Urteil des BVerwG vom 01.03.2012

Änderung der Verhältnisse, Bundesamt, Genfer Flüchtlingskonvention, Republik Togo

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 8.11
OVG 2 L 214/08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 1. März 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird der Beschluss des
Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom
17. März 2011 aufgehoben.
Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht zur an-
derweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwie-
sen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung, dass er nicht mehr Flüchtling
ist.
Der 1970 geborene Kläger ist togoischer Staatsangehöriger. Er reiste 2000
nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Das Bundesamt für die Anerken-
nung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge)
- Bundesamt - lehnte den Asylantrag ab. Im gerichtlichen Verfahren stellte das
Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 15. November 2005 hinsichtlich des
Klägers das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flücht-
lingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG fest.
Anfang 2008 leitete das Bundesamt wegen der in Togo zwischenzeitlich einge-
tretenen politischen Veränderungen ein Aufhebungsverfahren ein. Nach Anhö-
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rung stellte es mit Bescheid vom 25. April 2008 fest, dass beim Kläger die Vor-
aussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Republik Togo nicht
mehr vorliegen. Von einer Feststellung über das Vorliegen von Abschiebungs-
verboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wurde abgesehen, da die Entschei-
dung aus Gründen der Statusbereinigung erfolge. Die gegen diesen Bescheid
erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Schwerin mit Urteil vom 2. Sep-
tember 2008 abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-
Vorpommern mit Beschluss vom 17. März 2011 die erstinstanzliche Entschei-
dung geändert und den Bescheid des Bundesamts aufgehoben. Zur Begrün-
dung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Es könne offenbleiben, ob der ange-
fochtene Bescheid schon deshalb rechtswidrig sei, weil die durch ihn widerrufe-
ne Flüchtlingsanerkennung nicht durch einen behördlichen Bescheid, sondern
durch eine Gerichtsentscheidung erfolgt sei. Jedenfalls lägen die Vorausset-
zungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für einen Widerruf nicht vor. Die maßgeblichen
Verhältnisse in Togo hätten sich nicht so verändert, dass bei einer Rückkehr
eine Verfolgung auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlos-
sen sei.
Die Beklagte erstrebt mit der Revision die Wiederherstellung des erstinstanzli-
chen Urteils. Zur Begründung macht sie geltend, das Berufungsgericht habe
seiner Verfolgungsprognose einen falschen Wahrscheinlichkeitsmaßstab
zugrunde gelegt.
Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung.
II
Die Revision, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne münd-
liche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125
Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist zulässig und begründet. Der Beschluss des Beru-
fungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1
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VwGO). Der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids steht nicht entge-
gen, dass die Flüchtlingsanerkennung des Klägers auf einer rechtskräftigen
gerichtlichen Feststellung beruht (1.). Das Berufungsgericht hat die Rechtmä-
ßigkeit des Bescheids mit einer Begründung verneint, die mit § 73 Abs. 1 Satz 1
und 2 AsylVfG nicht zu vereinbaren ist (2.). Die Berufungsentscheidung stellt
sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4
VwGO) (3.). Mangels der für eine abschließende Entscheidung notwendigen
tatsächlichen Feststellungen kann der Senat in der Sache nicht selbst abschlie-
ßend entscheiden. Das Verfahren ist daher zur weiteren Verhandlung und Ent-
scheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1
Nr. 2 VwGO) (4.).
1. Der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids, mit dem das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - festgestellt hat, dass der Kläger die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr erfüllt, steht nicht ent-
gegen, dass die Flüchtlingsanerkennung des Klägers auf einer rechtskräftigen
gerichtlichen Feststellungsentscheidung beruht.
