Urteil des EuG vom 14.05.1998

EuG: kommission, unternehmen, hersteller, klagegrund, markt, kartell, mildernder umstand, preisabsprache, verordnung, anhörung

URTEIL DES GERICHTS (Dritte erweiterte Kammer)
14. Mai 1998
„Wettbewerb — Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag — Begriff der Vereinbarung — Anordnung — Geldbuße —
Bestimmung der Höhe — Begründung — Mildernde Umstände“
In der Rechtssache T-317/94
Moritz J. Weig GmbH & Co. KG,
Rechtsanwälte Thomas Jestaedt, Karsten Metzlaff und Hanns-Christian Salger, Düsseldorf, Hamburg und
Frankfurt am Main, sodann auch Rechtsanwältin Verena von Bomhard, Hamburg, Zustellungsanschrift:
Kanzlei des Rechtsanwalts Philippe Dupont, 8-10, rue Mathias Hardt, Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, Beistand: Rechtsanwalt Dirk Schroeder, Köln,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-
Kirchberg,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 94/601/EG der Kommission vom 13. Juli 1994 in einem Verfahren
nach Artikel 85 EG-Vertrag (IV/C/33.833 — Karton, ABl. L 243, S. 1)
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Dritte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten B. Vesterdorf sowie des Richters C. P. Briët, der Richterin P. Lindh und der
Richter A. Potocki und J. D. Cooke,
Kanzler: J. Palacio González, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Juni bis zum 8. Juli 1997,
folgendes
Urteil
Sachverhalt
1.
Die vorliegende Rechtssache betrifft die Entscheidung 94/601/EG der Kommission vom 13. Juli 1994
in einem Verfahren nach Artikel 85 EG-Vertrag (IV/C/33.833 — Karton, ABl. L 243, S. 1), die vor ihrer
Veröffentlichung durch eine Entscheidung der Kommission vom 26. Juli 1994 (K[94] 2135 endg.)
berichtigt wurde (im folgenden: Entscheidung). In der Entscheidung wurden gegen 19 Kartonhersteller
und -lieferanten aus der Gemeinschaft wegen Verstößen gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages
Geldbußen festgesetzt.
2.
Gegenstand der Entscheidung ist das Erzeugnis Karton. In der Entscheidung werden drei
Kartonsorten erwähnt, die den Qualitäten „GC“, „GD“ und „SBS“ zugeordnet werden.
3.
Karton der Qualität GD (im folgenden: GD-Karton) ist ein Karton mit einer grauen unteren Lage
(Altpapier), der in der Regel für die Verpackung von Non-food-Produkten verwendet wird.
4.
Karton der Qualität GC (im folgenden: GC-Karton) besitzt eine obere weiße Lage und wird gewöhnlich
für die Verpackung von Nahrungsmitteln verwendet. GC-Karton ist von höherer Qualität als GD-Karton.
In dem von der Entscheidung erfaßten Zeitraum bestand zwischen diesen beiden Produkten im
allgemeinen ein Preisunterschied von etwa 30 %. In geringerem Umfang wird hochwertiger GC-Karton
auch für graphische Zwecke verwendet.
5.
SBS ist die Bezeichnung für durch und durch weißen Karton (im folgenden: SBS-Karton). Sein Preis
liegt etwa 20 % über dem von GC-Karton. Er dient zur Verpackung von Lebensmitteln, Kosmetika,
Arzneimitteln und Zigaretten, ist aber hauptsächlich für graphische Zwecke bestimmt.
6.
Mit Schreiben vom 22. November 1990 legte die British Printing Industries Federation (BPIF), eine
Branchenorganisation der Mehrzahl der britischen Kartonbedrucker, bei der Kommission eine
informelle Beschwerde ein. Sie machte geltend, daß die das Vereinigte Königreich beliefernden
Kartonhersteller eine Reihe gleichzeitiger und einheitlicher Preiserhöhungen vorgenommen hätten,
und ersuchte die Kommission, das Vorliegen eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der
Gemeinschaft zu prüfen. Um ihr Vorgehen publik zu machen, gab die BPIF eine Pressemitteilung
heraus. Deren Inhalt wurde von der Fachpresse im Dezember 1990 verbreitet.
7.
Am 12. Dezember 1990 reichte die Fédération française du cartonnage bei der Kommission
ebenfalls eine informelle Beschwerde mit Behauptungen betreffend den französischen Kartonmarkt
ein, die ähnlich wie die BPIF-Beschwerde lautete.
8.
Am 23. und 24. April 1991 nahmen Beamte der Kommission gemäß Artikel 14 Absatz 3 der
Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85
und 86 des Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), in den Geschäftsräumen verschiedener
Unternehmen und Branchenorganisationen des Kartonsektors ohne Vorankündigung gleichzeitig
Nachprüfungen vor.
9.
Im Anschluß an diese Nachprüfungen richtete die Kommission an alle Adressaten der Entscheidung
Auskunftsverlangen gemäß Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 und ersuchte um die Vorlage von
Dokumenten.
10.
Aufgrund der im Rahmen dieser Nachprüfungen und Ersuchen um Auskünfte und Vorlage von
Dokumenten erlangten Informationen kam die Kommission zu dem Ergebnis, daß sich die betreffenden
Unternehmen von etwa Mitte 1986 bis (in den meisten Fällen) mindestens April 1991 an einer
Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages beteiligt hätten.
11.
Sie beschloß daher, ein Verfahren gemäß dieser Bestimmung einzuleiten. Mit Schreiben vom 21.
Dezember 1992 richtete sie eine Mitteilung der
Beschwerdepunkte an alle fraglichen Unternehmen. Sämtliche Adressaten antworteten darauf
schriftlich. Neun Unternehmen baten um eine mündliche Anhörung. Ihre Anhörung fand vom 7. bis zum
9. Juni 1993 statt.
12.
enthält:
Buchmann GmbH, Cascades S.A., Enso-Gutzeit Oy, Europa Carton AG, Finnboard — the Finnish Board
Mills Association, Fiskeby Board AB, Gruber & Weber GmbH & Co. KG, Kartonfabriek .De Eendracht' NV
(unter der Firma BPB de Eendracht handelnd), NV Koninklijke KNP BT NV (ehemals Koninklijke
Nederlandse Papierfabrieken NV), Laakmann Karton GmbH & Co. KG, Mo Och Domsjö AB (MoDo), Mayr-
Melnhof Gesellschaft mbH, Papeteries de Lancey S.A., Rena Kartonfabrik A/S, Sarrió SpA, SCA Holding
Ltd (ehemals Reed Paper & Board (UK) Ltd), Stora Kopparbergs Bergslags AB, Enso Española S.A.
(früher Tampella Española S.A.) und Moritz J. Weig GmbH & Co. KG haben gegen Artikel 85 Absatz 1
des EG-Vertrages verstoßen, indem sie sich
— im Falle von Buchmann und Rena von etwa März 1988 bis mindestens Ende 1990,
— im Falle von Enso Española von mindestens März 1988 bis mindestens Ende April 1991 und
— im Falle von Gruber & Weber von mindestens 1988 bis Ende 1990,
— in den [übrigen] Fällen von Mitte 1986 bis mindestens April 1991,
an einer seit Mitte 1986 bestehenden Vereinbarung und abgestimmten Verhaltensweise beteiligten,
durch die die Kartonanbieter in der Gemeinschaft
— sich regelmäßig an einer Reihe geheimer und institutionalisierter Sitzungen zwecks Erörterung
und Festlegung eines gemeinsamen Branchenplans zur Einschränkung des Wettbewerbs trafen;
— sich über regelmäßige Preiserhöhungen für jede Kartonsorte in jeder Landeswährung
verständigten;
— gleichzeitige und einheitliche Preiserhöhungen für die gesamte Gemeinschaft planten und
durchführten;
— sich vorbehaltlich gelegentlicher Änderungen über die Aufrechterhaltung konstanter Marktanteile
der führenden Hersteller verständigten;
— in zunehmendem Maße ab Anfang 1990 abgestimmte Maßnahmen zur Kontrolle des
Kartonangebots in der Gemeinschaft trafen, um die Durchsetzung der vorerwähnten abgestimmten
Preiserhöhungen sicherzustellen;
— als Absicherung der vorgenannten Maßnahmen Geschäftsinformationen (über Lieferungen,
Preise, Abstellzeiten, Auftragsbestände und Kapazitätsauslastung) austauschten.
...
Gegen die nachstehenden Unternehmen werden für den in Artikel 1 festgestellten Verstoß folgende
Geldbußen festgesetzt:
...
xix) gegen Moritz J. Weig GmbH & Co. KG eine Geldbuße in Höhe von 3 000 000 ECU;
...“
13.
Der Entscheidung zufolge geschah die Zuwiderhandlung im Rahmen einer aus mehreren Gruppen
oder Ausschüssen bestehenden Organisation namens „Produktgruppe Karton“ (im folgenden: PG
Karton).
14.
Im Rahmen dieser Organisation sei Mitte 1986 ein Ausschuß namens „Presidents' Working Group“
(PWG) eingesetzt worden, der aus hochrangigen Vertretern der (etwa acht) führenden
Kartonlieferanten der Gemeinschaft bestanden habe.
15.
Der PWG habe sich u. a. mit der Erörterung und Abstimmung der Märkte, Marktanteile, Preise und
Kapazitäten beschäftigt. Er habe insbesondere umfassende Beschlüsse über die zeitliche Folge und
die Höhe der von den Herstellern vorzunehmenden Preiserhöhungen gefaßt.
16.
Der PWG habe der „Präsidentenkonferenz“ (PK) Bericht erstattet, an der (mehr oder weniger
regelmäßig) fast alle Generaldirektoren der betreffenden Unternehmen teilgenommen hätten. Die PK
habe im maßgeblichen Zeitraum zweimal pro Jahr getagt.
17.
Ende 1987 sei das „Joint Marketing Committee“ (JMC) eingesetzt worden. Die Hauptaufgabe des JMC
habe darin bestanden, zum einen zu ermitteln, ob und, wenn ja, wie sich Preiserhöhungen
durchsetzen ließen, und zum anderen die vom PWG beschlossenen Preisinitiativen nach Ländern und
wichtigsten Kunden im
Detail auszuarbeiten, um zu einem einheitlichen Preissystem in Europa zu gelangen.
18.
Schließlich habe die „Wirtschaftliche Kommission“ (WK) u. a. die Preisentwicklung auf den
nationalen Märkten und die Auftragslage erörtert und dem JMC oder — bis Ende 1987 — dessen
Vorgänger, dem „Marketing Committee“, über die Ergebnisse ihrer Arbeit berichtet. Die WK habe aus
Vertriebs- und/oder Verkaufsleitern der meisten fraglichen Unternehmen bestanden und sei mehrmals
pro Jahr zusammengetreten.
19.
Aus der Entscheidung geht ferner hervor, daß die Tätigkeiten der PG Karton nach Ansicht der
Kommission durch einen Informationsaustausch über die Treuhandgesellschaft FIDES mit Sitz in Zürich
(Schweiz) unterstützt wurden. In der Entscheidung heißt es, die meisten Mitglieder der PG Karton
hätten der FIDES regelmäßig Berichte über Auftragslage, Produktion, Verkäufe und
Kapazitätsauslastung geliefert. Diese Berichte seien im Rahmen des FIDES-Systems bearbeitet
worden, und die Teilnehmer hätten die zusammengefaßten Daten erhalten.
20.
Die Klägerin nahm nach den Erkenntnissen der Kommission in dem von der Entscheidung erfaßten
Zeitraum an Sitzungen der PK sowie ab 1988 an Sitzungen des JMC und des PWG teil.
Verfahren
21.
Mit Klageschrift, die am 9. Oktober 1994 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die
Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
22.
Sechzehn der achtzehn anderen für die Zuwiderhandlung verantwortlich gemachten Unternehmen
haben ebenfalls Klage gegen die Entscheidung erhoben (Rechtssachen T-295/94, T-301/94, T-304/94,
T-308/94, T-309/94, T-310/94, T-311/94, T-319/94, T-327/94, T-334/94, T-337/94, T-338/94, T-347/94, T-
348/94, T-352/94 und T-354/94).
23.
Die Klägerin in der Rechtssache T-301/94, die Laakmann Karton GmbH, hat ihre Klage mit Schreiben,
das am 10. Juni 1996 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, zurückgenommen; durch Beschluß
vom 18. Juli 1996 in der Rechtssache T-301/94 (Laakmann Karton/Kommission, nicht in der amtlichen
Sammlung veröffentlicht) ist diese Rechtssache im Register des Gerichts gestrichen worden.
24.
Vier finnische Unternehmen, die als Mitglieder der Wirtschaftsvereinigung Finnboard
gesamtschuldnerisch für die Zahlung der gegen diese festgesetzten Geldbuße haftbar gemacht
wurden, haben ebenfalls gegen die Entscheidung geklagt (verbundene Rechtssachen T-339/94, T-
340/94, T-341/94 und T-342/94).
25.
Schließlich hat der Verband CEPI-Cartonboard, der nicht zu den Adressaten der Entscheidung
gehört, Klage erhoben. Er hat sie jedoch mit Schreiben, das am 8. Januar 1997 bei der Kanzlei des
Gerichts eingegangen ist, zurückgenommen; durch Beschluß vom 6. März 1997 in der Rechtssache T-
312/94 (CEPI-Cartonboard/Kommission, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht) ist diese
Rechtssache im Register des Gerichts gestrichen worden.
26.
Mit Schreiben vom 5. Februar 1997 hat das Gericht die Parteien zu einer informellen Sitzung
geladen, in der sie sich u. a. zu einer etwaigen Verbindung der Rechtssachen T-295/94, T-304/94, T-
308/94, T-309/94, T-310/94, T-311/94, T-317/94, T-319/94, T-327/94, T-334/94, T-337/94, T-338/94, T-
347/94, T-348/94, T-352/94 und T-354/94 zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung äußern sollten. In
dieser Sitzung, die am 29. April 1997 stattfand, haben sich die Parteien mit einer solchen Verbindung
einverstanden erklärt.
27.
Mit Beschluß vom 4. Juni 1997 hat der Präsident der Dritten erweiterten Kammer des Gerichts die
genannten Rechtssachen wegen ihres Zusammenhangs gemäß Artikel 50 der Verfahrensordnung zu
gemeinsamer mündlicher Verhandlung verbunden und einem Antrag der Klägerin in der Rechtssache
T-334/94 auf vertrauliche Behandlung stattgegeben.
28.
Mit Beschluß vom 20. Juni 1997 hat er einem Antrag der Klägerin in der Rechtssache T-337/94 auf
vertrauliche Behandlung eines in Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichts vorgelegten
Dokuments stattgegeben.
29.
Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Dritte erweiterte Kammer) beschlossen, die
mündliche Verhandlung zu eröffnen, und hat prozeßleitende Maßnahmen getroffen, indem es die
Parteien ersucht hat, einige schriftliche Fragen zu beantworten und bestimmte Dokumente
vorzulegen. Die Parteien sind diesen Ersuchen nachgekommen.
30.
Die Parteien in den in Randnummer 26 genannten Rechtssachen haben in der Sitzung, die vom 25.
Juni bis zum 8. Juli 1997 stattfand, mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
Anträge der Parteien
31.
Die Klägerin beantragt,
— die Entscheidung ganz oder teilweise für nichtig zu erklären;
— der Kommission die Kosten des Verfahrens einschließlich der durch die Stellung einer Bürgschaft
entstandenen Kosten aufzuerlegen;
hilfsweise
— die ihr in der Entscheidung auferlegte Geldbuße herabzusetzen;
— der Kommission die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten aufzuerlegen, die ihr durch
die Stellung einer Bürgschaft in Höhe des Betrages entstanden sind, um den die Geldbuße
herabgesetzt wird.
32.
Die Kommission beantragt,
— die Klage abzuweisen;
— die Klägerin zu verurteilen, die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Zum Antrag auf völlige oder teilweise Nichtigerklärung von Artikel 1 der Entscheidung
Vorbringen der Parteien
33.
Dieser Klagegrund besteht aus zwei Teilen.
34.
Mit dem ersten Teil weist die Klägerin darauf hin, daß nach Artikel 1 der Entscheidung die dort
genannten Unternehmen „sich vorbehaltlich gelegentlicher Änderungen über die Aufrechterhaltung
konstanter Marktanteile der führenden Hersteller verständigten“ und daß sie „in zunehmendem Maße
ab Anfang 1990 abgestimmte Maßnahmen zur Kontrolle des Kartonangebots in der Gemeinschaft
trafen“.
35.
Da sie nur gelegentlich an Sitzungen der PG Karton teilgenommen habe, seien ihr derartige
umfassende Maßnahmen oder Verständigungen nicht bekannt gewesen. Auf den von ihren Vertretern
besuchten Sitzungen der PK, des PWG und des JMC sei nur in allgemeiner Form über die
Mengenbeibehaltung bei bestimmten Ländergruppen von Herstellern und über die Abstellzeiten
gesprochen worden.
36.
Auf den von ihren Vertretern besuchten Sitzungen des PWG sei es um die Absatzmengen der
Unternehmen aus den einzelnen Staaten auf dem europäischen Markt gegangen. Dabei seien
Statistiken über die Absatzmengen der einzelnen Ländergruppen mit den auf den vorangegangenen
Treffen besprochenen Statistiken verglichen worden. Diese Angaben seien mit der Erwartung
verknüpft worden, daß die einzelnen nationalen Gruppen ihren Anteil am europäischen Markt nicht
erhöhen würden.
37.
Außerdem sei auf Sitzungen des JMC, an denen ihre Vertreter teilgenommen hätten, gelegentlich
über Abstellzeiten der Maschinen gesprochen worden. Ihr ab 1990 entsandter Vertreter habe aber
regelmäßig erklärt, daß er für Aussagen zur
Mengenpolitik seines Unternehmens kein Mandat habe. Die Marktsituation habe im übrigen ein
Abstellen ihrer Maschinen in dem von der Entscheidung erfaßten Zeitraum nicht gerechtfertigt.
38.
Die Behauptungen der Kommission zur angeblichen Mengenkontrolle beruhten auf drei
Beweismitteln, und zwar auf der Antwort von Stora vom 14. Februar 1992 auf ein Auskunftsverlangen
gemäß Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 (Anlage 43 der Mitteilung der Beschwerdepunkte), auf der
vertraulichen Aktennotiz des Verkaufsleiters von FS-Karton (Mayr-Melnhof-Gruppe) vom 28. Dezember
1988 (Anlage 73 der Mitteilung der Beschwerdepunkte) und auf einem Vermerk des Geschäftsführers
von Rena über eine Sondersitzung des Nordic Paper Institute (NPI) vom 3. Oktober 1988 (Anlage 102
der Mitteilung der Beschwerdepunkte).
39.
Die Kommission hätte die Aussagen von Stora nach Ansicht der Klägerin nicht als zentrales
Beweismittel verwenden dürfen.
40.
In den Anlagen 73 und 102 der Mitteilung der Beschwerdepunkte komme der von Stora in ihrer
Antwort an die Kommission verwendete Begriff „Preis-vor-Menge-Politik“ nicht vor. Sie enthielten nur
allgemeine Wunschvorstellungen oder Bedenken und könnten nicht als Beleg dafür angesehen
werden, daß Maßnahmen zur Produktionsbeschränkung vereinbart oder gar getroffen worden seien.
41.
Mit dem zweiten Teil ihres Klagegrundes macht die Klägerin geltend, die Angaben zu ihrer eigenen
Produktion zeigten, daß sie nicht an Mengenkontrollen teilgenommen habe. Sie stellt eingehend ihre
Absatzentwicklung dar und erklärt, sie habe ihren Absatz auf dem Gesamtmarkt der Gemeinschaft
zwischen 1986 und 1991 mehr als verdoppelt, obwohl der Absatz von Karton nur um knapp 20 %
zugenommen habe. Auf dem für sie wichtigsten räumlichen Markt, dem deutschen Markt, sei der
mengenmäßige Absatz noch stärker gestiegen.
42.
Schließlich habe sie den anderen Teilnehmern an den Sitzungen des JMC zu keinem Zeitpunkt
mitgeteilt, daß sie ihre Maschinen abstellen werde, um die Mengen zu drosseln. Die in
handschriftlichen Notizen des Verkaufsleiters von FS-Karton (Anlage 115 der Mitteilung der
Beschwerdepunkte) angesprochenen Produktionsunterbrechungen Ende 1990 und Anfang 1991
hätten mit den Weihnachtsferien zusammengehangen.
43.
Die Kommission führt aus, es gebe keinen Widerspruch zwischen ihren eigenen Feststellungen und
den Angaben der Klägerin, daß im PWG und im JMC nur in allgemeiner Form über die Beibehaltung der
Mengen und über Produktionsunterbrechungen diskutiert worden sei, auch wenn die Beibehaltung
der Mengen bestimmter Ländergruppen von Herstellern und Abstellzeiten angesprochen worden seien
(siehe oben, Randnrn. 36 und 37). Bei den fraglichen
Diskussionen sei es nämlich offensichtlich um die Begrenzung des Absatzes individueller Hersteller, d.
h. um präzise Fragestellungen, gegangen.
44.
Schon diese Ausführungen bestätigten somit, daß die Beibehaltung der Mengen und die
Abstellzeiten auf den Sitzungen der PG Karton erörtert worden seien; die von der Kommission
gefundenen Beweise belegten darüber hinaus, daß sich die Diskussionen nicht auf einen allgemeinen
Gedankenaustausch beschränkt hätten, sondern daß die Teilnehmer feste Absprachen über die
Beibehaltung bestimmter Produktionsmengen und Marktanteile getroffen hätten.
45.
In ihrer zweiten Aussage (Anlage 39 der Mitteilung der Beschwerdepunkte) habe Stora die von ihr
als „Preis-vor-Menge“-Politik bezeichnete Politik der Aufrechterhaltung eines annähernden
Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage ausführlich beschrieben. Aus der Beschreibung
dieser Politik ergebe sich, daß sie ein wesentlicher Bestandteil der wettbewerbswidrigen Kooperation
in der PG Karton gewesen sei und daß Einigkeit darüber bestanden habe, daß die Aufrechterhaltung
eines Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage zur Sicherung der Preisstabilität erforderlich
sei. Außerdem hätten die Hersteller wegen des Nachfragerückgangs im Jahr 1990 Abstellzeiten
hingenommen, die anhand der jährlichen Kapazitätsberichte ermittelt worden seien (Punkte 24 und 25
der Aussage).
46.
