.
33
Die praktische Wirksamkeit des Artikels 11 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 bedingt somit, dass die
„Ausgabe“ im Sinne dieser Bestimmung den Ersterwerb von Wertpapieren umfassen muss, der im Rahmen
ihrer Emission erfolgt.
34
Diese Feststellung wird durch die vom Königreich Belgien angeführten Argumente nicht in Frage gestellt.
35
Zu dem ersten Argument, der Ersterwerb von Wertpapieren im Anschluss an deren Emission falle nicht unter
das in Artikel 11 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 vorgesehene Verbot, weil dieser Umsatz von dieser
Bestimmung nicht ausdrücklich erfasst sei, ist festzustellen, dass zum einen Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a
des Richtlinienvorschlags von 1976 durch die Erwähnung des Ersterwerbs von Wertpapieren „im Rahmen der
Emission“ zeigt, dass der Ersterwerb von Wertpapieren Bestandteil des allgemeineren Umsatzes, den die
Emission von Wertpapieren darstellt, und von diesem nicht zu trennen ist. Zum anderen ist der Umstand,
dass die Kommission unter Berücksichtigung gegebenenfalls vorhandener Unterschiede bei der Auslegung
oder Anwendung dieses Artikels 11 Buchstabe a eine einheitliche Anwendung der sich auf die gleichen
Umsätze beziehenden Richtlinien dadurch sicherstellen wollte, dass sie eine genauere Definition der
„Emission von Wertpapieren“ vornahm, nicht geeignet, sich auf die Feststellung auszuwirken, dass der
Ersterwerb von Wertpapieren im Rahmen ihrer Emission aus wirtschaftlicher Sicht als Bestandteil dieser
Emission anzusehen ist.
36
Zu dem zweiten Argument, die Börsenumsatzsteuer falle nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie
69/335, weil es sich bei den mit dieser Steuer Belasteten nicht um die von dieser Richtlinie erfassten
Kapitalgesellschaften handele, sondern um die Kapitalgeber, genügt der Hinweis, dass das Verbot der
Erhebung einer anderen Steuer als der Gesellschaftsteuer sowie der in Artikel 12 dieser Richtlinie
genannten Abgaben und Steuern nur für die ausdrücklich aufgeführten Kapitalumsätze gilt, ohne dass zu
deren Beschreibung die Person des Steuerschuldners näher bezeichnet zu werden braucht.
37
Zu dem dritten Argument, die Börsenumsatzsteuer stelle eine Steuer auf die Übertragung von Wertpapieren
im Sinne des Artikels 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 dar, der somit die in dieser Bestimmung
vorgesehene abweichende Regelung zugute kommen müsse, ist darauf hinzuweisen, dass diese
abweichende Regelung wie jede Ausnahme eng auszulegen ist und nicht dazu führen kann, dass der
Grundsatz, von dem sie abweicht, jede praktische Wirksamkeit verliert.
38
Würde man den Begriff „Umsatz“ in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 in dem Sinne
auslegen, wie es die belgische Regierung befürwortet, liefe das darauf hinaus, Artikel 11 Buchstabe a dieser
Richtlinie seine praktische Wirksamkeit zu nehmen, so dass der Emissionsumsatz, der nach dieser
Bestimmung keiner anderen Steuer oder Abgabe als der Gesellschaftsteuer unterworfen werden darf,
gleichwohl deswegen mit einer Steuer oder einer Abgabe belastet werden könnte, weil die neu emittierten
Wertpapiere im Rahmen ihrer Emission notwendigerweise auf Erwerber „übertragen“ werden.
39
Somit kann der Ersterwerb von Wertpapieren im Rahmen ihrer Emission nicht als ein „Umsatz“ im Sinne des
Artikels 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 angesehen werden, und eine diesen Ersterwerb
belastende Steuer kann demnach nicht unter die in dieser Bestimmung enthaltene abweichende Regelung
fallen.
40
Angesichts dieser Erwägungen ist festzustellen, dass die Börsenumsatzsteuer, soweit sie auf Wertpapiere
erhoben wird, die bei der Gründung einer Gesellschaft oder eines Anlagefonds oder nach einer
Kapitalerhöhung oder auch bei der Auflage einer Anleihe neu ausgefertigt werden, eine Besteuerung im
Sinne des Artikels 11 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 darstellt, deren Einführung durch diese Bestimmung
untersagt ist.
41
Die erste Rüge der Kommission ist folglich begründet.
Vorbringen der Parteien
42
Die Kommission trägt vor, dass die von ihr in Bezug auf die Börsenumsatzsteuer angeführten Argumente
mutatis mutandis auf die Steuer auf die Lieferung von Inhaberpapieren übertragbar seien. Sie stellt jedoch
klar, dass diese nur insoweit gegen Artikel 11 der Richtlinie 69/335 verstoße, als sie die bei der Emission
erfolgende Aushändigung von Wertpapieren belaste.
43
Die belgische Regierung beruft sich zunächst darauf, dass die Kommission ihre Argumentation zur
Unvereinbarkeit der Steuer auf die Lieferung von Inhaberpapieren mit Artikel 11 der Richtlinie 69/335 nicht
ausreichend begründet habe. Die einfache Bezugnahme auf die zur Börsenumsatzsteuer entwickelte
Argumentation sei unzureichend, da diese beiden Steuern ihrer Natur nach sehr verschieden seien.