Diese Feststellung ist zwar rechtswidrig, weil die Verwaltungsgerichte nach
§ 113 Abs. 2 Satz 1 VwGO eine durch Verwaltungsakt getroffene Feststellung
nur dann durch eine andere Feststellung ersetzen können, wenn der Verwal-
tungsakt eine auf einen Geldbetrag bezogene Feststellung betrifft. Die Feststel-
lung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG ist daher
mit der Verpflichtungsklage zu erstreiten (vgl. Urteil vom 23. November 1999
- BVerwG 9 C 16.99 - BVerwGE 110, 111 <113> für den Fall eines gerichtlich
festgestellten Abschiebungshindernisses nach § 53 AuslG 1990). Das Bundes-
amt ist aber nicht befugt, die gerichtliche Entscheidung in ihrem Ausspruch zu
ändern. Liegen die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung wegen
nachträglicher Änderung der Sachlage nicht mehr vor, ist es jedoch zulässig,
dass das Bundesamt - wie hier geschehen - eine (neuerliche) Feststellung
durch Verwaltungsakt trifft, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1
AufenthG nicht mehr vorliegen. Dieser Verwaltungsakt ist auf das gleiche Ziel
gerichtet wie ein Widerruf, nämlich mit Wirkung für die Zukunft festzustellen,
dass der Betroffene die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung nicht
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mehr erfüllt und damit nicht mehr Flüchtling ist. Für den Erlass dieses Verwal-
tungsakts ist das Bundesamt in gleicher Weise sachlich zuständig, wie es für
den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung, die es aufgrund eines Verpflich-
tungsurteils hätte treffen müssen, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 73
Abs. 1 AsylVfG zuständig gewesen wäre. Der Umstand, dass ein Widerruf we-
gen der gerichtlichen Feststellung nicht möglich ist, sondern in anderer Weise
über das Fortbestehen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu ent-
scheiden ist, lässt die Zuständigkeit des Bundesamts nicht entfallen. Sie ergibt
sich für diesen Sonderfall aus einer entsprechenden Anwendung der in § 73
Abs. 1 AsylVfG enthaltenen gesetzlichen Zuständigkeitsbestimmung (vgl. Urteil
vom 23. November 1999 a.a.O. <115>).
Dem Erlass eines negativen Feststellungsbescheids durch das Bundesamt
steht auch nicht die Rechtskraft der gerichtlichen Feststellungsentscheidung
entgegen. Die Rechtskraftbindung des § 121 VwGO verbietet zwar grundsätz-
lich jede erneute und erst recht jede abweichende Verwaltungs- und Gerichts-
entscheidung. Diese Bindungswirkung endet aber bei einer nachträglichen Än-
derung der Sach- oder Rechtslage. § 121 VwGO steht daher einem Bescheid
des Bundesamts nicht entgegen, der feststellt, dass wegen veränderter Um-
stände die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr vorliegen
(vgl. Urteil vom 23. November 1999 a.a.O. <116>).
2. Die Begründung, mit der das Berufungsgericht die Rechtmäßigkeit des ange-
fochtenen Bescheids verneint hat, hält einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht
stand. Im Falle einer auf einer rechtskräftigen gerichtlichen Verpflichtung beru-
henden Flüchtlingsanerkennung hat das Bundesamt anstelle eines Widerrufs in
entsprechender Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG festzustellen,
dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr vorliegen. Bei
dieser Feststellung, die im vorliegenden Fall formell nicht zu beanstanden ist
(vgl. hierzu Urteil vom 29. September 2011 - BVerwG 10 C 24.10 - juris
Rn. 11 ff.), ist für die Verfolgungsprognose auf den Maßstab der beachtlichen
Verfolgungswahrscheinlichkeit abzustellen, den das Berufungsgericht verfehlt
hat.
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2.1 In entsprechender Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist eine ne-
gative Feststellung über die Flüchtlingseigenschaft mit Wirkung für die Zukunft
zu treffen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist ge-
mäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer
nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in An-
spruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Mit dieser Regelung
hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1
Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über
Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen
oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internatio-
nalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes
(ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204
vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach
Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Voraus-
setzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG sind daher unionsrechtskonform
im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich
ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - ori-
entieren (vgl. Urteile vom 24. Februar 2011 - BVerwG 10 C 3.10 - BVerwGE
139, 109 Rn. 9 und vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - InfAuslR 2011,
408 Rn. 15, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE
vorgesehen). Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlings-
eigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 2. März 2010
(Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505) weiter konkretisiert. Danach
muss die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend
sein, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begrün-
det angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Ver-
hältnisse im Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen Verfol-
gungsprognose verbunden. Diese hat nach Umsetzung der Richtlinie
2004/83/EG anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu er-
folgen (vgl. dazu im Einzelnen: Urteil des Senats vom heutigen Tage im Verfah-
ren BVerwG 10 C 7.11 Rn. 12 f. m.w.N.).
