Urteil des BVerwG vom 14.07.2009

Bewaffneter Konflikt, Irak, Bedrohung, Politische Verfolgung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 9.08
VGH A 2 S 863/06
Verkündet
am 14. Juli 2009
von Förster
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juli 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter sowie
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke
für Recht erkannt:
Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg vom 25. Juni 2007 wird aufgehoben, soweit
er die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG betrifft.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entschei-
dung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der 1983 in Bagdad geborene Kläger erstrebt Abschiebungsschutz wegen der
allgemeinen Gefahrenlage im Irak.
Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit und
sunnitisch-islamischen Glaubens. Im Oktober 2001 reiste er nach Deutschland
ein. Auf seinen Antrag stellte das Bundesamt für die Anerkennung ausländi-
scher Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt -
im Dezember 2001 bestandskräftig fest, dass im Hinblick auf
Verfolgungsgefahren seitens des Regimes von Saddam Hussein die Voraus-
setzungen des Flüchtlingsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 vorliegen.
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Nach dem Sturz dieses Regimes widerrief das Bundesamt die Flüchtlingsaner-
kennung des Klägers wegen der veränderten politischen Verhältnisse im Irak.
Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG nicht vorliegen.
Im Klageverfahren hat das Verwaltungsgericht den Widerrufsbescheid des
Bundesamtes aufgehoben. Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom
25. Juni 2007 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage abge-
wiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, der Widerruf sei
rechtmäßig, weil der Kläger im Irak keine politische Verfolgung mehr zu be-
fürchten habe, die seine Anerkennung als Flüchtling rechtfertige. Der Kläger
könne auch nicht die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG beanspruchen. Insbesondere bestehe kein Anspruch auf Ab-
schiebungsschutz bzw. subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG und
Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (sog.
Qualifikationsrichtlinie). Die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60
Abs. 7 Satz 1 AufenthG komme nicht in Betracht, weil der Kläger sich lediglich
auf allgemeine Gefahren berufe und ihm insoweit aufgrund der baden-
württembergischen Erlasslage ein der gesetzlichen Duldung entsprechender,
gleichwertiger Abschiebungsschutz zustehe. Der Kläger sei bei einer Rückkehr
in den Irak auch keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im
Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15
Buchst. c der Richtlinie ausgesetzt. Zwar dürften die punktuellen bürgerkriegs-
ähnlichen Auseinandersetzungen - insbesondere zwischen Sunniten und Schii-
ten - in Teilgebieten des Zentralirak (vor allem in Bagdad und anderen Städten
im sog. „sunnitischen Dreieck“) die Anforderungen eines innerstaatlichen be-
waffneten Konflikts erfüllen. Den damit verbundenen Gefahren sei aber die ge-
samte Bevölkerung in den „Kampfgebieten“ ausgesetzt. Derart allgemeine Ge-
fahren könnten für eine individuelle Bedrohung noch nicht als ausreichend an-
gesehen werden. Eine individuelle Bedrohung setze darüber hinaus
- zusätzlich - eine auf die betreffende Person zugeschnittene besondere
- konkrete - Gefahrenlage voraus. Dies sei etwa für Mitglieder politischer Par-
teien, für Journalisten sowie für die intellektuelle Elite des Irak anzunehmen.
Hierzu gehöre der Kläger nicht.
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Mit seiner vom erkennenden Senat nur hinsichtlich des Abschiebungsschutzes
nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zugelassenen Revision verfolgt der Kläger
sein Begehren auf Abschiebungsschutz bzw. subsidiären Schutz weiter.
Das Bundesamt tritt der Revision entgegen. Der Vertreter des Bundesinteres-
ses macht geltend, das Berufungsgericht habe Art. 15 Buchst. c der Richtlinie
fehlerhaft angewandt.
II
Der Senat konnte trotz des Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Ver-
handlung über die Revision verhandeln und entscheiden, weil in der Ladung
darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die nur gegen die Versagung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG gerichtete Revision des Klägers ist begründet. Das Berufungsgericht
hat das Vorliegen eines ausländerrechtlichen Abschiebungsverbots nach § 60
Abs. 7 Satz 2 AufenthG mit einer Begründung verneint, die mit Bundesrecht
nicht vereinbar ist (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da der Senat aufgrund der bis-
herigen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht selbst abschließend ent-
scheiden kann, ob der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines solchen
Abschiebungsverbots hat, war die Berufungsentscheidung hinsichtlich des Ab-
schiebungsschutzes nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG aufzuheben und die Sa-
che insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Beru-
fungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG in der neuen, seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umset-
zung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom
19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - im Folgenden: Richtlinienumsetzungsge-
setz - am 28. August 2007 geltenden Fassung (vgl. Fassung der Bekanntma-
chung vom 25. Februar 2008 ). Denn nach ständiger Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Rechtsänderungen, die nach
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der Berufungsentscheidung eintreten, vom Revisionsgericht dann zu berück-
sichtigen, wenn sie das Berufungsgericht, wenn es jetzt entschiede, zu beach-
ten hätte. Da es sich vorliegend um eine asylverfahrensrechtliche Streitigkeit
handelt, bei der das Berufungsgericht nach § 77 Abs. 1 AsylVfG regelmäßig auf
die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner letzten mündlichen Verhandlung
oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es, wenn es jetzt entschiede, die
neue Rechtslage zugrunde legen (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C
43.07 - BVerwGE 131, 198 = Buchholz 451.902 Europäisches Asyl- und Aus-
länderrecht Nr. 22 Rn. 10).
