Urteil des BVerwG vom 26.09.2002

Verkehr, Öffentliche Sicherheit, Anwendungsbereich, Erlass

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IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 9.02
VG 1 A 1496/98
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 26. September 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungs-
gericht Prof. Dr. D r i e h a u s sowie die Richter
am Bundesverwaltungsgericht van S c h e w i c k ,
Dr. B o r g s - M a c i e j e w s k i , K i m m e l
und Dr. B r u n n
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil
des Verwaltungsgerichts Stade vom 8. März 2002
aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung an das Verwal-
tungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I.
Die Verfahrensbeteiligten streiten über die Verpflichtung der
beklagten Straßenverkehrsbehörde, zugunsten der Klägerin eine
verkehrsbeschränkende Maßnahme im Sinne des § 45 Abs. 1 StVO
anzuordnen.
Die Klägerin ist Eigentümerin eines bebauten Grundstücks in
einer kleineren, überwiegend landwirtschaftlich geprägten Ort-
schaft. Das Grundstück liegt an einer Ortsdurchgangsstraße,
die dort ca. 4 m breit ist; ein Gehweg ist nicht vorhanden.
Mit Rücksicht auf die eingeschränkte Belastbarkeit der Straße
war bis 1992 durch Verkehrszeichen eine Gewichtsbeschränkung
von 3,5 t angeordnet. Seither gilt eine Beschränkung auf 7,5 t
unter gleichzeitiger Beschränkung der zulässigen Höchstge-
schwindigkeit auf 30 km/h; später wurden Zusatzzeichen "Lie-
ferverkehr frei" sowie "Landwirtschaftlicher Verkehr frei" an-
gebracht.
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Mit der Behauptung, die Straße werde oft von schweren und
schwersten (hauptsächlich landwirtschaftlichen) Fahrzeugen mit
einem Gewicht bis zu 40 t befahren, welche zudem die Höchstge-
schwindigkeit nicht einhielten, so dass durch die hervorgeru-
fenen Erschütterungen ihr Grundstück beeinträchtigt und das
darauf befindliche Gebäude beschädigt würden, beantragte die
Klägerin im Jahre 1997 die Wiederherabsetzung des zulässigen
Gewichts auf 3,5 t sowie die Entfernung der Zusatzschilder.
Mit Bescheiden vom 1. Juli und 8. August 1997 lehnte die Stra-
ßenverkehrsbehörde das Begehren ab mit der Begründung, § 45
Abs. 1 StVO biete für das verlangte Einschreiten keine Grund-
lage; mit der gleichen Begründung wies die Widerspruchsbehörde
den Widerspruch der Klägerin durch Bescheid vom 4. August 1998
zurück.
Die auf eine Gewichtsbeschränkung auf 3,5 t sowie Entfernung
der Zusatzzeichen abzielende Klage hat das Verwaltungsgericht
durch Urteil vom 8. März 2002 abgewiesen und die Sprungrevisi-
on zugelassen. Zur Begründung hat es sich wesentlich auf ein
1992 ergangenes Urteil des OVG Schleswig (NJW 1993, 872 ff.)
bezogen, wonach - erstens - § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO nur Gefah-
ren betreffe, die sich auf den Verkehr selbst auswirkten, und
- zweitens - § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 StVO nach seinem Wort-
laut Maßnahmen zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit vo-
raussetze und demgemäß der Straßenverkehrsbehörde nur erlaube,
hinsichtlich dieser Maßnahmen straßenverkehrsrechtliche Anord-
nungen zu treffen; deshalb fehle eine Ermächtigungsgrundlage
zum Erlass straßenverkehrsrechtlicher Maßnahmen zum Schutz der
baulichen Substanz von Gebäuden vor Erschütterungen, die vom
Straßenverkehr ausgehen. Folglich könne der nach vorliegenden
Sachverständigengutachten wahrscheinlich erscheinende Umstand,
dass der von der Klägerin beklagte Verkehr zu unterschiedli-
chen Setzungen im Bereich der Fundamente des klägerischen Ge-
bäudes führen und damit zumindest mitursächlich für aufgetre-
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tene Risse im Mauerwerk sein könne, mangels Erfüllung der tat-
bestandlichen Eingriffsvoraussetzungen von vornherein nicht
zur Verpflichtung führen, in entsprechende Ermessenserwägungen
einzutreten.
