Urteil des BVerwG vom 17.03.2004

Entlassung, Besitz, Klagebegehren, Ermessen

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 5.03 (1 PKH 19.03)
VGH 13 S 880/00
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. März 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n , H u n d ,
R i c h t e r und Prof. Dr. D ö r i g
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg
vom 12. September 2002 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbe-
halten.
G r ü n d e :
I.
Der Kläger erstrebt seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.
Der im Jahr 1971 geborene Kläger ist französischer Staatsangehöriger. Er lebt seit
1975 in Deutschland. Seine Mutter ist Deutsche, sein französischer Vater ist verstor-
ben. Der Kläger war in der Zeit vom 3. Mai 1988 bis 2. Mai 1989 und vom 6. De-
zember 1990 bis 5. Dezember 1991 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis und vom
27. Februar 1992 bis 5. Dezember 1996 sowie vom 26. Mai 1998 bis 25. Mai 1999 im
Besitz einer Aufenthaltserlaubnis-EG. Bis auf den Verlängerungsantrag vom 14. No-
vember 1991 hatte er alle Anträge erst nach Ablauf der Geltungsdauer der vorange-
gangenen Aufenthaltserlaubnisse gestellt. Vom 13. Juli 1993 bis zum 17. März 1998
war er nicht im Besitz eines gültigen französischen Ausweispapiers.
Der Kläger wurde in der Vergangenheit mehrfach straffällig. So wurde er mit Urteil
des Amtsgerichts O. vom 10. November 1988 wegen Raubes, versuchten Raubes,
Diebstahls in drei Fällen, versuchten Diebstahls, Hehlerei in zwei Fällen und gefährli-
cher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Voll-
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streckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nachdem der Kläger im Juni und Au-
gust 1989 zwei weitere Diebstahlsdelikte begangen hatte, widerrief das Amtsgericht
O. die Strafaussetzung zur Bewährung. Der Kläger wurde dann durch Urteil des
Amtsgerichts O. vom 19. Oktober 1989 wegen Diebstahls in zwei Fällen unter Einbe-
ziehung des Urteils vom 10. November 1988 zu einer Jugendstrafe von einem Jahr
und drei Monaten verurteilt. In der Zeit vom 7. August 1989 bis 28. Juni 1990 befand
er sich in Strafhaft. Die Vollstreckung des Strafrestes wurde sodann zur Bewährung
ausgesetzt. Die Restjugendstrafe wurde nach Ablauf der Bewährungsfrist erlassen
und der Strafmakel gleichzeitig für beseitigt erklärt. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts
O. vom 5. Oktober 1993 wurde der Kläger wegen eines Vergehens des Fahrens oh-
ne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen verurteilt.
Am 12. Juni 1991 beantragte der Kläger erstmals seine Einbürgerung. Dieser Antrag
wurde vom Landratsamt Ortenaukreis mit - bestandskräftig gewordenem - Bescheid
vom 14. November 1991 unter Hinweis auf seine wiederholte Straffälligkeit abge-
lehnt. Am 17. Januar 1995 beantragte der Kläger erneut seine Einbürgerung. Diesen
Antrag lehnte das Landratsamt Ortenaukreis mit Bescheid vom 4. Oktober 1995 un-
ter Hinweis darauf ab, dass der Einbürgerung unter anderem die Verurteilung zu ei-
ner Freiheitsstrafe von 15 Monaten entgegenstehe. Von dieser Verurteilung könne
nicht nach § 88 AuslG abgesehen werden. Den hiergegen erhobenen Widerspruch
wies das Regierungspräsidium Freiburg mit Widerspruchsbescheid vom 14. Sep-
tember 1998 zurück.