Die Aussagen von Stora zur „Preis-vor-Menge“-Politik, die eine Mengenkontrolle und die Begrenzung
der Marktanteile umfaßt habe, würden durch zahlreiche andere Beweise bestätigt, u. a. durch die
vertrauliche Aktennotiz des Verkaufsleiters von FS-Karton (Anlage 73 der Mitteilung der
Beschwerdepunkte, S. 3, Punkt 1, und S. 5, Punkt 5).
47.
Ferner sei auf die handschriftlichen Notizen dieses Verkaufsleiters (Anlage 115 der Mitteilung der
Beschwerdepunkte) zu verweisen, in denen die individuellen Auftragsbestände zahlreicher Hersteller,
teilweise sogar bezogen auf einzelne Kartonmaschinen, in Tagen oder Wochen wiedergegeben
würden. Diese Informationen hätten zusammen mit den Kapazitätsdaten dazu gedient, die Auslastung
zu ermitteln und gegebenenfalls Abstellzeiten zu planen.
48.
Die von Stora in ihrer Aussage gemachten Angaben würden auch durch die Notiz „Highlights“
bestätigt, die sich auf die Sitzung der WK vom 3. Oktober 1989 beziehe (Anlage 70 der Mitteilung der
Beschwerdepunkte).
49.
Ausgehend von diesen Erwägungen sei im Ergebnis festzustellen, daß die Klägerin an Sitzungen der
PG Karton teilgenommen habe, auf denen die Begrenzung von Produktionsmengen, die Beibehaltung
von Marktanteilen und Abstellzeiten erörtert worden seien.
50.
Unter diesen Umständen spiele das im zweiten Teil des Klagegrundes enthaltene Vorbringen der
Klägerin zu ihrem Verhalten keine Rolle.
Würdigung durch das Gericht
— Zum Vorliegen einer Absprache über das Einfrieren der Marktanteile und einer Absprache über
die Angebotskontrolle
51.
Zum ersten Teil des Klagegrundes ist darauf hinzuweisen, daß nach Artikel 1 der Entscheidung die
in dieser Bestimmung genannten Unternehmen gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages verstoßen
haben, indem sie sich im Referenzzeitraum an einer Vereinbarung und abgestimmten Verhaltensweise
beteiligten, durch die die Kartonanbieter in der Gemeinschaft „sich vorbehaltlich gelegentlicher
Änderungen über die Aufrechterhaltung konstanter Marktanteile der führenden Hersteller
verständigten“ und „in zunehmendem Maße ab Anfang 1990 abgestimmte Maßnahmen zur Kontrolle
des Kartonangebots in der Gemeinschaft trafen, um die Durchsetzung der vorerwähnten
abgestimmten Preiserhöhungen sicherzustellen“.
52.
Nach Ansicht der Kommission wurden diese beiden Formen von Absprachen, die in der
Entscheidung unter der Überschrift „Mengenkontrollen“ behandelt werden, im Referenzzeitraum von
den Teilnehmern an den Sitzungen des PWG eingeführt. Aus Randnummer 37 Absatz 3 der
Entscheidung geht nämlich hervor, daß der eigentliche Auftrag des PWG nach der Darstellung von
Stora „die Erörterung und Abstimmung der Märkte, Marktanteile, Preise, Preiserhöhungen und
Kapazitäten“ umfaßte.
53.
Zur Rolle des PWG bei der Absprache über die Marktanteile wird in der Entscheidung (Randnr. 37
Absatz 5) folgendes ausgeführt: „Im Zusammenhang mit den Preiserhöhungsinitiativen führte der PWG
ausführliche Diskussionen über die Marktanteile, die die nationalen Gruppierungen und einzelne
Herstellergruppen in Westeuropa innehaben. Das Ergebnis waren eine Reihe von .Vereinbarungen'
zwischen den Teilnehmern über ihre jeweiligen Marktanteile, die sicherstellen sollten, daß die
konzertierten Preisinitiativen nicht durch ein die Nachfrage überschreitendes Angebot gefährdet
werden. So einigten sich die großen Herstellergruppen darauf, ihre Marktanteile auf den Niveaus zu
belassen, wie sie aus den jährlichen Produktions- und Verkaufszahlen resultierten, die jeweils im März
des darauffolgenden Jahres über die FIDES bekanntgegeben wurden. Auf jeder PWG-Sitzung wurde die
Entwicklung der Marktanteile auf der Grundlage der monatlichen FIDES-Meldungen analysiert; bei
größeren Schwankungen wurden von den vermuteten Schuldigen Erklärungen verlangt.“
54.
In Randnummer 52 der Entscheidung heißt es: „Die 1987 im PWG erzielte Vereinbarung umfaßte
auch ein .Einfrieren' der Marktanteile der führenden Hersteller in Westeuropa auf dem erreichten
Niveau, ohne daß Versuche unternommen wurden, neue Kunden zu gewinnen oder durch aggressive
Preispolitik bestehende Geschäftsbeziehungen auszubauen.“
55.
Nach Randnummer 56 Absatz 1 der Entscheidung bestand die „Grundvereinbarung zwischen den
führenden Herstellern über das Einfrieren ihrer Marktanteile ... während des gesamten von der
vorliegenden Entscheidung erfaßten Zeitraums weiter“. In Randnummer 57 heißt es: „Die .Entwicklung
der Marktanteile' wurde auf jeder PWG-Sitzung auf der Grundlage vorläufiger Statistiken analysiert ...“
Schließlich wird in Randnummer 56 letzter Absatz folgendes ausgeführt: „Die Unternehmen, die an den
Beratungen über die Marktanteile teilnahmen, waren die gleichen wie die Mitglieder des PWG, nämlich
Cascades, Finnboard, KNP (bis 1988), [Mayr-Melnhof], MoDo, Sarrió, die beiden zur Stora-Gruppe
gehörenden Hersteller CBC und Feldmühle und (ab 1988) Weig.“
56.
Die Kommission hat das Vorliegen einer Absprache der Teilnehmer an den Sitzungen des PWG über
die Marktanteile ordnungsgemäß nachgewiesen.
57.
Die Analyse der Kommission beruht im wesentlichen auf den Aussagen von Stora (Anlagen 39 und
43 der Mitteilung der Beschwerdepunkte) und wird durch Anlage 73 der Mitteilung der
Beschwerdepunkte bestätigt.
58.
In Anlage 39 der Mitteilung der Beschwerdepunkte erläutert Stora: „Der PWG trat ab 1986
zusammen, um bei der Einführung von Marktdisziplin zu helfen ... Neben anderen (legitimen)
Tätigkeiten bestand sein Zweck in der Erörterung und Abstimmung hinsichtlich der Märkte,
Marktanteile, Preise, Preiserhöhungen, Nachfrage und Kapazität. Zu seiner Rolle gehörte es, die
genaue Angebots- und Nachfragesituation auf dem Markt sowie die beim Versuch, Ordnung in den
Markt zu bringen, zu treffenden Maßnahmen zu beurteilen und der Präsidentenkonferenz zu erläutern.“
59.
Zur Absprache über die Marktanteile führt Stora aus: „Die von nationalen Gruppen in EG-, EFTA-
und anderen Ländern, die von Mitgliedern der PG Karton beliefert wurden, übernommenen Anteile
wurden im PWG geprüft ... [Der PWG] erörterte ... die Möglichkeit, die Marktanteile auf dem Niveau des
Vorjahrs zu halten“ (Anlage 39 der Mitteilung der Beschwerdepunkte, Punkt 19). Ferner gab sie
folgendes an (gleiches Dokument, Punkt 6): „Auch die europäischen Marktanteile der Hersteller
wurden in diesem Zeitraum erörtert, wobei das Niveau von 1987 den ersten Referenzzeitraum
darstellte.“
60.
In ihrer am 14. Februar 1992 übersandten Antwort auf ein Ersuchen der Kommission vom 23.
Dezember 1991 (Anlage 43 der Mitteilung der Beschwerdepunkte) fügte Stora hinzu: „Die
Verständigungen der PWG-Mitglieder über das Niveau der Marktanteile bezogen sich auf Europa als
Ganzes. Die Verständigungen beruhten auf den Gesamtzahlen des Vorjahrs, die in der Regel im März
des Folgejahrs endgültig verfügbar waren“ (Punkt 1.1).
61.
Diese Behauptung wird im selben Dokument mit folgenden Worten bestätigt: „[D]ie Erörterungen
[führten] in der Regel im März jeden Jahres zu Verständigungen zwischen den Mitgliedern des PWG
über die Beibehaltung ihrer
Marktanteile auf dem Niveau des Vorjahrs“ (Punkt 1.4). Stora führt aus: „Es wurden keine Maßnahmen
getroffen, um die Einhaltung der Verständigungen sicherzustellen ...“ Den Teilnehmern an den
Sitzungen des PWG sei bewußt gewesen, „daß, wenn sie sich auf bestimmten von anderen belieferten
Märkten ungewöhnlich verhielten, diese anderen auf anderen Märkten Vergeltung üben könnten“
(gleicher Punkt).
62.
Schließlich erklärt Stora, daß die Klägerin an den Erörterungen der Marktanteile teilgenommen
habe (Punkt 1.2).
63.
Die Behauptungen von Stora hinsichtlich der Absprache über die Marktanteile werden durch Anlage
73 der Mitteilung der Beschwerdepunkte untermauert. Dieses bei FS-Karton gefundene Schriftstück ist
eine vertrauliche Aktennotiz des für die Verkaufsaktivitäten der Mayr-Melnhof-Gruppe in Deutschland
zuständigen Verkaufsleiters (Herrn Katzner) an den Geschäftsführer von Mayr-Melnhof in Österreich
(Herrn Gröller) vom 28. Dezember 1988, die die Marktsituation betrifft.
64.
Nach diesem in den Randnummern 53 bis 55 der Entscheidung behandelten Schriftstück gab es bei
der 1987 beschlossenen engeren Zusammenarbeit im „Präsidentenkreis“ „Gewinner und Verlierer“.
Der Verfasser der Aktennotiz zählt Mayr-Melnhof u. a. aus folgenden Gründen zu den Verlierern:
„2.) Eine Einigung konnte nur durch unsere .Bestrafung' erzielt werden — man verlangte von uns
.Opfer'.
3.) Die 1987-Marktanteile sollten .eingefroren', die bestehenden Kontakte beibehalten und keine
neuen Aktivitäten und Sorten über den Preis gewonnen werden (im Januar 1989 wird sich ja das
Resultat zeigen — wenn alle ehrlich sind).“
65.
Diese Ausführungen sind im allgemeineren Kontext der Aktennotiz zu sehen.
66.
Insoweit verweist ihr Verfasser einleitend auf die engere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene
im „Präsidentenkreis“. Dieser Ausdruck ist nach der Auslegung von Mayr-Melnhof eine gemeinsame
Bezeichnung für PWG und PK in allgemeinem Zusammenhang, d. h. ohne Bezugnahme auf ein
bestimmtes Ereignis oder Treffen (Anlage 75 der Mitteilung der Beschwerdepunkte, Punkt 2.a); diese
Auslegung braucht im vorliegenden Zusammenhang nicht erörtert zu werden.
67.
Der Verfasser führt sodann aus, daß diese Zusammenarbeit zu „Preisdisziplin“ geführt habe, bei
der es „Gewinner und Verlierer“ gegeben habe.
68.
Folglich sind die Ausführungen zu den auf dem Niveau von 1987 einzufrierenden Marktanteilen im
Kontext dieser vom „Präsidentenkreis“ beschlossenen Preisdisziplin zu verstehen.
69.
Außerdem steht die Verweisung auf 1987 als Referenzjahr mit der zweiten Aussage von Stora
(Anlage 39 der Mitteilung der Beschwerdepunkte; siehe oben, Randnr. 58) im Einklang.
70.
Schließlich ist festzustellen, daß das Vorbringen der Klägerin die Beweiskraft der oben genannten
Unterlagen nicht mindern kann, da sie lediglich behauptet, daß die im PWG vertretenen Unternehmen
nur allgemeine Diskussionen geführt hätten. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist die
Einräumung dieser Tatsache sogar geeignet, die in der Entscheidung enthaltenen Angaben der
Kommission zu untermauern.
71.
Zur Rolle des PWG bei der Absprache über die Lieferkontrolle, die durch die Prüfung der
Abstellzeiten der Maschinen gekennzeichnet war, heißt es in der Entscheidung, daß der PWG bei der
Durchsetzung der Abstellzeiten eine entscheidende Rolle gespielt habe, als ab 1990 die
Produktionskapazität zugenommen habe und die Nachfrage gesunken sei: „Von Anfang 1990 an [hielt
es] die Branche ... für erforderlich ..., sich im Rahmen des PWG über Abstellzeiten zu verständigen. Die
großen Hersteller räumten ein, daß sie die Nachfrage nicht durch Preissenkungen steigern konnten
und daß die Aufrechterhaltung der vollen Produktion lediglich einen Preisrückgang bewirken würde.
Theoretisch ließ sich anhand der Kapazitätsberichte errechnen, wie lange die Maschinen abgestellt
werden mußten, um Angebot und Nachfrage wieder ins Gleichgewicht zu bringen“ (Randnr. 70 der
Entscheidung).
72.
Ferner heißt es in der Entscheidung: „Der PWG wies jedoch nicht formell jedem Hersteller seine
.Abstellzeiten' zu. Laut Stora bestanden praktische Schwierigkeiten, einen koordinierten Plan für
Abstellzeiten für alle Hersteller aufzustellen. Aus diesen Gründen bestand laut Stora nur .ein loses
System der Ermutigung'“ (Randnr. 71 der Entscheidung).
73.
Die Kommission hat das Vorliegen einer Absprache der Teilnehmer an den Sitzungen des PWG über
die Produktionsunterbrechungen hinreichend nachgewiesen.
74.
Die von ihr vorgelegten Unterlagen stützen ihre Analyse.
75.
In ihrer zweiten Aussage (Anlage 39 der Mitteilung der Beschwerdepunkte, Punkt 24) führt Stora
aus: „Mit der Einführung der Preis-vor-Menge-Politik durch den PWG und der allmählichen Anwendung
eines einheitlichen Preissystems ab 1988 erkannten die Mitglieder des PWG an, daß Abstellzeiten
erforderlich sein würden, um diese Preise angesichts geringerer Nachfragesteigerung zu halten. Ohne
Abstellzeiten hätten die Hersteller vereinbarte Preisniveaus angesichts zunehmender Überkapazität
nicht halten können.“
76.
Im folgenden Punkt ihrer Erklärung fügt sie hinzu: „1988 und 1989 konnte die Industrie mit nahezu
voller Kapazität arbeiten. Abstellzeiten neben der normalen
Schließung wegen Reparaturen und Feiertagen wurden ab 1990 erforderlich ... Schließlich waren
Abstellzeiten nötig, wenn der Auftragseingang stockte, um die Preis-vor-Menge-Politik
aufrechtzuerhalten. Die Länge der von den Herstellern (zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts
zwischen Produktion und Verbrauch) einzuhaltenden Abstellzeit konnte anhand der Kapazitätsberichte
errechnet werden. Der PWG nahm keine formelle Zuweisung von Abstellzeiten vor, obwohl ein loses
System der Ermutigung bestand ...“
77.
Die in Anlage 73 der Mitteilung der Beschwerdepunkte vom Verfasser genannten Gründe dafür, daß
er Mayr-Melnhof bei Abfassung der Aktennotiz als „Verlierer“ ansah, stellen wichtige Beweise für das
Vorliegen einer Absprache der Teilnehmer an den Sitzungen des PWG über die Abstellzeiten dar.
78.
Der Verfasser stellt nämlich folgendes fest:
„4.) Und an dieser Stelle beginnt die unterschiedliche Auffassung der Beteiligten über das Gewollte.
...
c) Alle Außendienstler und europäischen Vertreter wurden von ihren Mengenbudgets entbunden,
und es wurde eine fast lückenlose, harte Preispolitik vertreten (die Mitarbeiter verstanden oftmals
unsere geänderte Einstellung zum Markt nicht — früher wurde nur Tonnage gefordert und jetzt nur
Preisdisziplin mit der Gefahr, die Maschinen abzustellen).“
79.
Mayr-Melnhof macht geltend (Anlage 75 der Mitteilung der Beschwerdepunkte), daß der oben
wiedergegebene Abschnitt einen unternehmensinternen Sachverhalt betreffe. Bei einer Analyse im
allgemeineren Kontext der Aktennotiz läßt dieser Auszug jedoch erkennen, daß auf der Ebene des
Verkaufspersonals eine im „Präsidentenkreis“ beschlossene rigorose Politik durchgesetzt wurde. Das
Schriftstück ist somit dahin auszulegen, daß die Teilnehmer an der Vereinbarung von 1987, d. h.
zumindest die Teilnehmer an den Sitzungen des PWG, unbestreitbar die Folgen der beschlossenen
Politik für den Fall erwogen haben, daß diese rigoros angewandt wird.
80.
Aus alledem ist zu schließen, daß der Kommission der Beweis für das Vorliegen einer Absprache der
Teilnehmer an den Sitzungen des PWG über die Marktanteile sowie einer Absprache dieser
Unternehmen über die Abstellzeiten rechtlich gelungen ist. Da die Klägerin unstreitig an den Sitzungen
des PWG teilnahm und in den Aussagen von Stora ausdrücklich erwähnt wird, hat die Kommission sie
zumindest ab dem Zeitpunkt, zu dem sie an den Sitzungen des PWG teilzunehmen begann, d. h. ab
1988, zu Recht für eine Teilnahme an diesen beiden Absprachen zur Verantwortung gezogen.
81.
Die Einwände der Klägerin gegen die Aussagen von Stora, mit denen ihr Beweiswert in Abrede
gestellt wird, sind nicht geeignet, diese Feststellung zu entkräften.
82.
Diese Aussagen stammen nämlich unstreitig von einem der Unternehmen, die an der geltend
gemachten Zuwiderhandlung beteiligt gewesen sein sollen, und enthalten eine eingehende
Beschreibung der Art der Erörterungen in den Gremien der PG Karton, des von den ihr angehörenden
Unternehmen verfolgten Zieles sowie der Teilnahme dieser Unternehmen an den Sitzungen ihrer
verschiedenen Gremien. Da dieses zentrale Beweismittel durch andere Aktenstücke bestätigt wird,
stellt es eine stichhaltige Stütze des Vorbringens der Kommission dar.
83.
Da die Kommission das Vorliegen der beiden fraglichen Absprachen nachgewiesen hat, brauchen
die übrigen Einwände der Klägerin gegen die Anlagen 102 und 115 der Mitteilung der
Beschwerdepunkte nicht geprüft zu werden.
— Zum tatsächlichen Verhalten der Klägerin
84.
Auch dem zweiten Teil des Klagegrundes, wonach das tatsächliche Verhalten der Klägerin nicht den
Behauptungen der Kommission zum Vorliegen der beiden streitigen Absprachen entspreche, kann
nicht gefolgt werden.
85.
Erstens darf die Existenz von Absprachen der Mitglieder des PWG über die beiden Aspekte der
„Preis-vor-Menge“-Politik nicht mit der Durchführung dieser Absprachen verwechselt werden. Die von
der Kommission vorgelegten Beweise haben nämlich ein solches Gewicht, daß Informationen über das
tatsächliche Marktverhalten der Klägerin keinen Einfluß auf die Ergebnisse haben können, zudenen
die Kommission hinsichtlich des Vorliegens von Absprachen über die beiden Aspekte der streitigen
Politik gelangt ist. Die Behauptungen der Klägerin könnten allenfalls als Beleg dafür dienen, daß ihr
Verhalten nicht dem entsprach, was die dem PWG angehörenden Unternehmen vereinbart hatten.
86.
Zweitens stehen die Ergebnisse, zu denen die Kommission gelangt ist, nicht im Widerspruch zu den
von der Klägerin erteilten Auskünften. Die Kommission räumt ausdrücklich ein, daß die Absprache über
die Marktanteile „kein formelles System von Strafen oder Kompensationsmaßnahmen, um die in der
Frage der Marktanteile erzielte Einigung durchzusetzen,“ einschloß und daß die Marktanteile einzelner
großer Hersteller von Jahr zu Jahr wuchsen (vgl. insbesondere Randnrn. 59 und 60 der Entscheidung).
Außerdem räumt die Kommission ein, daß die Industrie bis Anfang 1990 mit voller
Kapazitätsauslastung arbeitete, so daß bis dahin praktisch keine Abstellzeiten notwendig wurden
(Randnr. 70 der Entscheidung).
87.
Drittens ist nach ständiger Rechtsprechung die Tatsache, daß sich ein Unternehmen den
Ergebnissen von Sitzungen mit offensichtlich wettbewerbsfeindlichem Gegenstand nicht beugt, nicht
geeignet, es von seiner vollen Verantwortlichkeit für seine Teilnahme am Kartell zu entlasten, wenn es
sich
nicht offen vom Inhalt der Sitzungen distanziert hat (vgl. z. B. Urteil des Gerichts vom 6. April 1995 in
der Rechtssache T-141/89, Tréfileurope/Kommission, Slg. 1995, II-791, Randnr. 85). Selbst wenn man
annimmt, daß das Marktverhalten der Klägerin nicht dem vereinbarten Verhalten entsprach, ändert
dies somit nichts an ihrer Verantwortlichkeit für eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 Absatz 1 des
Vertrages.
88.
Folglich ist der Klagegrund in vollem Umfang zurückzuweisen.
Vorbringen der Parteien
89.
Die Klägerin wendet sich erstens dagegen, daß ihr die Zuwiderhandlung ab Mitte 1986 zur Last
gelegt wird. Sie habe in Wirklichkeit vor Februar/März 1988 keine Zuwiderhandlung begangen.
90.
Die Kommission habe die Einsetzung des PWG und die „Intensivierung der Absprachen“ der
Hersteller als wesentliche Ereignisse für den Beginn des Verstoßes angesehen (Randnr. 161 der
Entscheidung). Der Klägerin sei jedoch nicht bekannt, ob der PWG schon 1986 gebildet worden sei.
Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, sei die Schaffung dieses Gremiums den darin nicht
vertretenen Mitgliedern der PG Karton verborgen geblieben. Im übrigen gebe es für die von der
Kommission behauptete „Intensivierung der Absprachen“ ab Mitte 1986 keinen Beleg.
91.