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2.2 Das Berufungsgericht hat vorliegend eine solche erhebliche und dauerhafte
Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer fehler-
haften Verfolgungsprognose verneint. Denn es hat seiner Verfolgungsprognose
nicht den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit, sondern
den der hinreichenden Verfolgungssicherheit zugrunde gelegt (BA S. 4). Dies
bekräftigt im Übrigen auch der Hinweis des Berufungsgerichts, dass es im Jahr
2008 in einem Anerkennungsverfahren bei Anwendung eines anderen Wahr-
scheinlichkeitsmaßstabs zu einem anderen Ergebnis gelangt sei (BA S. 6).
2.3 Die Berufungsentscheidung beruht auf dieser Verletzung des § 73 Abs. 1
Satz 1 und 2 AsylVfG. Der Kläger ist zwar erst Ende 2005 und damit nach dem
Tod des früheren Präsidenten Eyadema (Anfang 2005) als Flüchtling anerkannt
worden. Das Bundesamt hat aber nicht nur den Tod Eyademas, sondern auch
den von seinem Sohn im April 2006 - und damit nach der Flüchtlingsanerken-
nung des Klägers - eingeleiteten strukturierten Dialog mit der Opposition zum
Anlass für eine Überprüfung des Flüchtlingsstatus genommen. Dieser nach der
Anerkennung des Klägers eingetretene Umstand begründet schon für sich eine
nachträgliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland. Das
Berufungsgericht hatte daher zu prüfen, ob es sich hierbei um eine hinreichend
erhebliche und dauerhafte Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11
Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG handelt, weil sich eine signifikant und ent-
scheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose erge-
ben hat, so dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr
besteht (Urteil vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 20, 23). Seine Bewertung, dass die
bisherigen Machtstrukturen des früheren Regimes Eyadema sich nicht wesent-
lich verändert hätten, beruht demgegenüber auf einer Verfolgungsprognose, der
ein rechtlich unzutreffender Maßstab zugrunde liegt. Sie enthält keine Aussage
zur Wesentlichkeit der Veränderungen in Bezug auf den anzuwendenden Prog-
nosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen
Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die tatsächlichen
Feststellungen des Berufungsgerichts zu den asylerheblichen Verhältnissen in
Togo erlauben dem Senat keine eigene Verfolgungsprognose auf der Grundla-
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ge des zutreffenden Prognosemaßstabes. Insoweit wird zur weiteren Begrün-
dung Bezug genommen auf die Ausführungen im Urteil des Senats vom heuti-
gen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 7.11 (Rn. 16). In diesem Verfahren hat das
Berufungsgericht mit gleichlautender Begründung den Widerruf einer Flücht-
lingsanerkennung aufgehoben.
4. Das Berufungsgericht wird in dem neuen Berufungsverfahren prüfen müssen,
ob sich die Verhältnisse in Togo inzwischen so erheblich und nicht nur vorüber-
gehend geändert haben, dass für den Kläger bei einer Rückkehr keine beachtli-
che Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht. Auch insoweit wird Be-
zug genommen auf die Ausführungen im Urteil des Senats vom heutigen Tag
im Verfahren BVerwG 10 C 7.11 (Rn. 18). Dabei hat das Berufungsgericht im
vorliegenden Verfahren zu berücksichtigen, dass der Kläger sich nach eigenen
Angaben nach seiner Anerkennung weiterhin gegen das aktuelle Regime in
Togo exilpolitisch betätigt hat. Auch wird es der Frage nachzugehen haben, ob
er wegen seiner Zugehörigkeit zum Stamm der Kabye, der Heimatethnie so-
wohl des früheren als auch des jetzigen Präsidenten, weiterhin in höherem
Maße der Gefahr einer Verfolgung aus politischen Gründen ausgesetzt ist.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Gerichts-
kosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert er-
gibt sich aus § 30 RVG.
VRiBVerwG Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Beck
ist wegen Urlaubs verhindert
zu unterschreiben.
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
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