Die unverändert auf Verpflichtung zum Einschreiten zielende
Revision macht geltend, namentlich aus § 45 Abs. 1 Satz 2
Nrn. 3 und 4 StVO werde deutlich, dass durch entsprechende
Maßnahmen Schutz vor verkehrlichen Beeinträchtigungen auch für
die Umgebung der Straße gewährt werden dürfe. Entsprechendes
gelte für die Vorschriften zum Schutz der öffentlichen Sicher-
heit (§ 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 StVO).
Der Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses verteidi-
gen das angefochtene Urteil.
II.
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil verletzt
Bundesrecht im Sinne des § 137 Abs. 1 VwGO. Zwar trifft die
Annahme des Verwaltungsgerichts zu, Verkehrsbetroffene wie die
Klägerin hätten (nur) dann einen Anspruch auf ermessensfehler-
freie Entscheidung über ihr Begehren auf eine verkehrsbe-
schränkende Maßnahme der Straßenverkehrsbehörde, wenn die tat-
bestandsmäßigen Voraussetzungen einer in § 45 StVO enthaltenen
Vorschrift vorliegen (1.). Nicht zu folgen ist dem Verwal-
tungsgericht jedoch, soweit es für den Streitfall die Möglich-
keit ausschließt, dass die behördlichen Regelbefugnisse des
§ 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 StVO auch "hinsichtlich der zur Er-
haltung der öffentlichen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen"
vorliegen (2.). Weil das Streitverfahren zu einer abschließen-
den Entscheidung nicht reif ist und sich das Urteil auch nicht
aus anderen Gründen als richtig darstellt, ist gemäß § 144
Abs. 3 Nr. 2 VwGO das angefochtene Urteil aufzuheben und die
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Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das
Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (3.).
1. In ständiger Rechtsprechung geht das Bundesverwaltungsge-
richt davon aus, dass die Vorschrift des § 45 StVO Einzelnen
einen - allerdings auf ermessensfehlerfreie Entschließung der
Behörde beschränkten - Anspruch auf Einschreiten gegen rechts-
widriges Verkehrsverhalten Dritter oder verkehrsrechtswidrige
Zustände vermitteln kann, wenn dadurch deren öffentlich-
rechtlich geschützte Interessen beeinflusst werden (vgl.
grundlegend für § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO a.F.: Urteil vom
22. Januar 1971 - BVerwG VII C 48.69 - BVerwGE 37, 112
<113 f.>; für § 45 StVO: Urteil vom 4. Juni 1986 - BVerwG 7 C
76.84 - BVerwGE 74, 234 <235 f.>).
2. Es ist nicht auszuschließen, dass die Klägerin sich auf das
Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 StVO berufen
kann.
a) Es bedarf zunächst keiner abschließenden Entscheidung über
die Richtigkeit der im angefochtenen Urteil verlautbarten An-
nahme, ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über
das klägerische Begehren könne sich von vornherein nicht aus
§ 45 Abs. 1 Satz 1 StVO (vgl. hierzu Urteil vom 5. April 2001
- BVerwG 3 C 23.00 - Buchholz 442.151 § 45 StVO Nr. 41 S. 21
m.w.N.) ergeben, weil diese Vorschrift die erstrebten Ver-
kehrsbeschränkungen nur "aus Gründen der Sicherheit oder Ord-
nung des Verkehrs" ermögliche (vgl. das vom Verwaltungsgericht
in Bezug genommene Urteil des OVG Schleswig vom 25. August
1992 - 4 L 3/92 - NJW 1993, 872 f.; vgl. auch den Hinweis des
erkennenden Senats in seinem Urteil vom 15. April 1999
- BVerwG 3 C 25.98 - BVerwGE 109, 29 <36>, begrenzter Anwen-
dungsbereich von § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO). Denn zum einen kann
der klägerische Anspruch aus den nachstehenden Gründen gegebe-
nenfalls auf § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 StVO gegründet werden,
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und zum anderen erscheint es ausgeschlossen, dass im Streit-
verfahren § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO eingreifen könnte, wenn die
Voraussetzungen der erstgenannten Vorschrift nicht erfüllt
sind bzw. keinen Anspruch auf ein straßenverkehrsbehördliches
Eingreifen ergeben.