Ihre Teilnahme an Sitzungen der Gremien der PG Karton habe sich bis Februar/März 1988 auf eine
Sitzung der PK beschränkt. Die Teilnahme an dieser Sitzung könne jedoch nicht die Auffassung der
Kommission rechtfertigen, daß sie seit Juni 1986 an dem angeblichen Verstoß mitgewirkt habe. Die
Praxis, daß der Vorsitzende des PWG über die wesentlichen Ergebnisse in der PK berichtet habe, habe
erst Ende 1988/Anfang 1989 eingesetzt. Die einem Vertreter ihrer Firma zugeschriebene Aussage auf
einer „FIDES-Sitzung“ von 1986, daß eine Erhöhung um 9 % für das Vereinigte Königreich zu hoch sei,
so daß man sich auf 7 % einstelle (vgl. Randnummer 41 der Entscheidung), könne nicht auf einer
Sitzung der PK gemacht worden sein. Ihr Vertreter auf der Sitzung der PK vom 10. November 1986
könne sich an eine derartige Äußerung nicht erinnern. Sie könne allenfalls am Rande einer Sitzung
gefallen sein.
92.
Sie habe an einer etwaigen Preisabsprache vor der Abstimmung der Preiserhöhung im Frühjahr
1988 nicht teilgenommen. Insbesondere habe sie, wie die Kommission im übrigen nicht bestreite, an
der Preiserhöhung im Vereinigten Königreich im Januar 1987, die von der Kommission als Ergebnis
einer Abstimmung unter den Herstellern angesehen worden sei, nicht teilgenommen.
93.
Zweitens sei die Kommission, wie sich aus Randnummer 164 der Entscheidung ergebe, fälschlich
von einer Fortdauer der Zuwiderhandlung bis Juni 1991 ausgegangen. Nach den Nachprüfungen, die
die Kommission im April 1991 vorgenommen habe, hätten jedoch keine wettbewerbswidrigen
Gespräche stattgefunden.
94.
Die Kommission trägt vor, sie sei zu Recht davon ausgegangen, daß die Zuwiderhandlung im Fall
der Klägerin von Mitte 1986 bis mindestens April 1991 gedauert habe.
95.
Die Klägerin habe seit Februar 1986 der PG Karton angehört und regelmäßig an Sitzungen der PK
teilgenommen. Sie habe daher von den kartellrechtswidrigen Absprachen der Kartonhersteller über
gemeinschaftliche und einheitliche Preiserhöhungen gewußt, denn es sei u. a. Aufgabe der PK
gewesen, die Direktoren über die im PWG gefaßten Beschlüsse und die ihren Vertriebsabteilungen zur
Durchführung der Preisinitiativen zu erteilenden Anweisungen zu unterrichten. Die Unterrichtung sei in
der Regel durch den Vorsitzenden der PK erfolgt, der zugleich Vorsitzender des PWG gewesen sei.
96.
Daß sich die Klägerin angeblich nicht an der Initiative zur Erhöhung der Preise im Vereinigten
Königreich im Jahr 1987 beteiligt habe, spiele keine Rolle. Ihre fortgesetzte Teilnahme an den
Sitzungen der PK reiche nämlich aus, um sie als Kartellmitglied einzustufen und ihr die
Zuwiderhandlung zuzurechnen, denn sie habe bei der Planung ihres eigenen Marktverhaltens
notwendigerweise ihr Wissen von den bevorstehenden Preiserhöhungen ihrer Konkurrenten
berücksichtigt.
97.
In bezug auf das Ende der Zuwiderhandlung habe die Kommission nie behauptet, daß die Klägerin
nach April 1991 an einer Zuwiderhandlung teilgenommen habe.
Würdigung durch das Gericht
98.
Gemäß Artikel 1 der Entscheidung hat die Klägerin von Mitte 1986 bis mindestens April 1991 gegen
Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages verstoßen.
99.
In bezug auf den Beginn der Zuwiderhandlung wird in Randnummer 161 der Entscheidung
ausgeführt, daß die meisten Adressaten der Entscheidung ab Juni 1986 an der Zuwiderhandlung
teilgenommen hätten, d. h. ab dem Zeitpunkt, zu dem „der PWG eingesetzt wurde und die Absprachen
zwischen den Herstellern sich intensivierten und wirksamer zu werden begannen“. Ferner heißt es in
Randnummer 74 Absatz 1 der Entscheidung, daß die erste abgestimmte Preisinitiative Ende 1986 im
Vereinigten Königreich stattfand, „[w]ährend der neue Mechanismus der PG Karton noch nicht voll
funktionierte“. Nach Ansicht der Kommission „ist daher zweifelsfrei erwiesen, daß die Kartonhersteller
bereits spätestens Mitte 1986 an einer Form von Absprache beteiligt waren, die als eine aufeinander
abgestimmte Verhaltensweise ... bezeichnet werden kann“ (Randnr. 132 Absatz 3 der Entscheidung).
100.
Da die Klägerin einräumt, an einer Abstimmung der Preiserhöhung im März/April 1988 teilgenommen
zu haben, hat sie zumindest ab diesem Zeitpunkt an einer Preisabsprache mitgewirkt.
101.
Was die Zeit von Mitte 1986 bis März 1988 anbelangt, so beweist die Mitte 1986 erfolgte Einsetzung
des PWG als solche nicht, daß sich die Klägerin ab diesem Zeitpunkt an einer Zuwiderhandlung gegen
die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft beteiligte. Die Kommission beruft sich im übrigen auf kein
Beweismittel, aus dem hervorginge, daß die Klägerin Mitte 1986 von der Schaffung dieses Gremiums
oder gar vom wettbewerbswidrigen Zweck seiner Sitzungen wußte.
102.
Somit ist zu prüfen, ob die Tatsache, daß die Klägerin an einigen Sitzungen der PK teilnahm, und
zwar an den Sitzungen vom 29. Mai 1986, vom 10. November 1986 und vom 4. Dezember 1987 (Tabelle
3 im Anhang der Entscheidung), ein Beleg für ihre Beteiligung an einer Zuwiderhandlung gegen Artikel
85 Absatz 1 des Vertrages vor März 1988 ist.
103.
Die Klägerin stellt die Beweiskraft von Anlage 61 der Mitteilung der Beschwerdepunkte sowie die
Behauptung der Kommission in Abrede, daß die Teilnehmer an den Sitzungen der PK vor Ende 1988
über die vom PWG getroffenen Entscheidungen informiert worden seien.
104.
Bei Anlage 61 der Mitteilung der Beschwerdepunkte, einer beim Verkaufsagenten von Mayr-Melnhof
im Vereinigten Königreich gefundenen Notiz, handelt es sich nach Ansicht der Kommission um eine
„interne Notiz über eine Präsidentenkonferenz“, die eine „Bestätigung für die Aussage von Stora, daß
in der Präsidentenkonferenz tatsächlich über Preisabsprachen geredet wurde, liefert“ (Randnrn. 41
Absatz 3 und 75 Absatz 2 der Entscheidung).
105.
Dieses Schriftstück, das sich auf eine Sitzung in Wien am 12. und 13. Dezember 1986 bezieht,
enthält folgende Angaben:
„Preisfestsetzung VK
An der letzten FIDES-Sitzung nahm der Vertreter von Weig teil, der erklärte, daß sie 9 % für das VK für
zu hoch halten und sich mit 7 % zufriedengeben!! Große Enttäuschung, da dies eine
.Verhandlungsmarge' für alle anderen signalisiert. Die Preispolitik im VK bleibt RHU mit Unterstützung
durch [Mayr-Melnhof] überlassen, selbst wenn dies eine Verringerung der Tonnage
bedeutet, während wir versuchen (und dies auch deutlich machen), auf 9 % zu kommen. [Mayr-
Melnhof/FS] behalten eine Wachstumspolitik im VK bei, aber der Rückgang der Erträge ist ernst, und
wir müssen kämpfen, um die Kontrolle über die Preisfestsetzung zurückzugewinnen. [Mayr-Melnhof]
räumt ein, daß es nicht
hilfreich ist, daß sie bekanntermaßen ihre Tonnage in Deutschland um 6 000 erhöht haben!“
106.
Bei der „FIDES-Sitzung“, auf die am Anfang des Zitats Bezug genommen wird, handelt es sich nach
Angaben von Mayr-Melnhof (Antwort auf ein Auskunftsverlangen, Anlage 62 der Mitteilung der
Beschwerdepunkte) wahrscheinlich um das Treffen der PK am 10. November 1986.
107.
Das analysierte Schriftstück zeigt, daß der Vertreter der Klägerin mit Angaben über ihre künftige
Preispolitik im Vereinigten Königreich auf das ursprüngliche Ausmaß einer Preiserhöhung reagierte.
108.
Es kann jedoch nicht als Beweis dafür angesehen werden, daß die Klägerin auf ein bestimmtes
Ausmaß einer Preiserhöhung reagierte, das zwischen den der PG Karton angehörenden Unternehmen
vor dem 10. November 1986 vereinbart worden war.
109.
Die Kommission beruft sich nämlich insoweit auf kein anderes Beweismittel. Außerdem kann die
Bezugnahme der Klägerin auf eine Preiserhöhung um „9 %“ damit zu erklären sein, daß Thames Board
Ltd am 5. November 1986 eine Preiserhöhung im Vereinigten Königreich ankündigte (Anlage A-12-1).
Diese Ankündigung wurde innerhalb kurzer Zeit publik gemacht, wie aus einem Pressebericht
hervorgeht (Anlage A-12-3). Schließlich hat die Kommission kein anderes Schriftstück vorgelegt, das
einen unmittelbaren Beweis dafür darstellen könnte, daß die Preiserhöhungen auf Sitzungen der PK
erörtert wurden. Unter diesen Umständen ist nicht auszuschließen, daß die in Anlage 61 der
Mitteilung der Beschwerdepunkte wiedergegebenen Äußerungen der Klägerin am Rand der Sitzung
der PK vom 10. November 1986 fielen, wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung wiederholt
geltend gemacht hat.
110.
Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei der aufeinander abgestimmten
Verhaltensweise um eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen, die zwar noch nicht bis zum
Abschluß eines Vertrages im eigentlichen Sinn gediehen ist, jedoch bewußt eine praktische
Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten läßt. Die Kriterien der
Koordinierung und der Zusammenarbeit, die es ermöglichen, diesen Begriff näher zu bestimmen, sind
im Licht des Grundgedankens der Wettbewerbsvorschriften des Vertrages zu verstehen, daß jeder
Wirtschaftsteilnehmer autonom zu bestimmen hat, welche Politik er auf dem Markt zu betreiben
gedenkt (Urteil des Gerichtshofes vom 31. März 1993 in den Rechtssachen C-89/85, C-104/85, C-
114/85, C-116/85, C-117/85 und C-125/85 bis C-129/85, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Slg.
1993, I-1307). Folglich ist die Tatsache, daß ein Unternehmen einseitig seine künftigen Marktpreise
bekanntgibt, kein hinreichender Beweis für das Vorliegen eines Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1
des Vertrages, sofern nicht feststeht, daß diese Bekanntgabe im Rahmen einer Zusammenarbeit
zwischen Unternehmen erfolgt.
111.
Im Zusammenhang mit der Frage, ob die Erklärung des Vertreters der Klägerin, von der in Anlage
61 der Mitteilung der Beschwerdepunkte die Rede ist, im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen
Unternehmen abgegeben wurde, sind die übrigen von der Kommission zur Stützung ihres Vorbringens,
daß es im Januar 1987 eine Preisabsprache im Vereinigten Königreich gegeben habe, angeführten
Beweismittel zu prüfen.
112.
Insoweit bestätigt die von der Kommission in der Entscheidung (Randnr. 74 Absatz 3)
herangezogene Niederschrift einer Vorstandssitzung von Feldmühle (UK) Ltdam 7. November 1986
(Anlage A-17-2) lediglich, daß dieser britischen Tochtergesellschaft von Feldmühle die Ankündigung
einer Preiserhöhung um etwa 9 % durch Thames Board Ltd vor dem 10. November 1986 bekannt war:
„TBM and the Fins have announced price increases of approximately 9 % to be effective from February
1987 and it would appear that most other mills will be looking for the same sort of increase“ [„TBM
und die Finnen haben Preiserhöhungen von annähernd 9 % für Februar 1987 angekündigt. Die
meisten anderen Werke erwägen offensichtlich eine Preisanhebung im gleichen Umfang.“] (Anlage A-
17-2, zitiert von der Kommission in Randnr. 74 der Entscheidung).
113.
In bezug auf Anlage 44 der Mitteilung der Beschwerdepunkte, eine handschriftliche Eintragung im
Terminkalender eines Angestellten von Feldmühle auf den Seiten für den 15. bis 17. Januar 1987,
vertritt die Kommission die Auffassung, daß sie einen „weiteren Beweis für eine Absprache“ darstelle
(Randnr. 75 Absatz 3 der Begründungserwägungen der Entscheidung).
114.
Diese Eintragung hat jedoch nicht den ihr von der Kommission beigemessenen Beweiswert. Aus ihr
geht nicht hervor, welche Sitzung darin protokolliert wird, so daß nicht auszuschließen ist, daß es sich
um eine interne Sitzung des Unternehmens Feldmühle handelte. Da die Eintragung vermutlich Mitte
Januar 1987 vorgenommen wurde, beweist sie außerdem nicht, daß die Durchsetzung der
Preiserhöhung, „incl. TBM“, das Ergebnis einer Abstimmung war, da diese Angabe eine bloße
Feststellung sein kann.
115.
Einige Angaben in der Eintragung sprechen sogar gegen die Behauptung der Kommission, daß
diese Eintragung das Vorliegen einer Absprache über die Entscheidung belege, die Preise im
Vereinigten Königreich anzuheben. Insbesondere kann die Bemerkung, daß der Direktor von
Feldmühle „Skepsis“ gegenüber Kopparfors gezeigt und Mayr-Melnhof beschuldigt habe, „ohne
Verantwortung“ zu handeln, nicht als Stütze für die These der Kommission angesehen werden.
Gleiches gilt für die Bemerkung: „Finnboard: Preisautonomie auch f. Tako“.
116.
Im übrigen waren nach den Angaben in der Tabelle A im Anhang der Entscheidung — die
Informationen über die angebliche abgestimmte Initiative zur Erhöhung der Preise im Vereinigten
Königreich im Januar 1987 enthält — weder
Höhe noch Zeitpunkt der Ankündigung und Durchführung der Preiserhöhungen so einheitlich, daß
diese Angaben als beweiskräftiger Anhaltspunkt für das Vorliegen einer Preisabsprache angesehen
werden könnten. Die Kommission hat im übrigen in der Verhandlung eingeräumt, daß sie keinen
unmittelbaren Beweis dafür habe, daß die Klägerin ihre Preise im Vereinigten Königreich Anfang 1987
erhöht habe.
117.
Nach alledem hat die Kommission nicht nachgewiesen, daß sich die Unternehmen über die
Erhöhung der Preise im Vereinigten Königreich im Januar 1987 verständigt haben, und erst recht
nicht, daß die Klägerin an Erörterungen dieser Frage beteiligt war.
118.
Schließlich ist die Behauptung der Kommission zurückzuweisen, daß die Klägerin zwangsläufig von
den kartellrechtswidrigen Absprachen der Kartonhersteller gewußt habe, da es u. a. Aufgabe der PK
gewesen sei, die Direktoren über die im PWG gefaßten Beschlüsse und die ihren Vertriebsabteilungen
zur Durchführung der Preisinitiativen zu erteilenden Anweisungen zu unterrichten. Ohne daß geprüft zu
werden braucht, ob bewiesen ist, daß die Teilnehmer an den Sitzungen der PK ab Anfang 1988 über
die vom PWG gefaßten Beschlüsse informiert wurden, ist festzustellen, daß die Kommission mit
Ausnahme der Mitteilung über die Preiserhöhung im Vereinigten Königreich im Januar 1987 keine
konkrete Information angeführt hat, die den Teilnehmern an den Sitzungen der PK vor Beginn des
Jahres 1988 übermittelt worden sein soll. Folglich ist davon auszugehen, daß die Preisabsprache, an
der die Klägerin eine Beteiligung zugegeben hat, im März 1988 begann.
119.
In bezug auf den Beginn der Absprache über die Marktanteile und der Absprache über die
Abstellzeiten führt die Kommission in der Entscheidung aus: „Schriftstücke, die die Kommission bei FS-
Karton (zur M-M-Gruppe gehörend) vorfand, bestätigen, daß Ende 1987 im Rahmen der beiden
Präsidentengremien eine Vereinbarung über die beiden miteinander verbundenen Fragen der
Mengenkontrolle und der Preisdisziplin gefunden worden war“ (Randnr. 53 Absatz 1). Sie nimmt
insoweit auf Anlage 73 der Mitteilung der Beschwerdepunkte Bezug (siehe oben, Randnr. 63). Der
Verfasser des Schriftstücks verweist einleitend auf die engere Zusammenarbeit auf europäischer
Ebene im „Präsidentenkreis“, wobei dieser Ausdruck von Mayr-Melnhof als gemeinsame Bezeichnung
für PWG und PK in allgemeinem Zusammenhang, d. h. ohne Bezugnahme auf ein bestimmtes Ereignis
oder Treffen, ausgelegt wird (Anlage 75 der Mitteilung der Beschwerdepunkte, Punkt 2.a).
120.
Anlage 73 der Mitteilung der Beschwerdepunkte stellt zwar einen Beweis für die Richtigkeit der
Aussagen von Stora zum Vorliegen einer Absprache der zum „Präsidentenkreis“ gehörenden
Unternehmen über die Marktanteile und einer Absprache dieser Unternehmen über die Abstellzeiten
dar (siehe oben, Randnrn. 51 ff.). Es gibt jedoch kein weiteres Beweismittel, das die Behauptung der
Kommission bestätigt, wonach in der PK u. a. die Absprache über die Marktanteile
und die Kontrolle der Produktionsmengen erörtert worden seien. Somit kann das in Anlage 73 der
Mitteilung der Beschwerdepunkte verwendete Wort „Präsidentenkreis“ trotz der Erläuterungen von
Mayr-Melnhof nicht als Bezugnahme auf andere Gremien als den PWG ausgelegt werden.
121.
Folglich ist auch die Beteiligung der Klägerin an einer Absprache über die Marktanteile und einer
Absprache über die Abstellzeiten erst ab März 1988, als sie erstmals an einer Sitzung des PWG
teilnahm (siehe unten, Randnr. 261), als erwiesen anzusehen.
122.
In bezug auf das Ende der Zuwiderhandlung geht aus Artikel 1 der Entscheidung hervor, daß die
Zuwiderhandlung, an der die Klägerin mitwirkte, nach Ansicht der Kommission im April 1991 endete.
Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ergibt sich aus Randnummer 164 der Entscheidung nicht, daß
die Kommission von einer Fortdauer der Zuwiderhandlung bis Juni 1991 ausging.
123.
Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist Artikel 1 der Entscheidung insofern für nichtig zu
erklären, als darin festgestellt wird, daß sich die Klägerin vor März 1988 an einer Zuwiderhandlung
gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages beteiligt habe. Im übrigen ist der Klagegrund zurückzuweisen.
Vorbringen der Parteien
124.
Die Klägerin räumt ein, daß es innerhalb der PG Karton abgestimmte Preiserhöhungen der
verschiedenen Hersteller gegeben habe, bestreitet aber, daß insoweit Vereinbarungen getroffen
worden seien.
125.
Die Teilnehmer an den Sitzungen des PWG hätten sich gegenseitig darüber informiert, zu welchem
Zeitpunkt und in welchem Umfang sie die Preise erhöhen würden. In der Regel hätten sich die im PWG
vertretenen Unternehmen gegenseitig über die geplanten Preiserhöhungen informiert, aber nicht
über die Höhe der absoluten Preise gesprochen.
126.
Die Teilnehmer an den Sitzungen des JMC hätten sich im einzelnen darüber ausgetauscht, wann und
in welchem Umfang eine bestimmte Preiserhöhung durchgeführt werde, und hätten die Reihenfolge
für die Ankündigung der Preiserhöhungen festgelegt.
127.
Die Unternehmen hätten sich zwar gegenseitig über die geplanten Preiserhöhungen unterrichtet,
diese aber nicht willkürlich kalkuliert oder nach einem gemeinsamen Plan gleichförmig festgesetzt.
Über die Preiserhöhungen habe nämlich jedes einzelne Unternehmen kosten- und marktorientiert
entschieden, so daß sich eine etwaige Übereinstimmung der Erhöhungen nur aus den
Marktgegebenheiten und
der gleichen Betroffenheit der Unternehmen durch Kostensteigerungen ergeben habe.
128.
Im übrigen seien keine Maßnahmen vorgesehen gewesen, um die Unternehmen zur Befolgung von
Vereinbarungen zu zwingen.
129.
Schließlich beruhten die Behauptungen der Kommission allein auf den Aussagen von Stora. Diese
Aussagen hätten jedoch vor allem deshalb keinen Beweiswert, weil dieses Unternehmen den Umfang
der Zuwiderhandlungen übertrieben habe, um seine Aussage zu untermauern und später ein
geringeres Bußgeld zu erhalten.
130.
Die Kommission trägt vor, es sei als erwiesen anzusehen, daß sich die im PWG vertretenen
Unternehmen in der Weise über geplante Preiserhöhungen verständigt hätten, daß sie verbindliche
Entscheidungen über den Zeitpunkt, die Reihenfolge der Ankündigung durch die einzelnen
Unternehmen und den Umfang der Erhöhungen getroffen hätten (vgl. Randnrn. 72 und 73 der
Entscheidung). Die Mitglieder des Kartells hätten folglich Vereinbarungen über ihr beabsichtigtes
Marktverhalten geschlossen. Unter diesen Umständen sei vom Vorliegen einer Vereinbarung im Sinne
von Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages auszugehen (vgl. Urteil des Gerichts vom 10. März 1992 in der
Rechtssache T-13/89, ICI/Kommission, Slg. 1992, II-1021, Randnr. 253). Dieses Ergebnis werde u. a.
durch die zweite Aussage von Stora (Anlage 39 der Mitteilung der Beschwerdepunkte) bestätigt, die
jedoch nicht das einzige Beweismittel sei, auf das sie sich gestützt habe.
Würdigung durch das Gericht
131.
Die Klägerin räumt ihre Beteiligung an einer Abstimmung der geplanten Preiserhöhungen ein. Im
übrigen ist davon auszugehen, daß diese Beteiligung im März 1988 begann (siehe oben, Randnrn. 98
ff., insbesondere Randnr. 118).
132.