Die nach der Berufungsentscheidung eingetretene Rechtsänderung hat zur
Folge, dass sich im Asylverfahren von Gesetzes wegen der Streitgegenstand
bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG geändert hat und im vorliegenden Verfahren hinsichtlich der vom
Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak geltend gemachten Gefahren die
Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG einen eigen-
ständigen, vorrangig vor den sonstigen herkunftslandbezogenen ausländer-
rechtlichen Abschiebungsverboten zu prüfenden Streitgegenstand bzw. einen
abtrennbaren Streitgegenstandsteil bilden. Dementsprechend erstrebt der Klä-
ger sachdienlicherweise in erster Linie die Verpflichtung zur Feststellung eines
Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (gemäß den
Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie
2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Aner-
kennung oder den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als
Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benöti-
gen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EG Nr. L 304
S. 12; ber. ABl EG vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24 - sog. Qualifikations-
richtlinie). Für den Fall, dass seine Klage insoweit keinen Erfolg hat, begehrt er
hilfsweise die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach
§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf den Irak. Diese Abstufung be-
rücksichtigt die mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes eingetrete-
ne Änderung des Streitgegenstands bei der Feststellung von Abschiebungs-
verboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG und entspricht nunmehr der typi-
schen Interessenlage eines Klägers, der - wie im vorliegenden Verfahren - nach
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rechtskräftigem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ausländerrechtlichen Ab-
schiebungsschutz in Bezug auf sein Heimatland begehrt (vgl. hierzu Urteil vom
24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - a.a.O. Rn. 11).
Hinsichtlich der auf Gemeinschaftsrecht zurückgehenden Abschiebungsverbote
nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG, die Gegenstand des Hauptantrags
sind, kommt nach dem eigenen Vorbringen des Klägers in erster Linie das Ab-
schiebungsverbot im Falle eines innerstaatlichen oder internationalen bewaff-
neten Konflikts nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG (Art. 15 Buchst. c der Richtli-
nie) in Betracht (zum Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG - Art. 15
Buchst. b der Richtlinie - wegen der Gefahrenlage im Irak vgl. EGMR, Urteil
vom 20. Januar 2009 - Az: 32621/06 - Newsletter Menschenrechte 2009/1).
Das Berufungsgericht hat insoweit die Voraussetzungen für die Gewährung
dieses gemeinschaftsrechtlich vorgegebenen Abschiebungsschutzes rechtsfeh-
lerhaft ausgelegt. Seine Entscheidung beruht auf der Rechtsverletzung.
Das durch das Richtlinienumsetzungsgesetz neu in das Aufenthaltsgesetz ein-
gefügte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dient der Um-
setzung der Regelung über den subsidiären Schutz nach Art. 15 Buchst. c der
Richtlinie (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom
23. April 2007 zu § 60 AufenthG, BTDrucks 16/5065 S. 187 zu Buchst. d). Nach
§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen
anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung
einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines
internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die
Bestimmung entspricht trotz teilweise geringfügig abweichender Formulierung
den Vorgaben des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie (vgl. nochmals Urteil vom
24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - a.a.O. Rn. 17).
Das Berufungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen des jetzt in § 60
Abs. 7 Satz 2 AufenthG geregelten Abschiebungsverbots mit der Begründung
verneint, dass die allgemeinen Gefahren im Irak, auf die sich der Kläger beruft,
ohne individuelle gefahrerhöhende Umstände keine individuelle Gefahr im Sin-
ne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bzw. keine individuelle Bedrohung im Sin-
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ne des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie darstellen könnten. Es hat - aus dieser
Sicht folgerichtig - auch keine Feststellungen dazu getroffen, welches Ausmaß
die allgemeinen Gefahren im Rahmen des von ihm angenommenen bewaffne-
ten Konflikts in Teilen des Irak haben. Diese Rechtsauffassung ist mit Bundes-
recht nicht vereinbar.
Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C
43.07 - (a.a.O.) ausgeführt, dass sich auch eine allgemeine Gefahr, die von
einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgeht, indivi-
duell so verdichten kann, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr im Sinne
des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellt und damit die Voraussetzungen die-
ser Vorschrift und des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erfüllt (Rn. 34). Die Frage,
unter welchen Voraussetzungen eine solche Verdichtung angenommen werden
kann, hat der Senat seinerzeit ebenso wie die Auslegung des Begriffs der will-
kürlichen Gewalt als mögliche gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage bezeich-
net und auf das beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH)
anhängige Vorlageverfahren C-465/07 des Niederländischen Raad van State
verwiesen (Rn. 34). Inzwischen hat der Gerichtshof diese Fragen mit Urteil vom
17. Februar 2009 - Rs. C-465/07 - (Elgafaji) grundsätzlich geklärt und sie im
Wesentlichen ebenso beurteilt wie der Senat in dem erwähnten Urteil vom
24. Juni 2008.
Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat im Urteil vom
17. Februar 2009 ausgeführt, das Adjektiv „individuell“ in Art. 15 Buchst. c der
Richtlinie sei dahin zu verstehen, dass es sich auf schädigende Eingriffe bezie-
he, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richteten, wenn der
den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Ge-
walt ein so hohes Niveau erreiche, dass stichhaltige Gründe für die Annahme
bestünden, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land
oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im
Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernst-
haften Bedrohung im Sinne der Richtlinie ausgesetzt zu sein (Rn. 35). Dieser
Auslegung stehe der Wortlaut des 26. Erwägungsgrundes der Richtlinie nicht
entgegen. Auch wenn dieser Erwägungsgrund impliziere, dass die objektive
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Feststellung einer Gefahr, die mit der allgemeinen Lage eines Landes im Zu-
sammenhang stehe, allein grundsätzlich nicht genüge, um den Tatbestand des
Art. 15 Buchst. c der Richtlinie hinsichtlich einer bestimmten Person als erfüllt
anzusehen, bleibe doch durch die Verwendung des Wortes „normalerweise“ der
Fall einer außergewöhnlichen Situation vorbehalten, die durch einen so hohen
Gefahrengrad gekennzeichnet sei, dass stichhaltige Gründe für die Annahme
bestünden, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre
(Rn. 36 und 37). Der Ausnahmecharakter einer solchen Situation werde auch
durch den subsidiären Charakter des in Frage stehenden Schutzes und durch
die Systematik des Art. 15 der Richtlinie bestätigt, da die in Art. 15 Buchst. a
und b definierten Schäden einen klaren Individualisierungsgrad voraussetzten.
Auch wenn kollektive Gesichtspunkte für die Anwendung des Art. 15 Buchst. c
der Richtlinie eine bedeutende Rolle in dem Sinne spielten, dass die fragliche
Person zusammen mit anderen Personen zu einem Kreis von potentiellen
Opfern willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder
innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gehöre, ändere dies nichts daran, dass
diese Vorschrift systematisch im Verhältnis zu den beiden anderen Tatbestän-
den des Art. 15 der Richtlinie und deshalb in enger Beziehung zu dieser Indivi-
dualisierung auszulegen sei (Rn. 38). Dies sei dahin zu präzisieren, dass der
Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen müsse, damit der Antragsteller An-
spruch auf subsidiären Schutz habe, um so geringer sein werde, je mehr er
möglicherweise zu belegen vermöge, dass er aufgrund von seiner persönlichen
Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen sei (Rn. 39).
Diese Ausführungen entsprechen weitgehend dem, was der Senat - mit ande-
ren Worten - in dem erwähnten Urteil vom 24. Juni 2008 ausgeführt hat. Wenn
der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften verlangt, dass der den be-
waffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Ni-
veau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine
Zivilperson bei einer Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit in dem betreffen-
den Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des
Art. 15 Buchst. c der Richtlinie ausgesetzt zu sein, entspricht dies der Sache
nach der vom Senat für erforderlich gehaltenen individuellen Verdichtung der
allgemeinen Gefahr. Auch nach Auffassung des Gerichtshofs kann sich eine
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derartige Individualisierung der allgemeinen Gefahr aus gefahrerhöhenden
Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Eine solche Individualisie-
rung kann aber unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außerge-
wöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad ge-
kennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwe-
senheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung
ausgesetzt wäre.