44
Zudem beachte die Steuer auf die Lieferung von Inhaberpapieren, deren Ziel es sei, von der Lieferung
physischer Wertpapiere abzuhalten und die Platzierung von Wertpapieren in Sammeldepots zu fördern, das
in Artikel 11 der Richtlinie 69/335 vorgesehene Verbot, da nur die körperliche Aushändigung von
Wertpapieren besteuert werde. Dieses Geschäft sei aber eigenständig und unabhängig von der Emission
von Wertpapieren. Handele es sich bei den emittierten Wertpapieren nämlich um Namenspapiere, nicht
verbriefte oder in einem Sammeldepot bei einem Geldinstitut platzierte Wertpapiere, sei eine Erhebung
dieser Steuer nicht veranlasst. Im Übrigen könne die Lieferung von Inhaberpapieren auch nicht als
„Inverkehrbringen“ dieser Wertpapiere oder als „Handel“ mit ihnen im Sinne von Artikel 11 der Richtlinie
69/335 eingestuft werden.
45
Schließlich falle die Besteuerung der Lieferung von Inhaberpapieren unter die in Artikel 12 Absatz 1
Buchstabe a der Richtlinie 69/335 enthaltene abweichende Regelung, da der Begriff „Übertragung“ in der
Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil Codan sowohl die rechtliche Zuordnung von Wertpapieren als
auch ihre körperliche Aushändigung erfasse.
Würdigung durch den Gerichtshof
46
Die Rüge der Kommission ist auf die Erhebung der Steuer auf die Lieferung von Inhaberpapieren beschränkt,
mit der die physische Aushändigung solcher Wertpapiere belastet wird, die im Rahmen ihrer Emission
stattfindet.
47
Es trifft zwar zu, wie die belgische Regierung vorträgt, dass die Emission von Inhaberpapieren als solche
keinen Anlass zur Erhebung dieser Steuer gibt, gleichwohl aber muss die physische Aushändigung derartiger
Wertpapiere an ihre Ersterwerber aus den gleichen Gründen, wie sie in Randnummer 35 des vorliegenden
Urteils dargelegt sind, als Bestandteil der Emission im Sinne des Artikels 11 Buchstabe a der Richtlinie
69/335 angesehen werden.
48
Hinzu kommt, dass die physische Aushändigung von Inhaberpapieren an Ersterwerber auch nicht unter die
in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 vorgesehene abweichende Regelung fällt, da, wie
aus Randnummer 37 des vorliegenden Urteils hervorgeht, der Begriff „Übertragung“ eng auszulegen ist und
aus den gleichen Gründen, wie sie in Randnummer 38 dieses Urteils dargelegt sind, die erste körperliche
Aushändigung neu emittierter Wertpapiere nicht erfassen kann.
49
Entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung widerspricht diese Feststellung nicht der Auslegung
des Artikels 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 durch den Gerichtshof im Urteil Codan.
50
Wie der Generalanwalt in Nummer 38 seiner Schlussanträge nämlich ausgeführt hat, hat der Gerichtshof in
dem genannten Urteil den Begriff „Börsenumsatz“ nicht weit ausgelegt, sondern sich darauf beschränkt, die
verschiedenen Sprachfassungen der Richtlinie 69/335 im Fall von Abweichungen zwischen ihnen einheitlich
auszulegen, indem er festgestellt hat, dass Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a dieser Richtlinie nicht dahin
ausgelegt werden kann, dass er die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Steuererhebung auf Börsenumsätze
beschränkt, wie es die deutsche und die dänische Fassung dieser Richtlinie vorsehen.
51
Angesichts dieser Erwägungen ist festzustellen, dass die Steuer auf die Lieferung von Inhaberpapieren,
soweit sie die erste physische Aushändigung neu ausgegebener Inhaberpapiere betrifft, eine nach Artikel
11 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 verbotene Steuer darstellt.
52
Folglich ist auch die zweite Rüge der Kommission begründet.
53
Demnach ist festzustellen, dass das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 11
der Richtlinie 69/335 verstoßen hat, dass es
die in Belgien erfolgte Zeichnung von Wertpapieren, die bei der Gründung einer Gesellschaft oder
eines Anlagefonds oder nach einer Kapitalerhöhung oder bei der Auflage einer Anleihe neu
ausgegeben werden, der Börsenumsatzsteuer unterwirft und
die physische Aushändigung von Inhaberpapieren belgischer oder ausländischer Publikumsfonds, die
bei der Gründung einer Gesellschaft oder eines Anlagefonds oder nach einer Kapitalerhöhung oder
bei der Auflage einer Anleihe neu ausgegeben werden, der Steuer auf die Lieferung von
Inhaberpapieren unterwirft.
Kosten
54
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu
verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung des Königreichs Belgien beantragt hat und dieses mit
seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Königreich Belgien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 11 der
Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die
Ansammlung von Kapital in der durch die Richtlinie 85/303/EWG des Rates vom 10. Juni 1985
geänderten Fassung verstoßen, dass es
die in Belgien erfolgte Zeichnung von Wertpapieren, die bei der Gründung einer
Gesellschaft oder eines Anlagefonds oder nach einer Kapitalerhöhung oder bei der
Auflage einer Anleihe neu ausgegeben werden, der Börsenumsatzsteuer unterwirft
und
die physische Aushändigung von Inhaberpapieren belgischer oder ausländischer
Publikumsfonds, die bei der Gründung einer Gesellschaft oder eines Anlagefonds
oder nach einer Kapitalerhöhung oder bei der Auflage einer Anleihe neu
ausgegeben werden, der Steuer auf die Lieferung von Inhaberpapieren unterwirft.
2. Das Königreich Belgien trägt die Kosten des Verfahrens.
Timmermans
Gulmann
Schintgen
Macken
Colneric
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juli 2004.
Der Kanzler
Der Präsident der Zweiten Kammer
R. Grass
C. W. A. Timmermans
Verfahrenssprache: Französisch.