Gemäß der Entscheidung setzten die in ihrem Artikel 1 genannten Unternehmen die „auf jedem
nationalen Markt anzuwendenden regelmäßigen Preiserhöhungen im Wege der Absprache“ fest
(Randnr. 130 Absatz 2, dritter Gedankenstrich). Der Kommission zufolge sind die „halbjährlichen
Preisinitiativen ... nicht als eine Reihe getrennter Vereinbarungen oder getrennter abgestimmter
Verhaltensweisen, sondern als Teil ein und derselben fortdauernden Vereinbarung anzusehen“
(Randnr. 131 Absatz 2 der Entscheidung).
133.
Im vorliegenden Fall ist somit zu prüfen, ob die Preisabsprache, an der die Klägerin ab März 1988
teilnahm, von der Kommission zutreffend als Vereinbarung eingestuft wurde.
134.
Nach ständiger Rechtsprechung liegt eine Vereinbarung im Sinne von Artikel 85 Absatz 1 des
Vertrages schon dann vor, wenn die betreffenden Unternehmen ihren gemeinsamen Willen zum
Ausdruck gebracht haben, sich auf dem Markt in einer
bestimmten Weise zu verhalten (vgl. u. a. Urteile des Gerichtshofes vom 15. Juli 1970 in der
Rechtssache 41/69, ACF Chemiefarma/Kommission, Slg. 1970, 661, Randnr. 112, und vom 29. Oktober
1980 in den Rechtssachen 209/78 bis 215/78 und 218/78, Van Landewyck u. a./Kommission, Slg.
1980, 3125, Randnr. 86, sowie Urteil des Gerichts vom 17. Dezember 1991 in der Rechtssache T-7/89,
Hercules Chemicals/Kommission, Slg. 1991, II-1711, Randnr. 256). Unter diesen Umständen braucht
entgegen der offenbar von der Klägerin vertretenen Ansicht nicht geprüft zu werden, ob Sanktionen
verhängt wurden, um die Unternehmen zu zwingen, sich absprachegemäß zu verhalten.
135.
Somit ist zu prüfen, ob die Kommission nachgewiesen hat, daß die Adressaten der Entscheidung
ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck brachten, auf dem Markt ein bestimmtes Preisverhalten zu
zeigen.
136.
In bezug auf die Preisinitiativen führt Stora u. a. aus (Anlage 39 der Mitteilung der
Beschwerdepunkte, Punkte 27, 28 und 30):
„1987 [war] ein annäherndes Gleichgewicht zwischen Kapazität und Verbrauch eingetreten. In diesem
Jahr lag die Kapazität um 5 % über dem Verbrauch. Diese Diskrepanz (die viel geringer war, als der
Industrie selbst bis dahin bewußt war) gab dem PWG Gelegenheit, ab 1987 Preiserhöhungen zu
vereinbaren und dabei eine gewisse Sicherheit zu haben, daß diese Erhöhungen mit Erfolg
durchgeführt würden. Als sich diese Gelegenheit bot, waren die Hersteller bestrebt, die in den
Vorjahren eingetretenen Verluste wettzumachen.
Der PWG war der Ansicht, daß 1988 eine erste Erhöhung um 10 % durchgeführt werden sollte. Sie
betrug z. B. auf dem französischen Markt 50 FF pro 100 Kilogramm für GC-Sorten und 35 FF pro 100
Kilogramm für GD-Sorten. Ähnliche Erhöhungen erfolgten in anderen Ländern. Bei späteren
Erhöhungen wurden ähnliche absolute Beträge vereinbart, so daß sich der Prozentsatz der
Erhöhungen verringerte ...
...
... Im PWG wurde erörtert und vereinbart, wer die jeweilige Preiserhöhung zuerst ankündigen würde
und wann die Ankündigungen der anderen führenden Hersteller folgen. Der Ablauf war nicht immer
gleich.“
137.
Sie fügt hinzu (Anlage 39 der Mitteilung der Beschwerdepunkte, Punkte 13 und 14):
„[Der] Zweck [des JMC] bestand u. a. darin, Preisvergleiche in bezug auf einige Großkunden
anzustellen und Einzelheiten für die Durchführung der Preisentscheidungen des PWG sowohl für GC-
als auch für GD-Sorten in den einzelnen Ländern auszuarbeiten.
Das JMC erörterte für jeden Markt die genaue Durchführung der Preisentscheidungen des PWG und
erstattete dem PWG Bericht.“
138.
Nach Angaben von Stora brachten die dem PWG und dem JMC angehörenden Unternehmen somit
ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck, auf den einzelnen nationalen Märkten identische und
gleichzeitige Preiserhöhungen vorzunehmen.
139.
Die Aussagen von Stora werden in diesem Punkt durch mehrere schriftliche Beweise gestützt, auf
die sich die Kommission in den Randnummern 74 ff. der Entscheidung berufen hat.
140.
Insoweit genügt es, auf die drei in den Randnummern 79, 80 und 83 der Entscheidung erwähnten
Preislisten hinzuweisen. Die Listen, die die Kommission von Rena (Anlagen 110 und 111 der Mitteilung
der Beschwerdepunkte) und von Finnboard (UK) Ltd erlangte, enthalten für mehrere Kartonsorten und
mehrere Länder der Gemeinschaft Angaben über die genauen Daten und Beträge der von den
fraglichen Unternehmen im April 1989, im September/Oktober 1989 und im April 1990 vorgenommenen
Preiserhöhungen. Die in den drei Preislisten enthaltenen Angaben entsprechen hinsichtlich des
Umfangs der Preiserhöhungen und der Daten ihrer Vornahme dem tatsächlichen Marktverhalten der
betreffenden Unternehmen (vgl. die der Entscheidung beigefügten Tabellen D, E und F).
141.
Außerdem erlangte die Kommission von Rena handschriftliche Notizen über eine Sitzung des JMC
vom 6. September 1990 (Anlage 118 der Mitteilung der Beschwerdepunkte), in denen es u. a. heißt:
„Preiserhöhung wird angekündigt:
Frankreich 40 FF
Niederlande 14
Deutschland 12 DM
Italien 80 LIT
Belgien 2,50 BFR
Schweiz 9 FS
England 40 UKL
Irland 45 IRL
Alle Sorten sollten gleich heraufgesetzt werden: GD, UD, GT, GC usw.
Nur 1 Preiserhöhung pro Jahr.
Für Lieferungen ab 7. Januar.
Nicht später als 31. Januar.
Schreiben vom 14. September mit Preiserhöhung (Mayr-Melnhof).
19. September. Brief von Feldmühle geht raus.
Cascades vor Ende September.
Alle Schreiben müssen vor dem 8. Oktober raus sein.“
142.
Die Klägerin bestreitet weder, daß sich die drei oben erwähnten Preislisten auf eine Preisabsprache
beziehen, noch daß sich Anlage 118 der Mitteilung der Beschwerdepunkte auf die Sitzung des JMC vom
6. September 1990 bezieht.
143.
Ohne daß die übrigen Beweismittel geprüft zu werden brauchen, ist das Gericht deshalb der
Ansicht, daß die Kommission den Beweis dafür erbracht hat, daß die an den Sitzungen des PWG und
des JMC teilnehmenden Unternehmen ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck brachten, einheitliche
und gleichzeitige Preiserhöhungen vorzunehmen. Die Kommission war daher berechtigt, die
Willensübereinstimmung zwischen der Klägerin und anderen Kartonherstellern über die Preisinitiativen
als Vereinbarung einzustufen.
144.
Der vorliegende Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Zum Antrag auf Nichtigerklärung von Artikel 2 der Entscheidung
Vorbringen der Parteien
145.
Dieser Klagegrund besteht aus zwei Teilen.
146.
Mit dem ersten Teil macht die Klägerin geltend, Artikel 2 der Entscheidung sei zu vage und
unbestimmt formuliert. Jeder Informationsaustausch könnte unter das dort aufgestellte Verbot fallen.
Insbesondere bestehe immer ein Risiko, daß die ausgetauschten Informationen zu einer Kooperation
der Unternehmen benutzt werden könnten. Auch das Verbot des künftigen Informationsaustauschs
sei insofern zu vage, als es den Austausch wettbewerbsrelevanter Informationen untersage, denn
jeder Informationsaustausch sei wettbewerbsrelevant.
147.
Mit dem zweiten Teil des Klagegrundes macht sie geltend, in der Entscheidung werde erstmals der
Austausch globaler Informationen über Auftragseingänge und Auftragslage sowie die erwartete
Kapazitätsausnutzung verboten, die keine Rückschlüsse auf das Verhalten einzelner Unternehmen
zuließen. Das Verbot stehe insoweit im Widerspruch zur früheren Praxis der Kommission.
148.
Außerdem sei im Kartonsektor ein möglichst genaues Informationsaustauschsystem unerläßlich,
denn es erlaube den Unternehmen, individuelle betriebswirtschaftliche Entscheidungen, insbesondere
in bezug auf Investitionen, zu treffen.
149.
Die Kommission begründe das umfassende Informationsaustauschverbot damit, daß die Statistiken
in einer gegen Artikel 85 des Vertrages verstoßenden Weise benutzt worden seien. Folglich sei die
Kommission selbst der Ansicht, daß nicht die Statistiken als solche gegen den Vertrag verstießen,
sondern lediglich ihr Gebrauch.
150.
Die Kommission widerspricht in bezug auf den ersten Teil des Klagegrundes der Auffassung, daß
das Verbot des künftigen Informationsaustauschs unbestimmt sei.
Es reiche nämlich aus, wenn sich aus dem Tenor und der Begründung der Entscheidung ergebe,
welches wettbewerbswidrige Verhalten abzustellen sei (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 16. Dezember
1975 in den Rechtssachen 40/73 bis 48/73, 50/73, 54/73, 55/73, 56/73, 111/73, 113/73 und 114/73,
Suiker Unie u. a./Kommission, Slg. 1975, 1663, Randnrn. 122 bis 124). Im vorliegenden Fall enthalte
bereits Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben a, b und c der Entscheidung eine detaillierte Umschreibung der
Art des unzulässigen Informationsaustauschs. Außerdem seien die tatsächlichen Feststellungen zu
den ausgetauschten Informationen in den Randnummern 61 bis 68, 105 und 106 der Entscheidung im
einzelnen dargelegt worden. Ferner enthalte die Entscheidung eine genaue Darstellung der
wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen des Informationsaustauschs (Randnrn. 134 und 166). Die
Tragweite des Verbotes gehe daher aus Artikel 2 der Entscheidung in Verbindung mit ihrer
Begründung klar hervor.
151.
In Artikel 2 Absätze 2 und 3 der Entscheidung habe sie nur die mögliche Gestaltung eines
zulässigen Informationsaustauschs erläutert.
152.
Zum zweiten Teil des Klagegrundes trägt die Kommission vor, sie habe den Austausch globaler
Angaben über Auftragseingänge und Auftragslage sowie die erwartete Kapazitätsausnutzung zu Recht
als unzulässig angesehen.
153.
Das Verbot in Artikel 2 der Entscheidung sei vor dem Hintergrund der Feststellungen in den
Randnummern 68 bis 70 der Entscheidung zu verstehen. Das Verbot des Austauschs
zusammengefaßter Informationen betreffe nur Informationen über Auftragseingänge, Auftragslage
und Kapazitätsauslastungen. Bei der Beurteilung des Austauschs dieser Art von Informationen müsse
die Struktur des fraglichen Marktes berücksichtigt werden, der durch einen hohen Konzentrationsgrad
und eine weitgehende Austauschbarkeit der Erzeugnisse gekennzeichnet sei. Aufgrund der früheren
Zusammenarbeit in der PG Karton seien die Hersteller über die Struktur und Politik der verschiedenen
Unternehmen genau im Bilde.
154.
Auf konzentrierten Märkten bestünden die Wettbewerbsreserven im wesentlichen in der
Ungewißheit und Geheimhaltung zwischen den Hauptanbietern. Der in kurzen Zeitabständen
erfolgende Austausch von Informationen über den Auftragsbestand und die Kapazitätsauslastung
bewirke aber eine so große Markttransparenz, daß die Entfaltung der verbliebenen
Wettbewerbsreserven letztlich verhindert werde. Auf der Grundlage solcher Informationen seien die
Hersteller nämlich in der Lage, branchenweite Produktionsunterbrechungen zu planen, um das
Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage aufrechtzuerhalten und damit einen Preisverfall bei
rückläufiger Nachfrage zu verhindern und bei starker Nachfrage Preiserhöhungen durchzusetzen.
155.
Durch den Austausch solcher Informationen würden folglich Ungewißheit und Geheimhaltung
zwischen Anbietern beseitigt und ein gemeinsames branchenweites
Verhalten gefördert; dies gelte um so mehr, als solche Statistiken tatsächlich zur branchenweiten
Koordinierung des Geschäftsverhaltens eingesetzt worden seien. Der in kurzen Abständen erfolgende
Austausch globalisierter Daten über Auftragsbestand und Kapazitätsauslastung führe bereits zur
Einschränkung des Wettbewerbs. Sie sei daher zu Recht davon ausgegangen, daß der Austausch der
fraglichen Informationen auch in globaler Form gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages verstoße.
Würdigung durch das Gericht
156.
Artikel 2 der Entscheidung lautet:
„Die in Artikel 1 bezeichneten Unternehmen stellen, soweit noch nicht geschehen, den genannten
Verstoß unverzüglich ab. Sie sehen im Zusammenhang mit ihren Tätigkeiten im Kartonbereich künftig
von allen Vereinbarungen oder abgestimmten Verhaltensweisen ab, mit denen gleiches oder
ähnliches bezweckt oder bewirkt wird, einschließlich jedes Austauschs von Geschäftsinformationen,
a) durch den die Teilnehmer mittel- oder unmittelbar Kenntnis von der Produktion, den Verkäufen,
dem Auftragsbestand, der Kapazitätsausnutzung, den Verkaufspreisen, den Kosten oder den
Absatzplänen anderer einzelner Hersteller erlangen, oder
b) durch den auch ohne Offenlegung individueller Informationen eine gemeinsame Reaktion der
Branche auf wirtschaftliche Verhältnisse hinsichtlich der Preise oder der Kontrolle der Produktion
gefördert oder erleichtert wird, oder
c) durch die die Teilnehmer in die Lage versetzt werden könnten, die Erfüllung oder Beachtung
ausdrücklicher oder stillschweigender Vereinbarungen betreffend die Preise oder die Marktaufteilung
in der Gemeinschaft zu überwachen.
Jedes System für den Austausch allgemeiner Informationen (wie das FIDES-System oder dessen
Nachfolgesystem), an dem sie sich beteiligen, ist so zu gestalten, daß es nicht nur alle Informationen,
mit denen sich das Verhalten einzelner Hersteller ermitteln läßt, sondern auch alle Daten über den
gegenwärtigen Stand der Auftragseingänge und der Auftragslage, die erwartete
Kapazitätsausnutzung (in beiden Fällen auch in globaler Form) oder die Produktionskapazität jeder
Maschine ausschließt.
Ein eventueller Informationsaustausch beschränkt sich auf die Beschaffung und Verbreitung von
Produktions- und Verkaufsstatistiken in globaler Form, die nicht dazu benutzt werden können, ein
gemeinsames Geschäftsverhalten zu fördern oder zu erleichtern.
Die Unternehmen nehmen außerdem von jedem Austausch weiterer wettbewerbsrelevanter
Informationen über den zulässigen Informationsaustausch hinaus sowie von allen Treffen oder
sonstigen Kontakten zur Erörterung des Aussagegehalts der ausgetauschten Informationen oder der
möglichen oder wahrscheinlichen Reaktion der Branche oder einzelner Hersteller auf diese
Informationen Abstand.
Für die notwendigen Änderungen an einem etwaigen Informationsaustauschsystem wird eine Frist von
drei Monaten ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Entscheidung eingeräumt.“
157.
Wie sich aus Randnummer 165 der Entscheidung ergibt, wurde Artikel 2 der Entscheidung gemäß
Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 erlassen. Nach dieser Bestimmung kann die Kommission u. a.
dann, wenn sie eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 des Vertrages feststellt, die beteiligten
Unternehmen durch Entscheidung verpflichten, die festgestellte Zuwiderhandlung abzustellen.
158.
Nach ständiger Rechtsprechung kann die Anwendung von Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17
das Verbot umfassen, bestimmte Tätigkeiten, Praktiken oder Sachverhalte fortzuführen oder
fortdauern zu lassen, deren Rechtswidrigkeit festgestellt worden ist (Urteile des Gerichtshofes vom 6.
März 1974 in den Rechtssachen 6/73 und 7/73, Istituto Chemioterapico Italiano und Commercial
Solvents/Kommission, Slg. 1974, 223, Randnr. 45, und vom 6. April 1995 in den Rechtssachen C-
241/91 P und C-242/91 P, RTE und ITP/Kommission, Slg. 1995, I-743, Randnr. 90), aber auch das
Verbot, sich künftig ähnlich zu verhalten (Urteil des Gerichts vom 6. Oktober 1994 in der Rechtssache
T-83/91, Tetra Pak/Kommission, Slg. 1994, II-755, Randnr. 220).
159.
Da die Anwendung von Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 der festgestellten
Zuwiderhandlung angepaßt sein muß, ist die Kommission außerdem befugt, den Umfang der
Verpflichtungen anzugeben, die die betroffenen Unternehmen erfüllen müssen, damit die
Zuwiderhandlung abgestellt wird. Derartige den Unternehmen auferlegte Verpflichtungen dürfen
jedoch nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung des angestrebten Zieles —
Wiederherstellung der Legalität im Hinblick auf die verletzten Vorschriften — angemessen und
erforderlich ist (Urteil RTE und ITP/Kommission, Randnr. 93; in diesem Sinne auch Urteile des Gerichts
vom 8. Juni 1995 in den Rechtssachen T-7/93, Langnese Iglo/Kommission, Slg. 1995, II-1533, Randnr.
209, und T-9/93, Schöller/Kommission, Slg. 1995, II-1611, Randnr. 163).
160.
Um im vorliegenden Fall festzustellen, ob die Anordnung in Artikel 2 derEntscheidung — wie die
Klägerin behauptet — zu weit geht, ist der Umfang der verschiedenen Verbote zu prüfen, die den
Unternehmen damit auferlegt werden.
161.
Das Verbot in Artikel 2 Absatz 1 Satz 2, wonach die Unternehmen künftig von allen Vereinbarungen
oder abgestimmten Verhaltensweisen absehen müssen, mit denen gleiches oder ähnliches wie mit
den in Artikel 1 der Entscheidung festgestellten Zuwiderhandlungen bezweckt oder bewirkt wird, soll
die Unternehmen nur daran hindern, die Verhaltensweisen zu wiederholen, deren Rechtswidrigkeit
festgestellt wurde. Folglich hat die Kommission mit der Aufstellung dieses Verbotes die ihr durch
Artikel 3 der Verordnung Nr. 17 verliehenen Befugnisse nicht überschritten.
162.
Die Bestimmungen von Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben a, b und c betreffen Einzelheiten zum Verbot
des künftigen Austauschs von Geschäftsinformationen.
163.
Die Anordnung in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a, der für die Zukunft jeden Austausch von
Geschäftsinformationen verbietet, der es den Teilnehmern ermöglicht, unmittelbar oder mittelbar
individuelle Informationen über die Konkurrenzunternehmen zu erlangen, setzt voraus, daß die
Kommission in der Entscheidung die Rechtswidrigkeit eines derartigen Informationsaustauschs im
Hinblick auf Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages festgestellt hat.
164.
In Artikel 1 der Entscheidung heißt es nicht, daß der Austausch individueller
Geschäftsinformationen als solcher gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages verstößt.
165.
Dort wird in allgemeinerer Form ausgeführt, daß die Unternehmen gegen diesen Artikel des
Vertrages verstoßen hätten, indem sie sich an einer Vereinbarung und abgestimmten
Verhaltensweise beteiligt hätten, durch die sie u. a. „als Absicherung der vorgenannten Maßnahmen
Geschäftsinformationen (über Lieferungen, Preise, Abstellzeiten, Auftragsbestände und
Kapazitätsauslastung) austauschten“.
166.
Da der verfügende Teil der Entscheidung im Licht ihrer Gründe auszulegen ist (Urteil Suiker Unie u.
a./Kommission, Randnr. 122), ist jedoch darauf hinzuweisen, daß es in Randnummer 134 Absatz 2 der
Entscheidung heißt:
„Der von den Herstellern in Sitzungen der PG Karton (vor allem des JMC) praktizierte Austausch von
normalerweise vertraulichen und sensitiven individuellen Informationen über Auftragslage,
Abstellzeiten und Produktionshöhe war offenkundig wettbewerbsfeindlich, da mit ihm bezweckt wurde,
möglichst günstige Voraussetzungen für die Durchführung der vereinbarten Preisinitiativen zu
schaffen.“
167.
Da die Kommission somit in der Entscheidung ordnungsgemäß ihre Ansicht geäußert hat, daß im
Austausch individueller Geschäftsinformationen als solchem ein Verstoß gegen Artikel 85 Absatz 1 des
Vertrages zu sehen sei, erfüllt das Verbot, künftig einen derartigen Informationsaustausch
vorzunehmen, die
Voraussetzungen für die Anwendung von Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17.
168.
Die in Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben b und c der Entscheidung aufgestellten Verbote des
Austauschs von Geschäftsinformationen sind im Licht der Absätze 2, 3 und 4 dieses Artikels zu prüfen,
die ihren Inhalt näher ausgestalten. In diesem Kontext ist zu ermitteln, ob und, wenn ja, inwieweit die
Kommission den fraglichen Austausch als rechtswidrig angesehen hat, da der Umfang der den
Unternehmen auferlegten Verpflichtungen auf das zur Wiederherstellung der Rechtmäßigkeit ihres
Verhaltens im Hinblick auf Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages erforderliche Maß zu beschränken ist.
169.
Die Entscheidung ist dahin auszulegen, daß die Kommission den Verstoß des FIDES-Systems gegen
Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages darin sah, daß es das festgestellte Kartell stützte (Randnr. 134
Absatz 3 der Entscheidung). Diese Auslegung wird durch den Wortlaut von Artikel 1 der Entscheidung
bestätigt, aus dem hervorgeht, daß die Geschäftsinformationen zwischen den Unternehmen „als
Absicherung“ der als Verstoß gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages angesehenen Maßnahmen
ausgetauscht wurden.
170.
Im Licht dieser Auffassung der Kommission zur Frage der Vereinbarkeit des FIDES-Systems mit
Artikel 85 des Vertrages im vorliegenden Fall ist die Tragweite der in die Zukunft gerichteten Verbote
in Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben b und c der Entscheidung zu beurteilen.
171.