Mit dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften
und des Bundesverwaltungsgerichts ist die Entscheidung des Berufungsge-
richts nicht vereinbar. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des
Berufungsgerichts lässt sich nicht abschließend beurteilen, ob sich die Beru-
fungsentscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4
VwGO) oder ob die Klage, soweit sie noch anhängig ist, Erfolg hat (§ 144
Abs. 3 Nr. 1 VwGO). Das Verfahren ist deshalb an das Berufungsgericht zu-
rückzuverweisen. In dem erneuten Berufungsverfahren wird das Berufungsge-
richt die fehlenden Feststellungen zum Vorliegen eines innerstaatlichen be-
waffneten Konflikts und zu den weiteren Voraussetzungen des § 60 Abs. 7
Satz 2 AufenthG einschließlich der Möglichkeit, internen Schutz zu erlangen,
nachzuholen haben. Hierbei sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen:
Das Berufungsgericht wird zu prüfen haben, ob für den Kläger im Irak oder in
Teilen des Irak eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben infolge
willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts besteht. Da nach
den bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts beim Kläger keine indivi-
duellen gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, kann eine erhebliche individu-
elle Gefahr in diesem Sinne nur dann angenommen werden, wenn die im Irak
drohenden allgemeinen Gefahren eine derart hohe Dichte bzw. einen derart
hohen Grad aufweisen, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer
Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. Der in-
nerstaatliche bewaffnete Konflikt muss sich dabei nicht auf das gesamte
Staatsgebiet erstrecken (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 -
a.a.O. Rn. 25), wofür hier nach den bisherigen Feststellungen des Berufungs-
gerichts im Übrigen auch wenig spricht. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der
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beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Be-
drohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die
Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren
wird. Auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften spricht in seiner
Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom „tatsächlichen Zielort“ des Ausländers
bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (a.a.O. Rn. 40). Auf einen bewaffne-
ten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur aus-
nahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb
seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbrin-
gen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur
eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (vgl. Art. 2
Buchst. e der Richtlinie).
Ergibt sich, dass in der für ihn maßgeblichen Region eine individuelle Bedro-
hung des Klägers wegen eines außergewöhnlich hohen Niveaus allgemeiner
Gefahren im Rahmen eines bewaffneten Konflikts anzunehmen ist, ist weiter zu
prüfen, ob der Kläger in anderen Teilen des Irak, in denen derartige Gefahren
nicht bestehen, internen Schutz gemäß Art. 8 der Richtlinie finden kann (vgl.
dazu Senatsurteil vom 29. Mai 2008 - BVerwG 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186
Rn. 30 ff. und 35; vgl. ferner EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009, a.a.O.
Rn. 40). Diese Prüfung hat das Berufungsgericht bisher unterlassen. Der Beru-
fungsentscheidung sind keine tatsächlichen Feststellungen zu entnehmen, die
dem Senat insoweit eine eigene Beurteilung erlauben.
Gegebenenfalls wird das Berufungsgericht auch über den vom Kläger hilfsweise
geltend gemachten Anspruch auf (nationalen) Abschiebungsschutz nach § 60
Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu entscheiden haben.
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Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Dr. Mallmann
Prof. Dr. Dörig
Richter
Beck
Fricke
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Asylrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AufenthG
§ 60 Abs. 7 Satz 2
Richtlinie 2004/83/EG Art. 2 Buchst. e, Art. 8, Art. 15 Buchst. c
Stichworte:
Abschiebungsschutz wegen innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Irak); sub-
sidiärer Schutz; Qualifikationsrichtlinie; Zivilbevölkerung; allgemeine Gefahren;
extreme Gefahrendichte; erhebliche individuelle Gefahr; individuelle Bedrohung;
Herkunftsregion; tatsächlicher Zielort bei Rückkehr.
Leitsätze:
1. Eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Sinne von § 60
Abs. 7 Satz 2 AufenthG, die zugleich die entsprechenden Voraussetzungen des
Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) erfüllt,
kann sich auch aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Zivilperso-
nen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in
der Person des Ausländers verdichtet.
a) Eine solche Verdichtung bzw. Individualisierung kann sich aus gefahr-erhö-
henden Umständen in der Person des Ausländers ergeben.
b) Sie kann unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnli-
chen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeich-
net ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem
betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre
(ebenso EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - Rs. C-465/07 - Elgafaji).
2. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit einem solchen Gefahrengrad nicht lan-
desweit, kommt eine individuelle Bedrohung in der Regel nur in Betracht, wenn
der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Ausländers erstreckt, in die er ty-
pischerweise zurückkehrt.
Urteil des 10. Senats vom 14. Juli 2009 - BVerwG 10 C 9.08
I. VG Sigmaringen vom 07.03.2006 - Az.: VG A 3 K 10372/05 -
II. VGH Mannheim vom 25.06.2007 - Az.: VGH A 2 S 863/06 -