b) Im vorerwähnten Urteil vom 15. April 1999 - BVerwG 3 C
25.98 - (BVerwGE 109, 28 <35 f.> m.w.N.) hat der erkennende
Senat dargelegt, dass die Vorschrift des § 45 Abs. 1 Satz 2
Nr. 5 StVO, mag auch ihre sprachliche Fassung nicht geglückt
sein, einen unbedenklichen Anwendungsbereich aus einerseits
Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG und andererseits aus § 6 Abs. 1
Nr. 17 StVG gewinnt, denen sie ihre Entstehung und ihre der-
zeit gültige sowie im Streitverfahren anzuwendende Fassung
verdankt. Hiernach dient diese Vorschrift auch und gerade der
Abwehr solcher Gefahren, die zwar vom Straßenverkehr ausgehen,
die aber - über die Beeinträchtigung anderer Verkehrsteilneh-
mer hinausgehend bzw. hiervon unabhängig - Dritte und allge-
mein die Umwelt beeinträchtigen. Sie ermöglicht mit anderen
Worten Einschränkungen des Verkehrs, die nicht dem Verkehr
selbst sondern anderen Rechtsgütern und rechtlich geschützten
Interessen zugute kommen; mithin eröffnet die Vorschrift den
Straßenverkehrsbehörden auch die Möglichkeit, zum Schutz
rechtlich geschützter Interessen betroffener Einzelpersonen
verkehrseinschränkend vorzugehen.
Zwar waren die vorstehend wiedergegebenen Darlegungen auf den
Schutz von Gesundheitsinteressen einzelner Nichtverkehrsteil-
nehmer bezogen, sie beanspruchen aber Geltung auch dann, wenn
- über eine reine Beeinträchtigung der Allgemeinheit hinausge-
hende - Beeinträchtigungen oder Schädigungen sonstiger recht-
lich schutzwürdiger Rechtsgüter von Einzelnen oder Gruppen
durch unzulässigen oder übermäßigen Verkehr in Rede stehen.
Ebenso wie beispielsweise durch Straßenverkehr hervorgerufene
Lärmeinwirkungen, seien sie bereits gesundheitsgefährdend oder
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noch nicht, vom Schutzgut der öffentlichen Sicherheit oder
Ordnung erfasst werden können, wenn sie zumindest das nach
allgemeiner Anschauung zumutbare Maß übersteigen (vgl. Urteil
vom 13. Dezember 1979 - BVerwG 7 C 46.78 - BVerwGE 59, 221
<227 f.>), kann zu diesen Schutzgütern nämlich auch das Eigen-
tum von Anwohnern, Anliegern oder sonstigen Verkehrsbeein-
trächtigten gehören, soweit etwa die durch den stattfindenden
Verkehr hervorgerufenen physikalischen Kräfte zu dessen Beein-
trächtigung oder gar Zerstörung führen. Denn im Polizei- und
Ordnungsrecht und speziell im hier in Rede stehenden sachlich
begrenzten Ordnungsrecht des öffentlich-rechtlichen Straßen-
verkehrsrechts gilt allgemein, dass eine rechtlich geschützte
Eigentumsposition eine Pflicht der ausführenden Gewalt hervor-
rufen kann, zum Schutze dieses Eigentums einzugreifen.
Mit anderen Worten kann auch eine durch eine unzulässige oder
übermäßige verkehrliche Straßennutzung hervorgerufene Erschüt-
terung eines bebauten Grundstücks - je nach Dauer und Umfang
des Verkehrs sowie der sonstigen kennzeichnenden Gegebenhei-
ten - zu einer rechtserheblichen Beeinträchtigung des Eigentü-
mers in seinem Grundrecht aus Art. 14 GG führen, die dieser
nicht hinzunehmen braucht und der die Straßenverkehrsbehörde
nicht tatenlos zusehen darf, soll ihr nicht der Vorwurf zu ma-
chen sein, durch Nichteinschreiten zu einer beachtlichen Ei-
gentumsbeeinträchtigung bzw. -verletzung mit beigetragen zu
haben (vgl. grundlegend für eine Bauordnungsbehörde: Urteil
vom 18. August 1960 - BVerwG I C 42.59 - BVerwGE 11, 95
<96 f.>).