Die fraglichen Verbote beschränken sich zum einen nicht auf den Austausch individueller
Geschäftsinformationen, sondern betreffen auch den Austausch bestimmter globaler statistischer
Daten (Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b und Absatz 2 der Entscheidung). Zum anderen verbietet Artikel
2 Absatz 1 Buchstaben b und c der Entscheidung den Austausch bestimmter statistischer
Informationen, um dem Aufbau einer möglichen Stütze potentieller wettbewerbswidriger
Verhaltensweisen vorzubeugen.
172.
Da ein solches Verbot den Austausch rein statistischer Informationen, die nicht den Charakter
individueller oder individualisierbarer Informationen haben, mit der Begründung verhindern soll, daß
die ausgetauschten Informationen zu wettbewerbswidrigen Zwecken verwendet werden könnten,
überschreitet es das zur Wiederherstellung der Rechtmäßigkeit der festgestellten Verhaltensweisen
erforderliche Maß. Zum einen geht nämlich aus der Entscheidung nicht hervor, daß die Kommission
den Austausch statistischer Daten als solchen als Verstoß gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages
angesehen hat. Zum anderen führt die bloße Tatsache, daß ein System des Austauschs statistischer
Informationen zu wettbewerbswidrigen Zwecken verwendet werden kann, nicht zu seiner
Unvereinbarkeit mit Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages; vielmehr sind unter derartigen Umständen
seine konkreten wettbewerbswidrigen Auswirkungen zu bestimmen.
173.
Daher ist Artikel 2 Absätze 1 bis 4 der Entscheidung mit Ausnahme folgender Passagen für nichtig
zu erklären:
„Die in Artikel 1 bezeichneten Unternehmen stellen, soweit noch nicht geschehen, den genannten
Verstoß unverzüglich ab. Sie sehen im Zusammenhang mit ihren Tätigkeiten im Kartonbereich künftig
von allen Vereinbarungen oder abgestimmten Verhaltensweisen ab, mit denen gleiches oder
ähnliches bezweckt oder bewirkt wird, einschließlich jedes Austauschs von Geschäftsinformationen,
a) durch den die Teilnehmer mittel- oder unmittelbar Kenntnis von der Produktion, den Verkäufen,
dem Auftragsbestand, der Kapazitätsausnutzung, den Verkaufspreisen, den Kosten oder den
Absatzplänen anderer einzelner Hersteller erlangen.
Jedes System für den Austausch allgemeiner Informationen (wie das FIDES-System oder dessen
Nachfolgesystem), an dem sie sich beteiligen, ist so zu gestalten, daß es alle Informationen, mit
denen sich das Verhalten einzelner Hersteller ermitteln läßt, ausschließt.“
Zum Antrag auf Nichtigerklärung oder Herabsetzung der Geldbuße
Vorbringen der Parteien
174.
Die Klägerin macht geltend, die Entscheidung sei unzureichend begründet, da die Adressaten nicht
prüfen könnten, ob die gegen sie verhängte Geldbuße der Höhe nach gerechtfertigt sei und ob sie in
angemessenem Verhältnis zu den Geldbußen der anderen Unternehmen stehe. Die Entscheidungen
der Kommission müßten in bezug auf jeden Adressaten hinreichend begründet sein (Urteil des
Gerichts vom 28. April 1994 in der Rechtssache T-38/92, AWS Benelux/Kommission, Slg. 1994, II-211).
175.
Diesen Anforderungen werde im vorliegenden Fall nicht genügt. Insbesondere sei die Begründung
nicht so ausführlich und präzise wie in der Entscheidung 86/398/EWG der Kommission vom 23. April
1986 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-Vertrags (IV/31.149 — Polypropylen, ABl. L
230, S. 1; im folgenden: Polypropylen-Entscheidung), da in der vorliegenden Entscheidung nur die
abstrakten Kriterien genannt würden, nach denen die Kommission die Geldbuße der einzelnen
Unternehmen bemessen habe. Darüber hinaus habe die Kommission nicht angegeben, welche dieser
Kriterien sie mit welcher Gewichtung bei der Bemessung der Geldbuße jedes Unternehmens
herangezogen habe.
176.
Auf einer Pressekonferenz am 13. Juli 1994 habe das für die Wettbewerbspolitik zuständige Mitglied
der Kommission zur Bußgeldbemessung erheblich genauere als die in der Entscheidung enthaltenen
Angaben gemacht. Für die Unternehmen sei daher nicht ersichtlich, ob die der Presse genannten
oder die in der Entscheidung enthaltenen Gründe die wahren Gründe seien.
177.
Sie werde in der Entscheidung (Randnr. 170) zu den „Anführern“ des Kartells gezählt, und das
verantwortliche Mitglied der Kommission habe mitgeteilt, daß nur bei den „Anführern“ ein Satz von 9 %
zugrunde gelegt worden sei. Unter diesen Umständen sei für sie nicht erkennbar, ob die gegen sie
festgesetzte Geldbuße 9 % des herangezogenen Referenzumsatzes betrage. Sie wisse ebensowenig,
ob sie — worauf die Erklärung des verantwortlichen Mitglieds der Kommission schließen lasse — den
Nachlaß von einem Drittel erhalten habe. Schließlich habe die Kommission nach der vor der Presse
abgegebenen Erklärung die Dauer der Zuwiderhandlung jedes Unternehmens berücksichtigt, was in
ihrem Fall aus der Entscheidung nicht hervorgehe.
178.
Da sie einerseits zu den „Anführern“ des Kartells gezählt und andererseits als ein Unternehmen
bezeichnet worden sei, das „in der Gestaltung der Politik des Kartells keine so wichtige Rolle wie die
großen Industriekonzerne“ gespielt habe (Randnr. 170 der Entscheidung), wisse sie nicht, nach
welchen Gesichtspunkten die Geldbuße gegen sie verhängt worden sei.
179.
Aufgrund dieser Widersprüche habe sie sich im übrigen nicht sachgerecht verteidigen können.
180.
Die Kommission trägt vor, sie habe die von ihr bei der Bußgeldbemessung angewandten Kriterien
hinreichend individualisiert. Die für die Festsetzung des allgemeinen Bußgeldniveaus maßgeblichen
Gründe und die bei der Bußgeldbemessung gegenüber jedem einzelnen Unternehmen angewandten
Kriterien seien in den Randnummern 168 und 169 der Entscheidung angegeben worden. Diese
Kriterien seien ebenso ausführlich und präzise wie die Kriterien in der Polypropylen-Entscheidung, die
als ausreichend begründet angesehen worden sei (Urteil ICI/Kommission, Randnrn. 353 und 354).
181.
Der Entscheidung lasse sich auch entnehmen, wie sie die in Randnummer 169 aufgeführten
Kriterien bei der Festsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße angewandt habe. Die
Begründung der Bußgeldbemessung sei im Licht der gesamten Entscheidungsbegründung zu sehen
(Urteil ICI/Kommission, Randnr. 355). Die Entscheidung enthalte Ausführungen zu der Rolle, die die
Klägerin im Rahmen des Kartells gespielt habe (Randnr. 170), zur Dauer ihrer Beteiligung am Kartell
(Randnr. 43 und Tabelle 3 der Entscheidung) und zur Form der Berücksichtigung ihrer Kooperation
während des Verfahrens (Randnr. 172). Schließlich gehe aus Randnummer 8 der Entscheidung hervor,
daß die Kommission der Stellung der Klägerin in der Branche als kleinem, aber dennoch bedeutendem
Hersteller Rechnung getragen habe.
Würdigung durch das Gericht
182.
Nach ständiger Rechtsprechung hat die Pflicht zur Begründung von Einzelfallentscheidungen den
Zweck, dem Gemeinschaftsrichter die Überprüfung der Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu
ermöglichen und den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, daß er erkennen kann, ob die
Entscheidung zutreffend begründet oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der ihre Anfechtung
ermöglicht; dabei hängt der Umfang der Begründungspflicht von der Art des fraglichen Rechtsakts
und den Umständen ab, unter denen er erlassen wurde (vgl. u. a. Urteil des Gerichts vom 11.
Dezember 1996 in der Rechtssache T-49/95, Van Megen Sports/Kommission, Slg. 1996, II-1799,
Randnr. 51).
183.
Handelt es sich um eine Entscheidung, mit der wie im vorliegenden Fall gegen mehrere
Unternehmen wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft
Geldbußen festgesetzt werden, so ist bei der Bestimmung des Umfangs der Begründungspflicht
insbesondere zu berücksichtigen, daß die Schwere der Zuwiderhandlungen anhand einer Vielzahl von
Gesichtspunkten zu ermitteln ist, zu denen u. a. die besonderen Umstände der Rechtssache, ihr
Kontext und die Abschreckungswirkung der Geldbußen gehören, ohne daß es eine zwingende oder
abschließende Liste von Kriterien gäbe, die auf jeden Fall berücksichtigt werden müßten (Beschluß
des Gerichtshofes vom 25. März 1996 in der Rechtssache C-137/95 P, SPO u. a./Kommission, Slg.
1996, I-1611, Randnr. 54).
184.
Außerdem verfügt die Kommission bei der Festlegung der Höhe der einzelnen Geldbußen über ein
Ermessen und ist nicht verpflichtet, insoweit eine genaue mathematische Formel anzuwenden (in
diesem Sinne auch Urteil des Gerichts vom 6. April 1995 in der Rechtssache T-150/89,
Martinelli/Kommission, Slg. 1995, II-1165, Randnr. 59).
185.
Die zur Ermittlung des allgemeinen Niveaus der Geldbußen und der Höhe der individuellen
Geldbußen herangezogenen Kriterien finden sich in den Randnummern 168 und 169 der
Entscheidung. Zudem führt die Kommission in bezug auf die individuellen Geldbußen in Randnummer
170 aus, daß die Unternehmen, die an den Sitzungen des PWG teilgenommen hätten, grundsätzlich
als „Anführer“ des Kartells und die übrigen Unternehmen als dessen „gewöhnliche Mitglieder“
angesehen worden seien. Dabei wird die Klägerin nicht zu den „Anführern“ des Kartells gezählt, und in
Randnummer 170 Absatz 3 heißt es: „Obschon Weig von 1988 an Mitglied des PWG war, scheint sie in
der Gestaltung der Politik des Kartells keine so wichtige Rolle wie die großen Industriekonzerne
gespielt zu haben.“ Schließlich weist die Kommission in den Randnummern 171 und 172 darauf hin,
daß die gegen Rena und Stora festgesetzten Geldbußen erheblich niedriger auszufallen hätten, um
deren aktiver Kooperation mit der Kommission Rechnung zu tragen, und daß acht andere
Unternehmen, darunter die Klägerin, ebenfalls in den Genuß einer in geringerem Umfang
herabgesetzten Geldbuße kommen könnten, da sie in ihren Erwiderungen auf die Mitteilung der
Beschwerdepunkte die vorgebrachten Tatsachenbehauptungen der Kommission in der Substanz nicht
bestritten hätten.
186.
In ihren beim Gericht eingereichten Schriftsätzen und in ihrer Antwort auf eine schriftliche Frage des
Gerichts hat die Kommission erläutert, daß die Geldbußen auf der Grundlage des von den einzelnen
Adressaten der Entscheidung auf dem Kartonmarkt der Gemeinschaft im Jahr 1990 erzielten Umsatzes
berechnet worden seien. Gegen die als „Anführer“ des Kartells angesehenen Unternehmen seien
Geldbußen mit einem Basissatz von 9 % und gegen die übrigen Unternehmen Geldbußen mit einem
Basissatz von 7,5 % festgesetzt worden. Im Fall der Klägerin hat die Kommission erläutert, daß sie
einen Satz von 8 % des individuellen Umsatzes angewandt habe, da das Unternehmen zwar „Mitglied
des PWG“ gewesen sei, aber keine so wichtige Rolle wie die übrigen Unternehmen, die an den
Sitzungen dieses Gremiums teilnahmen, gespielt zu haben scheine. Schließlich habe die Kommission
gegebenenfalls dem kooperativen Verhalten bestimmter Unternehmen während des
Verwaltungsverfahrens Rechnung getragen. Bei zwei Unternehmen seien die Geldbußen aus diesem
Grund um zwei Drittel und bei anderen Unternehmen um ein Drittel herabgesetzt worden.
187.
Im übrigen ergibt sich aus einer von der Kommission vorgelegten Tabelle, die Angaben zur
Festlegung der Höhe aller individuellen Geldbußen enthält, daß diese zwar nicht durch streng
mathematische Anwendung allein der oben genannten Zahlen ermittelt wurden, daß diese Zahlen
jedoch bei der Berechnung der Geldbußen systematisch herangezogen wurden.
188.
In der Entscheidung wird aber nicht erläutert, daß die Geldbußen auf der Grundlage des von den
einzelnen Unternehmen auf dem Kartonmarkt der Gemeinschaft im Jahr 1990 erzielten Umsatzes
berechnet wurden. Auch die zur Berechnung der festgesetzten Geldbußen angewandten Basissätze
von 9 % für die als „Anführer“ angesehenen Unternehmen und von 7,5 % für die „gewöhnlichen
Mitglieder“ sind in der Entscheidung nicht zu finden. Gleiches gilt für den Umfang der Herabsetzung
bei Rena und Stora einerseits und bei acht anderen Unternehmen andererseits.
189.
Im vorliegenden Fall ist erstens davon auszugehen, daß die Randnummern 169 bis 172 der
Entscheidung bei einer Auslegung im Licht der in der Entscheidung zu findenden eingehenden
Darstellung der jedem ihrer Adressaten zur Last gelegten Sachverhalte ausreichende und
sachgerechte Angaben zu den Gesichtspunkten enthalten, die bei der Beurteilung der Schwere und
der Dauer der von den einzelnen Unternehmen begangenen Zuwiderhandlung herangezogen wurden
(in diesem Sinne auch Urteil des Gerichts vom 24. Oktober 1991 in der Rechtssache T-2/89,
Petrofina/Kommission, Slg. 1991, II-1087, Randnr. 264). Die Entscheidung enthält insoweit eine
spezielle Begründung zur Beurteilung der Schwere der von der Klägerin begangenen Zuwiderhandlung
(Randnr. 170 Absatz 3), der sich entnehmen läßt, weshalb sie weder den „Anführern“ des Kartells
noch dessen „gewöhnlichen Mitgliedern“ gleichgestellt wurde.
190.
Ebenso enthält Randnummer 168 der Entscheidung, die im Licht der allgemeinen Erwägungen über
die Geldbußen in Randnummer 167 zu sehen ist, ausreichende Angaben zu den Gesichtspunkten, die
bei der Festlegung des allgemeinen Niveaus der Geldbußen herangezogen wurden.
191.
Zweitens würde, wenn die Höhe der jeweiligen Geldbußen wie hier auf der Grundlage der
systematischen Heranziehung einiger ganz bestimmter Daten ermittelt wird, die Angabe all dieser
Faktoren in der Entscheidung den Unternehmen die Beurteilung der Frage erleichtern, ob die
Kommission bei der Festlegung der Höhe der individuellen Geldbuße Fehler begangen hat und ob die
Höhe jeder individuellen Geldbuße in Anbetracht der angewandten allgemeinen Kriterien
gerechtfertigt ist. Im vorliegenden Fall wäre mit der Angabe der fraglichen Faktoren —
Referenzumsatz, Referenzjahr, angewandte Basissätze und Umfang der Herabsetzung der Geldbußen
— in der Entscheidung keine möglicherweise gegen Artikel 214 des Vertrages verstoßende implizite
Preisgabe des genauen Umsatzes der Adressaten der Entscheidung verbunden gewesen. Denn der
Endbetrag der individuellen Geldbußen ergibt sich, wie die Kommission selbst ausgeführt hat, nicht
aus einer streng mathematischen Anwendung dieser Faktoren.
192.
Die Kommission hat im übrigen in der Verhandlung eingeräumt, daß sie in der Entscheidung die
systematisch berücksichtigten und in der Pressekonferenz am 13. Juli 1994, dem Tag ihres Erlasses,
bekanntgegebenen Faktoren durchaus hätte aufzählen können. Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß
die Begründung einer Entscheidung nach ständiger Rechtsprechung in der Entscheidung selbst
enthalten sein muß und daß nachträgliche Erläuterungen der Kommission nur unter
außergewöhnlichen Umständen berücksichtigt werden können (vgl. Urteil des Gerichts vom 2. Juli
1992 in der Rechtssache T-61/89, Dansk Pelsdyravlerforening/Kommission, Slg. 1992, II-1931, Randnr.
131; in diesem Sinne auch Urteil des Gerichts vom 12. Dezember 1991 in der Rechtssache T-30/89,
Hilti/Kommission, Slg. 1991, II-1439, Randnr. 136).
193.
Gleichwohl ist festzustellen, daß die Begründung zur Festlegung der Höhe der Geldbußen in den
Randnummern 167 bis 172 der Entscheidung mindestens ebenso detailliert ist wie die Begründung in
früheren Entscheidungen der Kommission, die ähnliche Zuwiderhandlungen betrafen. Zwar ist der
Klagegrund eines Begründungsmangels von Amts wegen zu berücksichtigen, doch hatte der
Gemeinschaftsrichter zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung noch in keinem Fall die Praxis der
Kommission bei der Begründung der festgesetzten Geldbußen gerügt. Erst im Urteil vom 6. April 1995
in der Rechtssache T-148/89 (Tréfilunion/Kommission, Slg. 1995, II-1063, Randnr. 142) und in zwei
anderen Urteilen vom selben Tag in den Rechtssachen T-147/89 (Société métallurgique de
Normandie/Kommission, Slg. 1995, II-1057, abgekürzte Veröffentlichung) und T-151/89 (Société des
treillis et panneaux soudés/Kommission, Slg. 1995, II-1191, abgekürzte Veröffentlichung) hat es das
Gericht erstmals als wünschenswert bezeichnet, daß die Unternehmen die Berechnungsweise der
gegen sie verhängten
Geldbuße im einzelnen in Erfahrung bringen können, ohne zu diesem Zweck gerichtlich gegen die
Entscheidung der Kommission vorgehen zu müssen.
194.
Folglich muß die Kommission, wenn sie in einer Entscheidung eine Zuwiderhandlung gegen die
Wettbewerbsregeln feststellt und gegen die daran beteiligten Unternehmen Geldbußen verhängt und
wenn sie systematisch bestimmte Grundelemente bei der Festlegung der Höhe der Geldbußen
heranzieht, diese Elemente in der Entscheidung selbst angeben, um es deren Adressaten zu
ermöglichen, die Richtigkeit der Höhe der Geldbuße zu überprüfen und festzustellen, ob eine
Diskriminierung vorliegt.
195.
Unter den zuvor in Randnummer 193 genannten besonderen Umständen und unter
Berücksichtigung der Tatsache, daß die Kommission bereit war, im gerichtlichen Verfahren alle
Auskünfte über den Berechnungsmodus der Geldbußen zu geben, kann das Fehlen einer speziellen
Begründung für den Berechnungsmodus der Geldbußen in der Entscheidung im vorliegenden Fall
nicht als Verstoß gegen die Begründungspflicht angesehen werden, der die völlige oder teilweise
Nichtigerklärung der festgesetzten Geldbußen rechtfertigt. Die Klägerin hat überdies auch nicht
dargelegt, daß sie daran gehindert worden wäre, von ihren Verteidigungsrechten sachgerecht
Gebrauch zu machen.
196.
Der vorliegende Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Vorbringen der Parteien
197.
Die Klägerin trägt vor, bei der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung und der
Bußgeldbemessung seien die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Zuwiderhandlung zu
berücksichtigen (Urteil ICI/Kommission, Randnr. 359). Im vorliegenden Fall hätten sich die
Preisabsprachen aber überhaupt nicht oder allenfalls geringfügig auf den Markt ausgewirkt.
198.
Dies belege erstens der im Zusammenhang mit dem Verfahren vor der Kommission im Auftrag
mehrerer Verfahrensbeteiligter, darunter auch der Klägerin, erstellte Bericht von London Economics
(im folgenden: LE-Bericht).
199.
Der LE-Bericht komme zu folgendem Ergebnis: a) Die im fraglichen Zeitraum eingetretenen
Preisänderungen im Kartonsektor seien durch Änderungen der variablen Kosten und der Nachfrage zu
erklären; b) aufgrund der bei einer repräsentativen Zahl von Kunden durchgeführten Untersuchung
lasse sich keine Änderung des Preisverhaltens nach 1986 feststellen; c) es gebe nur einen sehr losen
Zusammenhang zwischen den angekündigten Preiserhöhungen und den von den Kunden tatsächlich
gezahlten Preisen; d) die von der Industrie im fraglichen Zeitraum erzielten Erlöse hätten nicht
ausgereicht, um langfristig die Investitionskosten in adäquater Weise zu decken.
200.
Die Kommission habe in der Entscheidung nicht einmal versucht, die Ergebnisse des LE-Berichts zu
widerlegen, nach denen sich die Preise auf dem Kartonmarkt im fraglichen Zeitraum nicht anders
entwickelt hätten als ohne jede Absprache über Preiserhöhungen. Folglich habe es an einem
Kausalzusammenhang zwischen den Absprachen über Preiserhöhungsinitiativen und der tatsächlichen
Entwicklung der Verkaufspreise gefehlt.
201.
Zweitens ergebe sich das Fehlen wirtschaftlicher Auswirkungen der Preisabsprachen daraus, daß
die Klägerin die von ihr angekündigten Preiserhöhungen nur in sehr begrenztem Umfang auf dem
Markt habe durchsetzen können. Dies zeige ein Vergleich zwischen der Entwicklung der
Nettoverkaufspreise vor den Erhöhungen und der Entwicklung der angekündigten Preise. Der
durchschnittliche Realisierungsgrad der Preiserhöhungsinitiativen habe für sie in Deutschland 38,8 %
und in Frankreich 36 % betragen.
202.
Die Klägerin nimmt ferner auf eine Übersicht Bezug, in der sie zum einen die Entwicklung ihrer Preise
für GD2-Karton in der Gemeinschaft von 1986 bis 1994 und zum anderen die Entwicklung des
Preisindexes im gleichen Zeitraum darstellt. Sie leitet daraus ab, daß das Preisniveau des ersten
Quartals 1986 später nie wieder erreicht worden sei, da die Preise bis Ende 1987 kontinuierlich
gefallen seien und 1988 nur auf niedrigem Niveau hätten konsolidiert werden können. 1989/90 seien
die Preise zwar wieder nachhaltig gestiegen, aber dies sei nur die Folge der allgemeinen
wirtschaftlichen Entwicklung (der deutschen Wiedervereinigung) gewesen, und mit Beginn der
Rezession im Jahr 1991 seien die Preise erneut gefallen.
203.