Das Verwaltungsgericht Freiburg hat mit Urteil vom 14. Juli 1999 den Beklagten un-
ter Aufhebung des Bescheids vom 4. Oktober 1995 und des Widerspruchsbescheids
vom 14. September 1998 verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Einbürgerung
unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übri-
gen hat es die vom Kläger erhobene Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es
ausgeführt: Der Kläger habe zwar keinen Rechtsanspruch auf Einbürgerung, der
Einbürgerungsbehörde sei jedoch durch § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG ein Ermessen er-
öffnet, das sie bislang noch nicht ausgeübt habe. Auf die Berufung des Beklagten hat
der Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die
Klage in vollem Umfang abgewiesen (vgl. EZAR 271 Nr. 37). Die Einbürgerung
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scheitere an dem gesetzlichen Ausschlussgrund, dass der Einbürgerungsbewerber
nicht wegen einer Straftat verurteilt sein dürfe. Von dieser Voraussetzung der Straf-
freiheit sei hier nach § 88 AuslG weder zwingend abzusehen noch sei der Behörde
insoweit ein Ermessen eröffnet. Die Verurteilung zu einer Jugendstrafe bleibe nicht
nach § 88 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 AuslG außer Betracht. Insbesondere greife § 88
Abs. 1 AuslG nicht, denn eine Jugendstrafe sei weder Freiheitsstrafe im Sinne des
§ 88 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AuslG noch eine Strafe im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 2
AuslG. Eine Ermessenseinbürgerung nach § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG sei jedenfalls
dann ausgeschlossen, wenn der Einbürgerungsbewerber zu einer Jugendstrafe ver-
urteilt worden sei, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Be-
scheidungsantrag mit dem Ziel weiter, trotz der strafrechtlichen Verurteilung einge-
bürgert zu werden. Mit Schriftsatz vom 10. März 2004 teilte der Beklagte mit, nach-
dem im Verlauf des Revisionsverfahrens die strafgerichtliche Verurteilung getilgt
worden sei, erteile er dem Kläger eine Einbürgerungszusicherung. An der Einbürge-
rung sehe er sich derzeit noch gehindert, weil es hierfür der Entlassung des Klägers
aus der französischen Staatsangehörigkeit bedürfe. Darüber hinaus komme es auf
dessen aktuelle Einkommensverhältnisse zur Beurteilung seiner Unterhaltsfähigkeit
an. Da er den Kläger so weit wie möglich klaglos gestellt habe, erkläre er insoweit die
Erledigung des Rechtsstreits.
Der Kläger hält auch unter Berücksichtigung der Einbürgerungszusicherung gemäß
Schreiben vom 10. März 2004 an seinem Revisionsbegehren fest und beantragt,
die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts
Freiburg vom 14. Juli 1999 zurückzuweisen.
Der Beklagte tritt der Revision entgegen und verteidigt die Entscheidung des Beru-
fungsgerichts. Der im Verlauf des Revisionsverfahrens eingetretenen Änderung der
Sachlage habe er durch die erteilte Einbürgerungszusicherung Rechnung getragen.
Deshalb sei der Rechtsstreit erledigt. Ein Rechtsschutzbedürfnis für den Beschei-
dungsantrag des Klägers bestehe nicht mehr.
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II.
Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten damit
einverstanden sind (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Revision ist begründet. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist die vom
Kläger angestrebte Einbürgerung, auch wenn er sein Klagebegehren auf die ihm
vom Verwaltungsgericht zuerkannte Neubescheidung beschränkt hat (vgl. hierzu
Clausing in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, § 121 VwGO Rn. 92). Entgegen der
Rechtsauffassung des Beklagten ist durch die mittlerweile erteilte Einbürgerungszu-
sicherung weder der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt noch das Rechtsschutz-
interesse für das Klagebegehren entfallen. Denn die Einbürgerungszusicherung des
Beklagten verbessert zwar die Rechtsposition des Klägers, gewährt ihm aber noch
nicht die erstrebte Einbürgerung. Zudem hat der Beklagte dargelegt, noch nicht ab-
schließend über das Einbürgerungsbegehren entscheiden zu können, da dies noch
von der Entlassung des Klägers aus der französischen Staatsangehörigkeit und von
der Klärung seiner Unterhaltsfähigkeit abhänge. Er hat sich damit ausdrücklich die
Prüfung vorbehalten, ob die gesetzlichen Voraussetzungen des § 86 Abs. 1 Nrn. 1
und 3 AuslG in der hier - angesichts der Stellung des Einbürgerungsantrags am
17. Januar 1995 - maßgeblichen Fassung vom 29. Oktober 1997 (BGBl I S. 2584 -
AuslG a.F.) erfüllt sind (vgl. § 102 a AuslG in der Fassung vom 9. Januar 2002
). Die Erteilung der vom Kläger begehrten Einbürgerung steht somit
weiter im Streit, auch wenn sich der Beklagte nicht mehr auf das Einbürgerungshin-
dernis der strafgerichtlichen Verurteilung nach § 86 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a.F. beruft.