Vor diesem Hintergrund versteht der erkennende Senat die Vor-
schrift des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 StVO mit der Revision als
Ergänzung der Vorschriften in § 45 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 3 und 4
(sowie einiger Vorschriften in § 45 Abs. 1 a) StVO, die da-
durch gekennzeichnet sind, dass es zwar um verkehrsverursachte
Beeinträchtigungen anderer Schutzgüter als der Sicherheit und
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Leichtigkeit des Verkehrs geht, die aber zweifelsfrei vom
Schutzgut der öffentlichen Sicherheit erfasst wären, wären sie
nicht speziell geregelt. Deswegen vermag der erkennende Senat
der Annahme des angefochtenen Urteils, die auf das Urteil des
OVG Schleswig vom 25. August 1992 (a.a.O., S. 873 f.) zurück-
geht, nicht zu folgen, wonach es derzeit an einer Ermächti-
gungsgrundlage zum Erlass straßenverkehrsrechtlicher Maßnahmen
im Sinne von § 45 StVO zum Schutz der baulichen Substanz von
Gebäuden vor Erschütterungen fehle, die vom Straßenverkehr
ausgehen.
3. Von ihrem rechtlichen Ausgangspunkt her folgerichtig haben
weder die Behörde und die Widerspruchsbehörde noch das Verwal-
tungsgericht die notwendigen Feststellungen getroffen, ob und
inwieweit die von der Klägerin beklagten Erschütterungen und
sonstigen Immissionen im vorstehend dargelegten Verständnis
beachtlich sind und demzufolge ein Einschreiten der Straßen-
verkehrsbehörde rechtfertigen könnten. Eine Bejahung oder Ver-
neinung dieser Frage liegt auch nicht auf der Hand, weil nach
dem Akteninhalt (insbesondere nach dem Inhalt der erstellten
und vom Gericht verwerteten Gutachten) eine rechtlich beacht-
liche Beeinträchtigung der Klägerin nicht auszuschließen ist.
Der erkennende Senat braucht diesen Fragen nicht weiter nach-
zugehen, weil Behörden und Verwaltungsgericht von ihrem Aus-
gangspunkt aus folgerichtig des Weiteren auch keine Ermessens-
betätigung vorgenommen haben bzw. in deren Prüfung eingetreten
sind. Deshalb wäre der Rechtsstreit auch dann nicht zu einer
abschließenden Entscheidung reif, wenn die behaupteten Beein-
trächtigungen ein Einschreiten der Straßenverkehrsbehörde zu
rechtfertigen vermöchten.
Prof. Dr. Driehaus van Schewick Dr. Borgs-Maciejewski
Kimmel Dr. Brunn
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B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes für das Revisionsverfahren
wird - der verwaltungsgerichtlichen Festsetzung entsprechend -
auf 4 090,34 € festgesetzt.
Prof. Dr. Driehaus van Schewick Dr. Brunn
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Straßenverkehrsrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
StVO § 45 Abs. 1 Satz 1, § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5
Stichworte:
Verkehrsbeschränkungen, zugunsten Grundstückseigentümern zum
Schutz vor verkehrsbedingten Erschütterungen; Erschütterungen,
verkehrsbedingte - und Einschreiten der Straßenverkehrsbehör-
de; öffentliche Sicherheit, Schutz von Einzelnen vor verkehrs-
bedingten Beeinträchtigungen durch Vorschrift über -; Sicher-
heit, öffentliche - und Verletzung durch den Einzelnen schädi-
genden Verkehr.
Leitsatz:
§ 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 StVO kann auch Einzelnen einen An-
spruch auf straßenverkehrsbehördliches Einschreiten zum Schutz
vor Eigentumsbeeinträchtigungen durch unzulässigen bzw. über-
mäßigen Verkehr (hier: durch Schwerlastverkehr hervorgerufene
Erschütterungen und Gebäudeschäden) vermitteln.
Urteil des 3. Senats vom 26. September 2002 - BVerwG 3 C 9.02
I. VG Stade vom 08.03.2002 - Az.: VG 1 A 1496/98 -