Die Entwicklung der Verkaufspreise im Verhältnis zu den angekündigten Preisen belege somit, daß
die angekündigten Preise nur eine geringe Rolle bei der Festsetzung der Preise gegenüber den
einzelnen Kunden spielten und daß durch die gerügten Praktiken, wenn überhaupt, ein wesentlich
geringerer wirtschaftlicher Schaden entstanden sei, als die Kommission behaupte.
204.
Die Kommission führt aus, das Kartell habe sich mit Sicherheit auf den Markt ausgewirkt, da die
vereinbarten Preiserhöhungen als Grundlage für die Preisverhandlungen mit den Kunden gedient
hätten.
205.
Die abgestimmten Preiserhöhungen hätten noch eine weitere Auswirkung auf den Markt gehabt,
denn die Entwicklung der den Kunden in Rechnung gestellten Preise entspreche den von den
Herstellern vereinbarten Preisen. Der LE-Bericht beweise keineswegs, daß sich die unzulässigen
Absprachen nicht auf das Preisniveau ausgewirkt hätten; dies habe der Verfasser des Berichts bei der
Anhörung vor der Kommission bestätigt (Protokoll, S. 28). Darüber hinaus stehe fest, daß die
vereinbarten Preiserhöhungen gegenüber den Kunden zumindest teilweise durchgesetzt worden
seien. Der LE-Bericht habe ferner gezeigt, daß in den Jahren 1988 und 1989 ein linearer
Zusammenhang zwischen den angekündigten und den
tatsächlichen Preisen bestanden habe, da die Nettopreiserhöhungen die Preisankündigungen
nachvollzogen hätten. Mit gewisser zeitlicher Verzögerunghabe die Entwicklung der den Kunden in
Rechnung gestellten Preise folglich mit den vereinbarten Preiserhöhungen übereingestimmt, wie der
Verfasser des LE-Berichts selbst eingeräumt habe (Protokoll der Anhörung, S. 21 und 28).
206.
Der Verfasser des LE-Berichts habe bei der Anhörung (Protokoll, S. 31) ausgeführt, daß eine
rückläufige oder nur langsam steigende Nachfrage in einem Industriezweig wie dem Kartonsektor, der
durch eine unelastische Nachfrage und hohe Kapitalkosten gekennzeichnet sei, häufig zu
zerstörerischen Preiskriegen führen könne. Im vorliegenden Fall sei es jedoch noch nicht einmal zu
dem üblichen gesunden Preiswettbewerb gekommen, obwohl der Gesamtverbrauch in der
Gemeinschaft im fraglichen Zeitraum nur geringfügig gestiegen sei. Die Preiserhöhungen hätten nicht
auf individuellen unternehmerischen Entscheidungen beruht, sondern auf entsprechenden
Vereinbarungen der Hersteller. Folglich sei davon auszugehen, daß sich die Preise trotz
möglicherweise gestiegener Kosten ohne die Preisinitiativen nicht in der gleichen Weise entwickelt
hätten.
207.
Daß die Hersteller insbesondere gegenüber Großkunden bei individuellen Preisverhandlungen
Zugeständnisse hätten machen müssen, habe die Kommission gebührend berücksichtigt (Randnrn.
102 und 115 der Entscheidung). Auch wenn Zugeständnisse gemacht worden seien, sei dies doch auf
der Basis bereits erhöhter Preise geschehen.
208.
Die Angaben der Klägerin zur Entwicklung ihrer Preise in Deutschland und Frankreich stünden zu
den Feststellungen der Kommission nicht im Widerspruch.
209.
Diese Feststellungen stünden auch nicht im Widerspruch zu der Übersicht, in der die Entwicklung
der Kartonpreise der Klägerin in der Gemeinschaft der Entwicklung des Preisindexes
gegenübergestellt werde. Aus dieser Übersicht gehe hervor, daß die Preise der Klägerin zwischen
1988 und 1991 mit Ausnahme eines kurzfristigen Rückgangs Ende 1989/Anfang 1990 ständig
gestiegen seien und sich in diesem Zeitraum um mehr als 20 % erhöht hätten.
210.
Im Ergebnis habe die Kommission die Auswirkungen des Kartells zutreffend gewürdigt. Ihre
Feststellung, daß das Kartell weitgehend erfolgreich gewesen sei (Randnr. 168 der Entscheidung),
beziehe sich nicht nur auf die tatsächlichen Preiserhöhungen, sondern auch auf andere
Gesichtspunkte des Kartells (vgl. u. a. Randnrn. 136 und 137 der Entscheidung). Ihre Einschätzung
entspreche im übrigen der Bewertung durch die Kartellmitglieder selbst, die die
Preiserhöhungsinitiativen zumeist als erfolgreich betrachtet hätten.
Würdigung durch das Gericht
211.
Gemäß Randnummer 168, siebter Gedankenstrich, der Entscheidung hat die Kommission bei der
Festsetzung der Höhe der Geldbußen u. a. berücksichtigt, daß
das Kartell, „was die Erreichung seiner Ziele betrifft, weitgehend erfolgreich“ war. Es ist unstreitig,
daß mit dieser Erwägung auf die Auswirkungen der in Artikel 1 der Entscheidung festgestellten
Zuwiderhandlung auf den Markt Bezug genommen wird.
212.
Zur Überprüfung der von der Kommission vorgenommenen Beurteilung der Auswirkungen der
Zuwiderhandlung braucht nach Ansicht des Gerichts nur die Beurteilung der Auswirkungen der
Preisabsprache — der einzigen Auswirkungen, die die Klägerin bestreitet — untersucht zu werden. Aus
der Entscheidung geht nämlich hervor, daß die Feststellung, wonach die Ziele weitgehend erreicht
worden seien, im wesentlichen auf den Auswirkungen der Preisabsprache beruht (vgl. Randnrn. 100
bis 102, 115 und 135 bis 137).
213.
Bei der Preisabsprache hat die Kommission die allgemeinen Auswirkungen beurteilt. Selbst wenn
die von der Klägerin gemachten individuellen Angaben — wie sie behauptet — zeigen sollten, daß die
Preisabsprache für sie geringere als die auf dem europäischen Kartonmarkt als Ganzem festgestellten
Auswirkungen hatte, würden diese individuellen Gegebenheiten daher als solche nicht ausreichen, um
die Beurteilung der Kommission in Frage zu stellen.
214.
Wie die Kommission in der Verhandlung bestätigt hat, ist der Entscheidung zu entnehmen, daß
zwischen drei Arten von Auswirkungen unterschieden wurde. Außerdem hat sich die Kommission
darauf gestützt, daß die Hersteller selbst die Preisinitiativen im wesentlichen als Erfolg gewertet
hätten.
215.
Die erste von der Kommission berücksichtigte und von der Klägerin nicht in Abrede gestellte Art von
Auswirkungen besteht darin, daß die vereinbarten Preiserhöhungen den Kunden tatsächlich
angekündigt wurden. Die neuen Preise dienten somit als Referenz bei der individuellen Aushandlung
der tatsächlichen Verkaufspreise mit den Kunden (vgl. u. a. Randnrn. 100 und 101 Absätze 5 und 6
der Entscheidung).
216.
Die zweite Art von Auswirkungen besteht darin, daß die Entwicklung der tatsächlichen
Verkaufspreise der Entwicklung der angekündigten Preise folgte. Hierzu führt die Kommission aus, daß
„sich die Hersteller nicht darauf [beschränkten], die vereinbarten Preiserhöhungen anzukündigen,
sondern ... — mit wenigen Ausnahmen — auch alles [taten], um sicherzustellen, daß sie bei den
Kunden durchgesetzt wurden“ (Randnr. 101 Absatz 1 der Entscheidung). Sie räumt ein, daß den
Kunden bisweilen Zugeständnisse hinsichtlich des Termins des Inkrafttretens der Erhöhungen
gemacht oder — vor allem bei Großaufträgen — individuelle Rabatte oder Skonti gewährt worden
seien und daß „die durchschnittliche Netto-Preiserhöhung, die nach allen Nachlässen, Rabatten und
sonstigen Zugeständnissen erzielt wurde, stets geringer [war] als der volle Betrag der angekündigten
Preisanhebung“ (Randnr. 102 letzter Absatz der Entscheidung). Unter Bezugnahme auf Schaubilder im
LE-Bericht macht sie jedoch geltend, in
dem von der Entscheidung erfaßten Zeitraum habe es einen „engen linearen Zusammenhang“
zwischen der Entwicklung der angekündigten Preise und der Entwicklung der tatsächlichen
Verkaufspreise — ausgedrückt in Landeswährung oder umgerechnet in Ecu — gegeben. Sie zieht
daraus folgenden Schluß: „Die erzielten Netto-Preiserhöhungen vollzogen die Preisankündigungen —
wenngleich mit etwas zeitlichem Abstand — nach. Der Verfasser des Berichts räumte bei der
mündlichen Anhörung selbst ein, daß dies für die Jahre 1988 und 1989 zutrifft“ (Randnr. 115 Absatz 3
der Entscheidung).
217.
Bei der Beurteilung dieser zweiten Art von Auswirkungen war die Kommission zweifellos zu der
Annahme berechtigt, daß die Existenz eines linearen Zusammenhangs zwischen der Entwicklung der
angekündigten Preise und der Entwicklung der tatsächlichen Verkaufspreise den Beweis für eine
Auswirkung der Preisinitiativen auf die letztgenannten Preise entsprechend dem von den Herstellern
verfolgten Ziel darstellte. Denn unstreitig hat die Praxis individueller Verhandlungen mit den Kunden
auf dem fraglichen Markt zur Folge, daß die tatsächlichen Verkaufspreise im allgemeinen nicht mit den
angekündigten Preisen übereinstimmen. Es war daher nicht zu erwarten, daß der Anstieg der
tatsächlichen Verkaufspreise mit den Erhöhungen der angekündigten Preise übereinstimmen würde.
218.
Hinsichtlich des Bestehens einer Wechselbeziehung zwischen den angekündigten Preiserhöhungen
und dem Anstieg der tatsächlichen Verkaufspreise hat die Kommission zu Recht auf den LE-Bericht
Bezug genommen, da in diesem die Entwicklung des Kartonpreises in dem von der Entscheidung
erfaßten Zeitraum unter Heranziehung der von mehreren Herstellern gemachten Angaben untersucht
wird.
219.
Dieser Bericht bestätigt jedoch in zeitlicher Hinsicht nur teilweise, daß es einen „engen linearen
Zusammenhang“ gab. Bei der Prüfung des Zeitraums von 1987 bis 1991 ergeben sich nämlich drei
gesonderte Abschnitte. Während der Anhörung vor der Kommission hat der Verfasser des LE-Berichts
seine Schlußfolgerungen hierzu wie folgt zusammengefaßt: „Es gibt keinen engen Zusammenhang,
auch nicht in zeitlichem Abstand, zwischen den angekündigten Preiserhöhungen und den
Marktpreisen zu Beginn des Zeitraums, von 1987 bis 1988. 1988/89 besteht ein solcher
Zusammenhang, und dann löst sich der Zusammenhang auf und verhält sich im Zeitraum 1990/91
recht seltsam []“ (Anhörungsprotokoll, S. 28). Ferner führte er aus, daß diese Veränderungen im
Lauf der Zeit eng mit den Nachfrageschwankungen zusammenhingen (vgl. u. a. Anhörungsprotokoll, S.
20).
220.
Diese mündlichen Schlußfolgerungen des Verfassers stimmen mit der in seinem Bericht
vorgenommenen Analyse und insbesondere mit den Schaubildern überein, in denen die Entwicklung
der angekündigten Preise mit der Entwicklung der tatsächlichen Verkaufspreise verglichen wird (LE-
Bericht, Schaubilder 10 und 11, S. 29). Somit ist festzustellen, daß die Kommission nur teilweise
nachgewiesen hat, daß es den von ihr geltend gemachten „engen linearen Zusammenhang“ gab.
221.
In der Verhandlung hat die Kommission erklärt, daß sie noch eine dritte Art von Auswirkungen der
Preisabsprache berücksichtigt habe, die darin bestehe, daß die tatsächlichen Verkaufspreise stärker
gestiegen seien, als wenn es keinerlei Absprache gegeben hätte. Hierzu hat die Kommission unter
Hinweis darauf, daß Zeitpunkt und Reihenfolge der Ankündigungen von Preiserhöhungen vom PWG
festgelegt worden seien, in der Entscheidung die Ansicht vertreten, es sei „unter solchen Umständen
undenkbar, daß die abgestimmten Preisankündigungen keine Auswirkungen auf das tatsächliche
Preisniveau hatten“ (Randnr. 136 Absatz 3 der Entscheidung). Im LE-Bericht (Abschnitt 3) wurde
jedoch eine Modellrechnung vorgenommen, die die Vorhersage des Preisniveaus ermöglicht, das sich
aus den objektiven Marktbedingungen ergibt. Nach diesem Bericht hätte sich das anhand objektiver
wirtschaftlicher Faktoren in der Zeit von 1975 bis 1991 ermittelte Preisniveau mit unerheblichen
Abweichungen ebenso entwickelt wie das Niveau der tatsächlichen Verkaufspreise; dies gilt auch für
den von der Entscheidung erfaßten Zeitraum.
222.
Trotz dieser Ergebnisse läßt die im Bericht vorgenommene Analyse nicht den Schluß zu, daß die
konzertierten Preisinitiativen es den Herstellern nicht ermöglicht haben, höhere tatsächliche
Verkaufspreise als bei freiem Wettbewerb zu erzielen. Insoweit ist es möglich, wie die Kommission in
der Verhandlung ausgeführt hat, daß die bei dieser Analyse herangezogenen Faktoren durch die
Existenz der Absprache beeinflußt wurden. So hat die Kommission zu Recht geltend gemacht, daß das
abgesprochene Verhalten z. B. den Anreiz für die Unternehmen verringern konnte, ihre Kosten zu
senken. Sie hat jedoch keinen direkten Fehler in der im LE-Bericht enthaltenen Analyse gerügt und
auch keine eigenen wirtschaftlichen Analysen zur hypothetischen Entwicklung der tatsächlichen
Verkaufspreise bei Fehlen jeder Abstimmung vorgelegt. Unter diesen Umständen geht ihre
Behauptung, daß die tatsächlichen Verkaufspreise ohne die Absprache zwischen den Herstellern
niedriger gewesen wären, fehl.
223.
Folglich gibt es für die Existenz dieser dritten Art von Auswirkungen der Preisabsprache keinen
Beweis.
224.
Auf die vorstehenden Feststellungen hat die subjektive Einschätzung der Hersteller keinen Einfluß,
auf die die Kommission ihre Annahme gestützt hat, daß das Kartell, was die Erreichung seiner Ziele
betreffe, weitgehend erfolgreich gewesen sei. Dabei hat die Kommission auf eine von ihr in der
Verhandlung vorgelegte Liste von Schriftstücken Bezug genommen. Selbst wenn man unterstellt, daß
sie ihre Beurteilung des möglichen Erfolges der Preisinitiativen auf Schriftstücke stützen konnte, in
denen die subjektiven Empfindungen einiger Hersteller zum Ausdruck kommen, ist aber festzustellen,
daß mehrere Unternehmen, zu denen auch die Klägerin gehört, in der Verhandlung zu Recht auf
zahlreiche andere Aktenstücke verwiesen haben, in denen von den Problemen die Rede ist, die die
Hersteller bei der Durchführung der vereinbarten Preiserhöhungen hatten. Unter diesen Umständen
reicht die Bezugnahme der Kommission auf Erklärungen der Hersteller
selbst nicht aus, um zu dem Ergebnis zu kommen, daß das Kartell, was die Erreichung seiner Ziele
betrifft, weitgehend erfolgreich war.
225.
In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen sind die von der Kommission geltend gemachten
Auswirkungen der Zuwiderhandlung nur teilweise bewiesen. Das Gericht wird die Tragweite dieses
Ergebnisses im Rahmen seiner Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung von Geldbußen bei der
Beurteilung der Schwere der im vorliegenden Fall festgestellten Zuwiderhandlung prüfen (siehe unten,
Randnr. 246).
Vorbringen der Parteien
226.
Die Klägerin trägt vor, die Tatsache, daß keine Maßnahmen — wirtschaftlicher oder moralischer Art
— vorgesehen gewesen seien, um die Unternehmen zur Befolgung der angekündigten
Preiserhöhungen zu zwingen, müsse zu einer Herabsetzung der Geldbuße führen. Die Behauptung der
Kommission, daß es ein System von Sanktionen gegeben habe, sei falsch und werde nicht durch
Beweise gestützt.
227.
Nach der Aussage von Herrn Roos (der Feldmühle auf Sitzungen des PWG vertreten und die
Aussage auf Ersuchen der Klägerin gemacht habe) vom 22. März 1993 sei sie zwar aufgrund ihres
unkooperativen Verhaltens zur Rede gestellt worden. Dies sei jedoch keine Sanktion. Sie habe ihre
Einstellung nicht geändert, und das Verhalten der Unternehmen habe auf deren freiwilligen
Entscheidungen beruht. Auch in den Aussagen von Stora sei von einem System von Sanktionen keine
Rede.
Würdigung durch das Gericht
228.
Entgegen dem Vorbringen der Klägerin wird in der Entscheidung nicht behauptet, daß ihre
Adressaten ein „System von Sanktionen“ eingeführt hätten, um die Unternehmen zur Einhaltung der
vom Kartell getroffenen Entscheidungen zu zwingen. Die Klägerin gibt im übrigen nicht an, welche in
der Entscheidung enthaltenen Feststellungen der Kommission falsch sein sollen.
229.
Schließlich ist den Randnummern 167 bis 172 der Entscheidung nicht zu entnehmen, daß das
etwaige Vorliegen von Sanktions- oder Zwangsmaßnahmen bei der Bußgeldbemessung berücksichtigt
worden wäre.
230.
Unter diesen Umständen ist der Klagegrund zurückzuweisen.
Vorbringen der Parteien
231.
Die Klägerin weist darauf hin, daß nach den Informationen, die das für die Wettbewerbspolitik
zuständige Mitglied der Kommission auf einer Pressekonferenz am 13. Juli 1994 gegeben habe, die
gegen die angeblichen „Anführer“ des Kartells verhängten Geldbußen von 9 % die maximale oder
nahezu maximale Geldbuße darstellten.
232.
Die vorliegend festgestellte Zuwiderhandlung sei jedoch nicht der verwerflichste Verstoß gegen
Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages. Es habe keine Mengenkontrolle gegeben, über die
Preiserhöhungen seien keine Vereinbarungen getroffen worden, sondern sie hätten sich lediglich aus
einer gegenseitigen Abstimmung der Hersteller ergeben, die Verstöße seien nicht durch ein System
von Sanktionen durchgesetzt worden, und sie hätten allenfalls ganz geringe Auswirkungen auf den
Markt gehabt. Die Geldbuße müsse auch deshalb herabgesetzt werden, weil das
Informationsaustauschsystem der FIDES als Gesichtspunkt angesehen worden sei, der die
Zuwiderhandlung besonders verwerflich mache.
233.
Darüber hinaus habe die Kommission die Schwere der gerügten Zuwiderhandlungen dadurch falsch
beurteilt, daß sie außer acht gelassen habe, daß diese im Rahmen eines Berufsverbands begangen
worden seien, der rechtmäßige Tätigkeiten ausgeübt habe.
234.
Schließlich sei die Kommission zu Unrecht davon ausgegangen, daß die Sitzungen der PG Karton
geheim gewesen seien. Es habe vielmehr Teilnehmerlisten gegeben, und das Fehlen von Protokollen
sei mit dem Inhalt der während der Sitzungen geführten Gespräche zu erklären. Das Fehlen von
Protokollen sei im übrigen ein Wesensmerkmal einer Kooperation, die Gespräche mit zum Teil
wettbewerbswidrigem Inhalt umfasse.
235.
Somit sei der im vorliegenden Fall festgestellte Verstoß bei weitem nicht so schwerwiegend wie die
Kartelle, die die Kommission bereits aufgedeckt habe (vgl. u. a. die Polypropylen-Entscheidung).
236.
Die Kommission vertritt die Ansicht, daß die Schwere der Zuwiderhandlung die Höhe der verhängten
Geldbußen voll und ganz rechtfertige. Sie weist darauf hin, daß das in Rede stehende Kartell nicht nur
Preis- und Marktaufteilungsabsprachen umfaßt habe, sondern auch Maßnahmen zur Kontrolle des
Kartonangebots und Maßnahmen, die die Durchführung der Preisinitiativen gefördert und die
natürliche Preisentwicklung verhindert hätten. Die Rechtswidrigkeit dieser Handlungen sei
offenkundig, da Preisvereinbarungen und Marktaufteilungsabsprachen in Artikel 85 des Vertrages
ausdrücklich untersagt würden.
237.
Das Vorbringen der Klägerin, daß die PG Karton in erster Linie normale Verbandsaufgaben
wahrgenommen habe, sei weder glaubhaft noch substantiiert. Ferner spiele es keine Rolle, daß die PG
Karton möglicherweise auch rechtmäßige Ziele verfolgt habe.
238.
Ein weiterer Umstand, der bei der Bewertung der Schwere des Verstoßes ins Gewicht falle, sei die
Geheimhaltungspraxis des Kartells. Das Fehlen von Aufzeichnungen sei zwar ein typisches
Wesensmerkmal von verbotenen Absprachen, aber die Maßnahmen der PG Karton seien weit über das
übliche Maß an Geheimhaltung hinausgegangen. Zum einen seien die Mitglieder ausdrücklich
angewiesen worden, keine Notizen anzufertigen, wie der Geschäftsführer von Gruber & Weber bei der
Anhörung eingeräumt habe (Protokoll, S. 46). Zum anderen hätten die Unternehmen versucht, die
Existenz der Absprachen zu verschleiern, indem sie die Reihenfolge, in der sie die jeweilige
Preiserhöhung angekündigt hätten, bei jeder Preisinitiative geändert hätten (Randnr. 73 der
Entscheidung).
239.
Schließlich müsse bei der Beurteilung der Schwere auch auf die übrigen in Randnummer 168 der
Entscheidung aufgezählten Kriterien abgestellt werden.
Würdigung durch das Gericht
240.
Angesichts der Feststellungen, die bei der Prüfung der Klagegründe zur Stützung des Antrags auf
völlige oder teilweise Nichtigerklärung von Artikel 1 der Entscheidung getroffen worden sind, ist das
Vorbringen der Klägerin zum Fehlen einer Mengenkontrolle und zum Fehlen von Preisabsprachen
zurückzuweisen. Gleiches gilt für das Vorbringen, daß es im vorliegenden Fall kein „System von
Sanktionen“ gegeben habe (siehe oben, Randnrn. 228 und 229).
241.
Im vorliegenden Fall hat die Kommission bei der Festsetzung des allgemeinen Niveaus der
Geldbußen der Dauer der Zuwiderhandlung (Randnr. 167 der Entscheidung) und folgenden
Erwägungen Rechnung getragen (Randnr. 168 der Entscheidung):
„— Preis- und Marktaufteilungsabsprachen stellen als solche schwere Wettbewerbsbeschränkungen
dar;
— das Kartell erstreckte sich praktisch auf das ganze Gebiet der Gemeinschaft;
— der EG-Kartonmarkt ist ein bedeutender Industriesektor, der jedes Jahr einen Wert von bis zu 2,5
Milliarden ECU darstellt;
— die an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen repräsentieren praktisch den gesamten
Markt;
— das Kartell wurde in einem System regelmäßiger Sitzungen institutionalisiert, in denen der
Kartonmarkt in der Gemeinschaft im einzelnen reguliert wurde;
— es wurden aufwendige Schritte unternommen, um die wahre Natur und das wahre Ausmaß der
Absprachen zu verschleiern (Fehlen jeglicher offiziellen Sitzungsniederschriften oder Dokumente für
den PWG und das JMC; Vorkehrungen gegen das Anfertigen von Notizen; Maßnahmen mit dem Ziel, die
Zeitpunkte und die zeitliche Reihenfolge der Preiserhöhungsankündigungen so zu inszenieren, daß die
Unternehmen behaupten können, einem Preisführer zu folgen usw.);
— das Kartell war, was die Erreichung seiner Ziele betrifft, weitgehend erfolgreich.“
242.
Außerdem geht, wie bereits ausgeführt, aus einer Antwort der Kommission auf eine schriftliche
Frage des Gerichts hervor, daß gegen die als „Anführer“ des Kartells angesehenen Unternehmen
Geldbußen mit einem Basissatz von 9 % und gegen die übrigen Unternehmen Geldbußen mit einem
Basissatz von 7,5 % des von den Adressaten der Entscheidung auf dem Kartonmarkt der
Gemeinschaft im Jahr 1990 erzielten Umsatzes festgesetzt wurden.
243.
Erstens ist darauf hinzuweisen, daß die Kommission bei ihrer Beurteilung des allgemeinen Niveaus
der Geldbußen der Tatsache Rechnung tragen darf, daß offenkundige Zuwiderhandlungen gegen die
Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft immer noch verhältnismäßig häufig sind, und daß es ihr daher
freisteht, das Niveau der Geldbußen anzuheben, um deren abschreckende Wirkung zu verstärken.
Folglich ist die Kommission dadurch, daß sie in der Vergangenheit für bestimmte Arten von
Zuwiderhandlungen Geldbußen in bestimmter Höhe verhängt hat, nicht daran gehindert, dieses
Niveau innerhalb der in der Verordnung Nr. 17 gezogenen Grenzen anzuheben, wenn dies erforderlich
ist, um die Durchführung der gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik sicherzustellen (vgl. u. a. Urteil
des Gerichtshofes vom 7. Juni 1983 in den Rechtssachen 100/80, 101/80, 102/80 und 103/80,
Musique Diffusion française u. a./Kommission, Slg. 1983, 1825, Randnrn. 105 bis 108, und Urteil
ICI/Kommission, Randnr. 385).
244.
Zweitens hat die Kommission zu Recht geltend gemacht, daß aufgrund der Besonderheiten des
vorliegenden Falles kein direkter Vergleich zwischen dem allgemeinen Niveau der Geldbußen in der
streitigen Entscheidung und dem Niveau nach der früheren Entscheidungspraxis der Kommission —
insbesondere in der Polypropylen-Entscheidung, die die Kommission selbst als die mit dem
vorliegenden Fall am besten vergleichbare Entscheidung ansieht — vorgenommen werden kann. Im
Gegensatz zu dem Fall, der Gegenstand der Polypropylen-Entscheidung war, wurde hier nämlich bei
der Festlegung des allgemeinen Niveaus der Geldbußen kein genereller mildernder Umstand
berücksichtigt. Außerdem zeigen die zur
Verschleierung der Absprache getroffenen Maßnahmen, daß sich die betreffenden Unternehmen der
Rechtswidrigkeit ihres Verhaltens voll und ganz bewußt waren. Die Kommission konnte diese
Maßnahmen folglich bei der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigen, da sie
einen besonders schwerwiegenden Aspekt der Zuwiderhandlung darstellten, der diese von den zuvor
aufgedeckten Zuwiderhandlungen unterscheidet.
245.
Drittens ist auf die lange Dauer und die Offenkundigkeit der Zuwiderhandlung gegen Artikel 85
Absatz 1 des Vertrages hinzuweisen, die trotz der Warnung begangen wurde, die die frühere
Entscheidungspraxis der Kommission und insbesondere die Polypropylen-Entscheidung hätte
darstellen müssen. Das Vorbringen der Klägerin, daß die PG Karton rechtmäßige Tätigkeiten ausgeübt
habe, ist unerheblich, da festgestellt wurde, daß die Gremien dieses Berufsverbands — insbesondere
PWG und JMC — einen im wesentlichen wettbewerbswidrigen Zweck hatten.
246.
Aufgrund dieser Gesichtspunkte rechtfertigen die in Randnummer 168 der Entscheidung
wiedergegebenen Kriterien das von der Kommission festgelegte allgemeine Niveau der Geldbußen.
Das Gericht hat zwar bereits festgestellt, daß die Auswirkungen der Preisabsprache, die die
Kommission der Bestimmung des allgemeinen Niveaus der Geldbußen zugrunde gelegt hat, nur
teilweise bewiesen sind. Angesichts der vorstehenden Erwägungen kann dieses Ergebnis die
Beurteilung der Schwere der festgestellten Zuwiderhandlung jedoch nicht spürbar beeinflussen.
Insoweit läßt sich schon allein daraus, daß die Unternehmen die vereinbarten Preiserhöhungen
tatsächlich angekündigt und daß die angekündigten Preise als Grundlage für die Bestimmung der
individuellen tatsächlichen Verkaufspreise gedient haben, ableiten, daß die Preisabsprache eine
schwere Wettbewerbsbeschränkung sowohl bezweckt als auch bewirkt hat. Das Gericht ist daher im
Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Ansicht, daß die Feststellungen zu den
Auswirkungen der Zuwiderhandlung keine Herabsetzung des von der Kommission festgelegten
allgemeinen Niveaus der Geldbußen rechtfertigen.
247.
Der Klagegrund greift daher nicht durch.
Vorbringen der Parteien
248.
Die Klägerin macht geltend, die gegen sie festgesetzte Geldbuße sei überhöht, weil die Kommission
ihre Beteiligung an dem gerügten Verstoß falsch eingeschätzt habe.
249.
Erstens habe die Kommission den geringen Umfang ihrer Teilnahme an den Sitzungen der
verschiedenen Gremien der PG Karton nicht angemessen berücksichtigt.
250.
In bezug auf den PWG sei die Kommission zu Unrecht davon ausgegangen, daß sie seit 1988
dessen „Mitglied“ gewesen sei (Randnr. 170 Absatz 3 der Entscheidung). Zwar habe offenbar ein
Vertreter der Klägerin an einer Sitzung des PWG im Februar/März 1988 teilgenommen, aber dieser
habe die Unternehmensleitung weder von seiner Teilnahme noch von der Existenz des PWG
unterrichtet. Die Unternehmensleitung habe von der Existenz des PWG erst auf der
Generalversammlung der PG Karton im Mai 1988 in Barcelona erfahren. Sie seien zur Teilnahme an der
Sitzung des PWG eingeladen worden und hätten nur deshalb beschlossen, dieser vor der PK
stattfindenden Sitzung beizuwohnen, um den Inhalt der Gespräche zu erfahren. Da die Sitzungen
dieses Gremiums für sie letztlich nicht von Interesse gewesen seien, hätten sie im Jahr 1988 an keiner
Sitzung mehr teilgenommen.
251.
Erst im Mai 1989 habe die Klägerin begonnen, mehr oder weniger regelmäßig an den Sitzungen des
PWG teilzunehmen. Der Vertreter von Feldmühle bei den Sitzungen des PWG (Herr Roos) habe der
Unternehmensleitung im Zeitraum1988/89 zwei Besuche abgestattet, um sie zur regelmäßigen
Teilnahme an den Sitzungen zu veranlassen. Die Entscheidung der Klägerin, an den Sitzungen
teilzunehmen, hänge damit zusammen, daß die Großkonzerne, die damals bereits den Markt
kontrolliert hätten, einen Preiskrieg hätten beginnen können, um die kleinen Konkurrenten vom Markt
zu verdrängen. Zur Wahrung ihrer Selbständigkeit habe sie deshalb beschlossen, an den Sitzungen
des PWG teilzunehmen, um sich Zugang zum Informationsaustausch zwischen den im PWG und im JMC
vertretenen Unternehmen zu verschaffen.
252.
Sie habe letztlich nur an neun der von der Kommission festgestellten 21 Sitzungen des PWG
(Randnr. 39 der Entscheidung) teilgenommen.
253.
An den Sitzungen der übrigen Gremien der PG Karton habe sie nur sporadisch oder gar nicht
teilgenommen. So habe sie zwischen März 1988 und April 1991 an acht Sitzungen des JMC und von
1986 bis 1991 an sieben der elf von der Kommission festgestellten Sitzungen der PK, aber an keiner
Sitzung der WK teilgenommen.
254.
Zweitens habe die Kommission ihrer völlig passiven Rolle in den verschiedenen Gremien der PG
Karton nicht angemessen Rechnung getragen. Dies belege die Aussage von Herrn Roos (siehe oben,
Randnr. 227), der bestätigt habe, daß sie erst an den Sitzungen des PWG teilgenommen habe,
nachdem er sie dazu überredet habe, und daß sie eine passive Rolle gespielt und insbesondere
keinen Anteil am Zustandekommen der Absprachen gehabt habe. Die Aussage von Herrn Roos
bestätige ferner, daß sie im JMC eine passive Rolle gespielt habe und dort als ein eher widerwilliger
und wenig kooperativer Teilnehmer angesehen worden sei.
255.
Schließlich habe sie keine Rolle beim Informationsaustausch zwischen PWG und PK gespielt.
256.
Die Kommission weist darauf hin, daß die Klägerin zugebe, an Sitzungen von drei der vier Gremien
der PG Karton teilgenommen zu haben. Auf vielen Sitzungen, denen sie beigewohnt habe, hätten sich
die Teilnehmer gegenseitig über Preiserhöhungen, Kapazitäten, Mengen und etwaige Abstellzeiten
unterrichtet und abgestimmt. Außerdem habe die Klägerin ihr Verhalten — zumindest im Hinblick auf
Preiserhöhungen — an dem Vorgehen der anderen Unternehmen ausgerichtet und somit die
erlangten Informationen zu ihrem eigenen Nutzen eingesetzt.
257.
Darüber hinaus habe die Klägerin ab 1988 dem PWG angehört und ab 1989 an fast allen Sitzungen
dieses Gremiums teilgenommen. Der PWG sei das zentrale Gremium des Kartells gewesen, in dem die
Strategien des Kartells diskutiert und erarbeitet worden seien. Die Teilnahme der Klägerin an den
Sitzungen dieses Gremiums rechtfertige die Annahme, daß sie in überdurchschnittlichem Maß am
Kartell mitgewirkt habe.
258.
Aufgrund dieser Teilnahme der Klägerin an den Sitzungen des zentralen Gremiums des Kartells und
ihrer Stellung als zweitgrößter deutscher Hersteller von GD-Sorten habe sich die Kommission zu Recht
auf den Standpunkt gestellt, daß gegen sie eine höhere Geldbuße — von etwa 8 % ihres
Kartonumsatzes in der Gemeinschaft im Jahr 1990 — festzusetzen sei als gegen die Unternehmen, die
in durchschnittlichem Umfang am Kartell mitgewirkt hätten. Indem sie gegen die Klägerin keine
vergleichbare Geldbuße verhängt habe wie gegen die „Anführer“ des Kartells, habe die Kommission
jedoch angemessen berücksichtigt, daß die Klägerin keine so wichtige Rolle gespielt habe wie die
großen Industriekonzerne.
259.
Schließlich müsse der Versuch der Klägerin, ihre Rolle im Kartell unter Berufung auf die Aussage von
Herrn Roos zu verharmlosen, erfolglos bleiben. Selbst wenn man unterstelle, daß die Klägerin von den
übrigen teilnehmenden Unternehmen für wenig kooperativ gehalten worden sei, ändere dies nichts
daran, daß sie sich an den Preisinitiativen beteiligt und somit zum Erfolg des Kartells beigetragen
habe.
Würdigung durch das Gericht
260.
Wie bereits ausgeführt, geht aus einer Antwort der Kommission auf eine schriftliche Frage des
Gerichts hervor, daß gegen die als „Anführer“ des Kartells angesehenen Unternehmen Geldbußen mit
einem Basissatz von 9 % und gegen die übrigen Unternehmen Geldbußen mit einem Basissatz von 7,5
% des von den Adressaten der Entscheidung auf dem Kartonmarkt der Gemeinschaft im Jahr 1990
erzielten Umsatzes festgesetzt wurden. Ferner wurde ausgeführt, daß gegen die Klägerin eine
Geldbuße in Höhe von 8 % ihres Kartonumsatzes in der Gemeinschaft im Jahr 1990 festgesetzt wurde,
die um ein Drittel herabgesetzt wurde, weil sie in ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der
Beschwerdepunkte die gegen sie vorgebrachten Tatsachenbehauptungen der Kommission in der
Substanz nicht bestritt.
261.
Im Rahmen der Beurteilung, ob dieses Bußgeldniveau gerechtfertigt ist, ist zunächst festzustellen,
daß die Klägerin die Teilnahme an einer Sitzung des PWG im Mai 1988 und eine „mehr oder weniger
regelmäßige Teilnahme“ an den Sitzungen dieses Gremiums ab Mai 1989 einräumt. Außerdem erklärt
sie, durch Nachforschungen ihres Rechtsanwalts erfahren zu haben, daß ein früherer Geschäftsführer
„offenbar im Februar/März 1988 an einer einzigen Sitzung de[s] PWG teilgenommen hat“, ohne die
Unternehmensleitung von seiner Teilnahme oder von der Existenz des PWG zu unterrichten. Dazu ist zu
sagen, daß die Klägerin nach den Angaben der Kommission zwar seit 1988 „Mitglied“ des PWG war
(Randnr. 170 Absatz 3 der Entscheidung); die Kommission macht jedoch nicht geltend, daß die
Klägerin an anderen als den von ihr selbst angegebenen Sitzungen des PWG teilgenommen habe.
262.
Sodann ist festzustellen, daß aus der Prüfung der von der Klägerin zur Stützung ihres Antrags auf
völlige oder teilweise Nichtigerklärung von Artikel 1 der Entscheidung geltend gemachten Klagegründe
hervorgeht, daß die Kommission nachgewiesen hat, daß der PWG die in der Entscheidung
beschriebenen Funktionen hatte.
263.
Unter diesen Umständen war die Kommission zu dem Schluß berechtigt, daß die Unternehmen, die
an den Sitzungen dieses Gremiums teilnahmen, grundsätzlich als „Anführer“ der festgestellten
Zuwiderhandlung anzusehen waren und aus diesem Grund eine besondere Verantwortung zu tragen
hatten (vgl. Randnr. 170 Absatz 1 der Entscheidung). Sie hat die Klägerin dennoch nicht zu den
„Anführern“ der festgestellten Zuwiderhandlung gezählt, weil sie in der Gestaltung der Politik des
Kartells keine so wichtige Rolle wie die übrigen Teilnehmer an den Sitzungen dieses Gremiums gespielt
zu haben schien (Randnr. 170 Absatz 3 der Entscheidung).
264.
Sie hat somit durch die Berücksichtigung der Tatsache, daß die Klägerin an den Sitzungen des PWG
teilnahm, in dem die wichtigsten wettbewerbswidrigen Entscheidungen getroffen wurden, und der
Tatsache, daß sie in der Gestaltung der Politik des Kartells eine weniger wichtige Rolle spielte, die
Rolle der Klägerin zutreffend gewürdigt. Dabei hat sie auch den in der Aussage von Herrn Roos
enthaltenen Informationen zur Rolle der Klägerin im Kartell Rechnung getragen.
265.
Unter diesen Umständen bestätigen die Erläuterungen der Klägerin, nach denen sie nur deshalb
an den Sitzungen des PWG teilnahm, um sich Zugang zum Informationsaustausch zwischen den dort
vertretenen Unternehmen zu verschaffen, lediglich das im wesentlichen wettbewerbsfeindliche Ziel
ihrer Teilnahme.
266.
Schließlich hat die Kommission in Anbetracht der Teilnahme der Klägerin an den Sitzungen des PWG,
in dem die wichtigsten wettbewerbswidrigen Entscheidungen getroffen wurden, die von der Klägerin
begangene Zuwiderhandlung zu Recht als schwerwiegender angesehen als die Zuwiderhandlung der
als „gewöhnliche
Mitglieder“ des Kartells eingestuften Unternehmen, die im PWG nicht vertreten waren.
267.
Nach alledem ist der vorliegende Klagegrund zurückzuweisen.
Vorbringen der Parteien
268.
Dieser Klagegrund besteht aus drei Teilen.
269.
Mit dem ersten Teil macht die Klägerin geltend, die Kommission hätte berücksichtigen müssen, daß
sie auf das Auskunftsverlangen nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 wahrheitsgemäß und
vollständig geantwortet habe. Da die Kommission bei ihr keine Nachprüfungen durchgeführt habe,
habe sie nicht gewußt, daß die Kommission in den Besitz von Unterlagen gelangt sei, aufgrund deren
sie auf einen schwerwiegenden Verstoß gegen Artikel 85 des Vertrages schließen würde. Außerdem
sei ihr der von der Kommission festgestellte Sachverhalt aufgrund des beschränkten Umfangs ihrer
Teilnahme an der PG Karton nicht vollständig bekannt gewesen. Unter diesen Umständen habe sie
damals noch nicht aktiver mit der Kommission kooperieren können.
270.
Mit dem zweiten Teil des Klagegrundes macht sie geltend, die sofortige Einstellung ihrer Beteiligung
an den Sitzungen der PG Karton und an allen möglicherweise rechtswidrigen Praktiken nach den von
der Kommission am 23. April 1991 durchgeführten Nachprüfungen sei nach der Rechtsprechung und
der Praxis der Kommission als mildernder Umstand anzusehen (vgl. u. a. Urteil des Gerichts vom 7. Juli
1994 in der Rechtssache T-43/92, Dunlop Slazenger/Kommission, Slg. 1994, II-441, Randnr. 146).
271.
Mit dem dritten Teil des Klagegrundes macht sie geltend, die Kommission habe bei der
Bußgeldbemessung ihre aktive Kooperation nicht berücksichtigt, die zum beschleunigten Abschluß
des Verfahrens beigetragen habe. Sie habe erst nach der Zustellung der Mitteilung der
Beschwerdepunkte erkannt, daß die Kommission ihr einen schweren Verstoß gegen Artikel 85 des
Vertrages vorwerfe. Mit Schreiben vom 23. März 1993, also vor Ablauf der Frist zur Stellungnahme zu
den Beschwerdepunkten, habe sie eingeräumt, durch die Teilnahme an Gesprächen über
Preiserhöhungen und an einem allgemeinen Meinungsaustausch über die Beibehaltung der
Absatzmengen gegen Artikel 85 des Vertrages verstoßen zu haben. Dieses Eingeständnis einer
Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 des Vertrages habe sie aus völlig freien Stücken abgegeben, und
es habe offensichtlich auch andere Unternehmen dazu veranlaßt, die Zuwiderhandlung zuzugeben
oder zumindest im Kern nicht zu bestreiten.
272.
Sie sei das einzige Unternehmen gewesen, das in der Anhörung vor der Kommission ausdrücklich
erklärt habe, daß die von der Kommission behauptete Zuwiderhandlung im wesentlichen nicht
bestritten werde. Sie sei auch neben Cascades das einzige Unternehmen gewesen, das die Daten
sämtlicher von ihm besuchter Sitzungen mitgeteilt habe. Schließlich habe sie der Kommission die
Stellungnahme von Herrn Roos übermittelt, auf die die Kommission mehrfach in der Anhörung und
indirekt auch in Randnummer 59 der Entscheidung Bezug genommen habe, wo davon gesprochen
werde, daß die Klägerin zur Ordnung gerufen worden sei, weil sie ihre Marktanteile ausgeweitet habe.
273.
Da diese aktive Kooperation nicht berücksichtigt worden sei, sei sie insbesondere gegenüber Stora
benachteiligt worden. Stora habe erst nach den von der Kommission durchgeführten Nachprüfungen
mit dieser kooperiert. Außerdem habe sie nicht nur das von der Kommission bei den Unternehmen des
Stora-Konzerns gefundene belastende Material, sondern auch die bei anderen Unternehmen
gefundenen Unterlagen gekannt. Schließlich gehe aus dem Schriftwechsel zwischen Stora und der
Kommission (Anlagen 34 bis 43 der Mitteilung der Beschwerdepunkte) hervor, daß Stora nicht sofort
alles zugegeben habe, sondern daß die Kommission die verschiedenen Informationen aus ihr habe
herauslocken müssen. Unter diesen Umständen hätte die Klägerin für ihre Kooperation in gleichem
Maß belohnt werden müssen wie Stora, d. h. durch eine Herabsetzung der Geldbuße um zwei Drittel.
274.
Überdies habe die Kommission den kleinen Herstellern keine Gelegenheit gegeben, in einem frühen
Stadium zu kooperieren, da diese Hersteller von der Kooperation von Stora und den im Besitz der
Kommission befindlichen Beweisen nichts gewußt hätten.
275.
Schließlich sei die Klägerin aufgrund der mangelnden Berücksichtigung der Gesichtspunkte, die ihre
aktive Kooperation mit der Kommission belegten, auch gegenüber anderen Unternehmen
benachteiligt worden, deren Geldbuße um ein Drittel herabgesetzt worden sei, weil sie die
Tatsachenbehauptungen in der Substanz nicht bestritten hätten.
276.
Die Kommission weist darauf hin, daß die Geldbuße der Klägerin um ein Drittel herabgesetzt worden
sei, weil sie die Tatsachenbehauptungen in der Mitteilung der Beschwerdepunkte in der Substanz
nicht bestritten habe (Randnr. 172 der Entscheidung). Für eine darüber hinausgehende
Herabsetzung habe kein Anlaß bestanden.
277.
Die vollständige und wahrheitsgemäße Beantwortung des Auskunftsersuchens durch die Klägerin
könne keine Herabsetzung der Geldbuße rechtfertigen, da es sich um ein rechtlich gebotenes
Verhalten handele.
278.
Dem Vorbringen der Klägerin, daß sie in einem früheren Verfahrensstadium nicht aktiv habe
kooperieren können, könne nicht gefolgt werden. Es habe ihr vielmehr freigestanden, den Sachverhalt
aufzuklären und so aktiv zum raschen Abschluß des Verfahrens beizutragen. Im übrigen schätze sie
den Wert der Stellungnahme von Herrn Roos zu hoch ein; dieser habe nicht nur zur Aufklärung des
Sachverhalts, sondern auch zur Verteidigung der Klägerin beigetragen.
279.
Die Klägerin sei somit gegenüber Stora nicht benachteiligt worden. Stora habe aus freien Stücken
kooperiert und in ihren Antworten auf die Auskunftsverlangen vom 30. August 1991 und vom 23.
Oktober 1991 einen aktiven und wesentlichen Beitrag zur Aufklärung des Sachverhalts geleistet. Die
Klägerin habe dagegen erst mit Schreiben vom 23. März 1993, d. h. nach der Mitteilung der
Beschwerdepunkte, ihre mögliche Beteiligung an einer Zuwiderhandlung gegen das
Wettbewerbsrecht eingeräumt. Ihre Kooperation habe sich auch in diesem Stadium darauf
beschränkt, die gegen sie erhobenen Vorwürfe in der Substanz nicht zu bestreiten. Ein solches
Verhalten, das bereits durch die Herabsetzung der Geldbuße um ein Drittel belohnt worden sei, könne
nicht als aktive Kooperation gewertet werden.
Würdigung durch das Gericht
280.
Die gegen die Klägerin festgesetzte Geldbuße wurde um ein Drittel herabgesetzt, weil sie der
Entscheidung zufolge in ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte die gegen sie
vorgebrachten Tatsachenbehauptungen der Kommission in der Substanz nicht bestritt.
281.
Eine Herabsetzung der Geldbuße wegen einer Kooperation im Verwaltungsverfahren vor der
Kommission ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Verhalten des Unternehmens es der Kommission
ermöglicht hat, eine Zuwiderhandlung leichter festzustellen und gegebenenfalls zu beenden (Urteil
ICI/Kommission, Randnr. 393). Folglich kann bei einem Unternehmen, das im Verwaltungsverfahren
ausdrücklich erklärt, daß es die von der Kommission vorgebrachten Tatsachenbehauptungen nicht
bestreite, davon ausgegangen werden, daß es zur Erleichterung der in der Feststellung und
Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft bestehenden
Aufgabe der Kommission beigetragen hat. Die Kommission ist nämlich berechtigt, ein solches
Verhalten als Eingeständnis der behaupteten Tatsachen und damit als Beweis für die Begründetheit
der fraglichen Behauptungen zu werten.
282.
Im vorliegenden Fall enthält das Vorbringen der Klägerin keinen Beleg dafür, daß sie über die
Anerkennung der Tatsachenbehauptungen der Kommission hinaus mit dieser kooperierte.
283.
Mit dem ersten Teil des Klagegrundes macht die Klägerin geltend, sie habe auf das
Auskunftsverlangen der Kommission nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 wahrheitsgemäß und
vollständig geantwortet. Nach ständiger Rechtsprechung rechtfertigt aber eine Mitwirkung an der
Untersuchung, die nicht über das
hinausgeht, wozu die Unternehmen nach Artikel 11 Absätze 4 und 5 der Verordnung Nr. 17 verpflichtet
sind, keine Herabsetzung der Geldbuße (vgl. z. B. Urteil des Gerichts vom 10. März 1992 in der
Rechtssache T-12/89, Solvay/Kommission, Slg. 1992, II-907, Randnrn. 341 und 342). Im übrigen hätte
die Klägerin, die seit März 1988 an der Zuwiderhandlung teilnahm und daher die Aufgaben des PWG
und des JMC kannte, durchaus — ebenso wie Stora — aktiver als geschehen mit der Kommission
kooperieren können, wodurch eine größere Herabsetzung der Geldbuße gerechtfertigt gewesen wäre.
Folglich muß ihr Vorbringen, daß sie damals nicht die nötigen Informationen besessen habe, um der
Kommission aktiv zu helfen, zurückgewiesen werden.
284.
Zum zweiten Teil des Klagegrundes, der sich darauf stützt, daß die Klägerin ihre Beteiligung an den
Sitzungen der PG Karton und an allen möglicherweise rechtswidrigen Praktiken nach den von der
Kommission am 23. April 1991 durchgeführten Nachprüfungen (siehe oben, Randnr. 8) sofort
eingestellt habe, ist darauf hinzuweisen, daß die Schwere der Zuwiderhandlungen anhand einer
Vielzahl von Gesichtspunkten zu ermitteln ist, ohne daß es eine zwingende oder abschließende Liste
von Kriterien gäbe, die auf jeden Fall berücksichtigt werden müßten (siehe oben, Randnr. 183). Auch
wenn die Einstellung der Zuwiderhandlung vor der Übersendung der Beschwerdepunkte somit
grundsätzlich als Umstand angesehen werden kann, der die Schwere der Zuwiderhandlung eines
Unternehmens mindert, war die Kommission unter den besonderen Umständen des vorliegenden
Falles nicht zu einer solchen Bewertung verpflichtet. Da die Klägerin nichts vorgebracht hat, was zum
Nachweis dafür dienen könnte, daß die Kommission im vorliegenden Fall den Ermessensspielraum
überschritten hat, über den sie bei der Auswahl der Gesichtspunkte verfügt, die bei der Festlegung
der Höhe der Geldbußen berücksichtigt werden, ist der zweite Teil des Klagegrundes zurückzuweisen.
285.
Auch dem dritten Teil des Klagegrundes, der sich darauf stützt, daß die Klägerin aktiv mit der
Kommission kooperiert habe, kann nicht gefolgt werden.
286.
Die Klägerin trägt vor, sie habe vollständige Angaben zu ihrer Teilnahme an den Sitzungen der
verschiedenen Gremien der PG Karton gemacht. Sie habe ferner bei der Anhörung vor der Kommission
ausdrücklich erklärt, daß sie die von dieser vorgebrachten Tatsachenbehauptungen in der Substanz
nicht bestreite. Eine derartige Kooperation mit der Kommission rechtfertigte jedoch keine über das
tatsächlich gewährte Drittel hinausgehende Herabsetzung der Geldbuße. Die Stellungnahme von
Herrn Roos, die der Kommission von der Klägerin mit ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der
Beschwerdepunkte übermittelt wurde, enthält nichts, was spürbar zur Erleichterung der Aufgabe des
Organs beitragen konnte. Insoweit genügt der Hinweis, daß in der Entscheidung nur an einer Stelle —
im übrigen indirekt — auf die Angaben in dieser Stellungnahme Bezug genommen wird (Randnr. 59
letzter Absatz).
287.
Schließlich ist zum Vorbringen der Klägerin, daß sie im Verhältnis zu Stora benachteiligt worden sei,
darauf hinzuweisen, daß ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, der ein allgemeiner
Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist, nach ständiger Rechtsprechung nur dann vorliegt, wenn
vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich oder unterschiedliche Sachverhalte gleich behandelt
werden, sofern eine Differenzierung nicht objektiv gerechtfertigt ist (Urteile des Gerichtshofes vom 13.
Dezember 1984 in der Rechtssache 106/83, Sermide, Slg. 1984, 4209, Randnr. 28, und vom 28. Juni
1990 in der Rechtssache C-174/89, Hoche, Slg. 1990, I-2681, Randnr. 25; im gleichen Sinne Urteil des
Gerichts vom 15. März 1994 in der Rechtssache T-100/92, La Pietra/Kommission, Slg. ÖD 1994, II-275,
Randnr. 50).
288.
Stora hat im vorliegenden Fall gegenüber der Kommission Aussagen gemacht, die eine eingehende
Beschreibung von Art und Gegenstand der Zuwiderhandlung, der Funktionsweise der verschiedenen
Gremien der PG Karton und der Beteiligung der einzelnen Hersteller an der Zuwiderhandlung
enthalten. Durch diese Aussagen hat Stora Auskünfte gegeben, die weit über das hinausgehen, was
die Kommission gemäß Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 verlangen kann. Auch wenn die Kommission in
der Entscheidung erklärt, daß sie Beweise erlangt habe, die die in den Aussagen von Stora
enthaltenen Auskünfte bestätigten (Randnrn. 112 und 113), geht aus ihr klar hervor, daß die
Aussagen von Stora für die Kommission den wichtigsten Beweis für das Vorliegen der
Zuwiderhandlung darstellten. Somit ist davon auszugehen, daß es für die Kommission ohne die
Aussagen von Stora zumindest sehr viel schwieriger gewesen wäre, die den Gegenstand der
Entscheidung bildende Zuwiderhandlung fest- und gegebenenfalls abzustellen. In Anbetracht dessen
kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg darauf berufen, daß ihre Geldbuße nach dem Grundsatz der
Gleichbehandlung in gleichem Maß wie die von Stora hätte herabgesetzt werden müssen.
289.
Da die Klägerin über die Anerkennung der von der Kommission vorgebrachten
Tatsachenbehauptungen hinaus nicht mit dieser kooperierte, wurde sie auch nicht gegenüber den
anderen Unternehmen benachteiligt, deren Geldbuße um ein Drittel herabgesetzt wurde.
290.
Nach alledem ist der Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
291.
Die Klägerin trägt vor, die Kommission müsse nach eigenem Bekunden (
, Nr. 64) bei der Festsetzung der Geldbußen dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen. Die gegen sie verhängte Buße sei jedoch im Vergleich zur
früheren Praxis der Kommission überhöht.
292.
Die Kommission habe Geldbußen von 3 Millionen ECU nur gegen Unternehmen mit
Milliardenumsätzen verhängt. Außerdem seien derartige Geldbußen meist bei wiederholten Verstößen
verhängt worden.
293.
Im vorliegenden Fall wurde festgestellt, daß das von der Kommission zugrunde gelegte allgemeine
Niveau der Geldbußen auch im Hinblick auf ihre frühere Praxis gerechtfertigt war (siehe oben,
Randnrn. 240 ff.). Ferner wurde festgestellt, daß die Kommission die Rolle der Klägerin bei der
beanstandeten Zuwiderhandlung zutreffend gewürdigt hat (siehe oben, Randnrn. 260 ff.).
294.
Folglich greift der vorliegende Klagegrund nicht durch.
Vorbringen der Parteien
295.
Die Klägerin führt aus, die Kommission müsse bei der Festsetzung der Geldbußen vom
Gesamtumsatz jedes Unternehmens ausgehen, der etwas über dessen Größe und Wirtschaftskraft
aussage (Urteil Dunlop Slazenger/Kommission, Randnr. 160). In seinem Urteil vom 14. Juli 1994 in der
Rechtssache T-77/92 (Parker Pen/Kommission, Slg. 1994, II-549, Randnr. 94) habe das Gericht
entschieden, daß die Kommission bei der Festsetzung der Geldbuße nicht nur den Umsatz mit den von
der Zuwiderhandlung betroffenen Produkten ansetzen dürfe (vgl. auch Urteil Musique Diffusion
française u. a./Kommission, Randnr. 121).
296.
Im vorliegenden Fall habe sich die Kommission jedoch ausschließlich auf den Umsatz mit den von
der Zuwiderhandlung betroffenen Produkten gestützt. Ein Unternehmen wie die Klägerin, das seinen
Umsatz im wesentlichen mit einem von der Zuwiderhandlung betroffenen Produkt erziele, werde
dadurch gegenüber den Unternehmen benachteiligt, die auch andere Produkte herstellten. Die
gegen sie verhängte Geldbuße belaufe sich auf einen erheblichen Teil ihres Gesamtumsatzes,
während sie zum Beispiel bei Stora nur einen unwesentlichen Teil des Gesamtumsatzes ausmache.
Selbst im Vergleich zu Unternehmen, die eine weit schwerere Zuwiderhandlung begangen hätten,
treffe die Geldbuße sie daher viel härter.
297.
Schließlich werde durch die überhöhte Geldbuße ihre Fähigkeit, Investitionen zu tätigen, für
mehrere Jahre stark beeinträchtigt, so daß sich die Gefahr erhöhe, daß sie von einem der großen
Unternehmen auf dem Markt übernommen werde.
298.
Die Kommission trägt vor, die Klägerin habe als Herstellerin nur eines Produktes in besonderem
Maß von dem Kartell profitiert, das ihre gesamte Kartonproduktion betroffen habe. Die Geldbuße sei
daher zu Recht auf der Grundlage des von ihr auf dem Kartonmarkt der Gemeinschaft erzielten
Umsatzes berechnet worden. Davon abgesehen sei ihr Gesamtumsatz im Jahr 1990 knapp 11 Millionen
ECU höher gewesen als der Umsatz, anhand dessen die Geldbuße berechnet worden sei.
Würdigung durch das Gericht
299.
Wie bereits ausgeführt, ist die Schwere der Zuwiderhandlungen anhand einer Vielzahl von
Gesichtspunkten zu ermitteln, ohne daß es eine zwingende oder abschließende Liste von Kriterien
gäbe, die auf jeden Fall berücksichtigt werden müßten (siehe oben, Randnr. 183).
300.
Zu den Gesichtspunkten, deren Heranziehung in Betracht kommt, können je nach den Umständen
die Menge und der Wert der Waren, auf die sich die Zuwiderhandlung erstreckte, sowie die Größe und
die Wirtschaftskraft des Unternehmens und damit der Einfluß gehören, den es auf den Markt ausüben
konnte. Folglich darf die Kommission bei der Festsetzung der Geldbuße sowohl den Gesamtumsatz des
Unternehmens, der — wenn auch nur annähernd und unvollständig — etwas über dessen Größe und
Wirtschaftskraft aussagt, als auch den Teil dieses Umsatzes heranziehen, der mit den Waren erzielt
wurde, auf die sich die Zuwiderhandlung erstreckte, und der somit einen Anhaltspunkt für das
Ausmaß dieser Zuwiderhandlung liefern kann (Urteil Musique Diffusion française u. a./Kommission,
Randnrn. 120 und 121).
301.
Außerdem muß die Kommission bei der Berechnung der Geldbußen, die sie gegen Unternehmen
verhängt, die sich an derselben Zuwiderhandlung beteiligt haben,normalerweise dieselbe Methode
anwenden (Urteil Musique Diffusion française u. a./Kommission, Randnr. 122). Der Kommission kann
somit kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß sie sich bei der Festlegung der Höhe der Geldbußen
im vorliegenden Fall systematisch auf den Umsatz gestützt hat, den die einzelnen Unternehmen im
Jahr 1990 auf dem Kartonmarkt der Gemeinschaft allein mit den Waren erzielten, auf die sich die
Zuwiderhandlung erstreckte.
302.
Unter diesen Umständen kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg darauf berufen, daß die von der
Kommission angewandte Methode für sie nachteilige Folgen gehabt habe, zumal sie die Behauptung
der Kommission, daß ihr Gesamtumsatz im Jahr 1990 über dem von der Kommission herangezogenen
Umsatz gelegen habe, nicht in Abrede stellt.
303.
Der vorliegende Klagegrund ist deshalb ebenfalls zurückzuweisen.
304.
Nach alledem ist Artikel 1 der Entscheidung in bezug auf die Klägerin insoweit für nichtig zu
erklären, als darin ausgeführt wird, daß sich die Klägerin vor März 1988 an einer Zuwiderhandlung
gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages beteiligt habe. Außerdem ist Artikel 2 der Entscheidung in
bezug auf die Klägerin teilweise für nichtig zu erklären.
305.
Hinsichtlich der Höhe der festgesetzten Geldbuße ist zu berücksichtigen, daß die Klägerin nur für
eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages in der Zeit von März 1988 bis April
1991 zur Verantwortung gezogen werden kann.
306.
Da die anderen von der Klägerin zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung oder Herabsetzung
der Geldbuße geltend gemachten Klagegründe zurückgewiesen worden sind, setzt das Gericht diese
in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung auf 2 500 000 ECU fest.
Kosten
307.
Gemäß Artikel 87 § 3 der Verfahrensordnung kann das Gericht die Kosten teilen oder beschließen,
daß jede Partei ihre eigenen Kosten trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Da der Klage
nur teilweise stattgegeben wurde, hält es das Gericht bei angemessener Berücksichtigung der
Umstände des Falles für geboten, jeder Partei ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.
308.
Die Klägerin hat beantragt, der Kommission die Kosten des Verfahrens einschließlich der durch die
Stellung einer Bürgschaft entstandenen Kosten aufzuerlegen. Nach ständiger Rechtsprechung sind
die durch die Stellung einer Bürgschaft zur Vermeidung der Zwangsvollstreckung der Entscheidung
entstandenen Kosten jedoch keine Aufwendungen für das Verfahren im Sinne von Artikel 91
Buchstabe b der Verfahrensordnung (vgl. Beschluß des Gerichtshofes vom 20. November 1987 in der
Rechtssache 183/83, Krupp/Kommission, Slg. 1987, 4611, Randnr. 10, und Urteil Parker
Pen/Kommission, Randnr. 101).
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Artikel 1 der Entscheidung 94/601/EG der Kommission vom 13. Juli 1994 in einem
Verfahren nach Artikel 85 EG-Vertrag (IV/C/33.833 — Karton) wird in bezug auf die Klägerin
für nichtig erklärt, soweit ein vor März 1988 liegender Zeitpunkt als Beginn der ihr zur
Last gelegten Zuwiderhandlung angesetzt wurde.
2. Artikel 2 Absätze 1 bis 4 der Entscheidung 94/601 wird in bezug auf die Klägerin mit
Ausnahme folgender Passagen für nichtig erklärt:
„Die in Artikel 1 bezeichneten Unternehmen stellen, soweit noch nicht geschehen, den
genannten Verstoß unverzüglich ab. Sie sehen im Zusammenhang mit ihren Tätigkeiten im
Kartonbereich künftig von allen
Vereinbarungen oder abgestimmten Verhaltensweisen ab, mit denen gleiches oder
ähnliches bezweckt oder bewirkt wird, einschließlich jedes Austauschs von
Geschäftsinformationen,
a) durch den die Teilnehmer mittel- oder unmittelbar Kenntnis von der Produktion, den
Verkäufen, dem Auftragsbestand, der Kapazitätsausnutzung, den Verkaufspreisen, den
Kosten oder den Absatzplänen anderer einzelner Hersteller erlangen.
Jedes System für den Austausch allgemeiner Informationen (wie das FIDES-System oder
dessen Nachfolgesystem), an dem sie sich beteiligen, ist so zu gestalten, daß es alle
Informationen, mit denen sich das Verhalten einzelner Hersteller ermitteln läßt,
ausschließt.“
3. Die Höhe der in Artikel 3 der Entscheidung 94/601 gegen die Klägerin verhängten
Geldbuße wird auf 2 500 000 ECU festgesetzt.
4. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
5. Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.
Vesterdorf
Briët
Lindh
Potocki Cooke
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 14. Mai 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
B. Vesterdorf
Inhaltsverzeichnis
Sachverhalt
II - 2
Verfahren
II - 6
Anträge der Parteien
II - 7
Zum Antrag auf völlige oder teilweise Nichtigerklärung von Artikel 1 der Entscheidung
II - 8
Zum Klagegrund der fehlenden Beteiligung der Klägerin an Maßnahmen zur Mengenkontrolle
II - 8
Vorbringen der Parteien
II - 8
Würdigung durch das Gericht
II - 11
— Zum Vorliegen einer Absprache über das Einfrieren der Marktanteile und einer
Absprache über die Angebotskontrolle
II - 11
— Zum tatsächlichen Verhalten der Klägerin
II - 16
Zum Klagegrund eines Fehlers der Kommission hinsichtlich der Dauer der Zuwiderhandlung
II - 17
Vorbringen der Parteien
II - 17
Würdigung durch das Gericht
II - 18
Zum Klagegrund des Fehlens von Vereinbarungen über Preiserhöhungen
II - 23
Vorbringen der Parteien
II - 23
Würdigung durch das Gericht
II - 24
Zum Antrag auf Nichtigerklärung von Artikel 2 der Entscheidung
II - 27
Vorbringen der Parteien
II - 27
Würdigung durch das Gericht
II - 29
Zum Antrag auf Nichtigerklärung oder Herabsetzung der Geldbuße
II - 33
Zum Klagegrund einer Verletzung von Artikel 190 des Vertrages bei der Bußgeldbemessung
II - 33
Vorbringen der Parteien
II - 33
Würdigung durch das Gericht
II - 35
II - 35
Zum Klagegrund des Fehlens wirtschaftlicher Auswirkungen der Zuwiderhandlungen
II - 38
Vorbringen der Parteien
II - 38
Würdigung durch das Gericht
II - 40
Zum Klagegrund des Fehlens eines Systems von Sanktionen, mit denen die Unternehmen zur
Einhaltung der vom Kartell aufgestellten Regeln gezwungen werden sollten
II - 44
Vorbringen der Parteien
II - 44
Würdigung durch das Gericht
II - 44
Zum Klagegrund, daß das allgemeine Bußgeldniveau überhöht sei
II - 45
Vorbringen der Parteien
II - 45
Würdigung durch das Gericht
II - 46
Zum Klagegrund eines Beurteilungsfehlers der Kommission hinsichtlich der Beteiligung der
Klägerin am Kartell
II - 48
Vorbringen der Parteien
II - 48
Würdigung durch das Gericht
II - 50
Zum Klagegrund der unzureichenden Berücksichtigung der Kooperation der Klägerin im
Verfahren
II - 52
Vorbringen der Parteien
II - 52
Würdigung durch das Gericht
II - 54
Zum Klagegrund der Unangemessenheit der gegen die Klägerin festgesetzten Geldbuße
angesichts der bisherigen Praxis der Kommission
II - 56
Zum Klagegrund der mangelnden Berücksichtigung der Tatsache, daß die Klägerin nur ein
Produkt herstellt, und ihrer beschränkten Leistungsfähigkeit
II - 57
Vorbringen der Parteien
II - 57
Würdigung durch das Gericht
II - 58
Kosten
II - 59
Verfahrenssprache: Deutsch.