Da es zur Klärung der noch offenen Einbürgerungsvoraussetzungen weiterer tat-
sächlicher Feststellungen bedarf, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
VwGO).
Allerdings hat das Berufungsgericht das auf Neubescheidung seines Einbürgerungs-
antrags beschränkte Begehren des Klägers wegen der im Zeitpunkt der Berufungs-
entscheidung - vor der Tilgung im Bundeszentralregister - noch entgegenstehenden
strafgerichtlichen Verurteilung mit Recht zurückgewiesen. Die gegen den Kläger ver-
hängte Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten durfte bei Bescheidung des
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Einbürgerungsbegehrens nicht unberücksichtigt bleiben. Die Voraussetzungen des
§ 88 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 AuslG lagen nicht vor. Mit Recht hat das Berufungs-
gericht aus Wortlaut, Systematik und Zweck der Vorschrift abgeleitet, dass § 88
Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AuslG nur Verurteilungen nach Erwachsenenstrafrecht erfasst
(so schon Urteil vom 16. November 2000 - BVerwG 9 C 4.00 - BVerwGE 112, 180
<184>; vgl. auch Urteil vom 19. November 1996 - BVerwG 1 C 25.94 - Buchholz
402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 11; ebenso Marx, Staatsangehörigkeitsrecht, § 88
AuslG Rn. 5). Eine Jugendstrafe ist weder eine Freiheitsstrafe im Sinne des § 88
Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 noch eine Strafe im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG. Für die
Verurteilung zu Jugendstrafe trifft § 88 Abs. 2 AuslG eine Sonderregelung. Zutreffend
ist das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass für eine Ermessensent-
scheidung nach § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG jedenfalls dann kein Raum ist - und zwar
auch nicht im Wege der entsprechenden Anwendung -, wenn der Einbürgerungsbe-
werber zu einer Jugendstrafe ohne Bewährung verurteilt worden ist (so auch Renner,
Nachtrag "Staatsangehörigkeitsrecht" zur 7. Aufl. des Kommentars zum Ausländer-
recht, § 88 AuslG Rn. 4).
Die Verurteilung aus dem Jahr 1989 steht aber nach der Tilgung der in Rede stehen-
den Verurteilungen und dem daraus folgenden Verwertungsverbot (§ 51 BZRG) der
Einbürgerung des Klägers nicht mehr entgegen. Der Senat kann diese im Revisions-
verfahren eingetretene unstreitige Tatsache seiner Entscheidung auch zugrunde le-
gen, weil ihre Berücksichtigung einer endgültigen Erledigung des Rechtsstreits um
die Einbürgerung des Klägers dient (vgl. zuletzt etwa Urteil des Senats vom 20. Feb-
ruar 2001 - BVerwG 9 C 20.00 - BVerwGE 114, 16 <25 f.> m.w.N.). Es würde eine
erhebliche Verlängerung des Verfahrens bedeuten, wenn der Senat heute über den
seit neun Jahren anhängigen Einbürgerungsantrag ohne Berücksichtigung der Til-
gung der verhängten Verurteilung entschiede und der Kläger unter Umständen ein
neues Einbürgerungsverfahren betreiben müsste, falls die noch ungeklärten weiteren
Einbürgerungsvoraussetzungen zwischen den Beteiligten streitig werden sollten.
Der Senat kann aufgrund des Fehlens der erforderlichen Tatsachenfeststellungen
nicht selbst entscheiden, ob der Kläger einen Anspruch auf Einbürgerung nach § 86
AuslG a.F. hat. Nach dem Inhalt der Einbürgerungszusicherung des Beklagten
hängt dies - wie oben bereits dargelegt - nur noch von der Entlassung des Klägers
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aus der französischen Staatsbürgerschaft und der Prüfung seiner Unterhaltsfähigkeit
ab. Für die Frage, ob vom Kläger die Entlassung aus seiner bisherigen Staatsange-
hörigkeit verlangt werden kann - wie der Beklagte meint - ist maßgeblich, ob hinsicht-
lich der Hinnahme von Mehrstaatigkeit Gegenseitigkeit mit Frankreich im Sinne von
§ 87 Abs. 2 AuslG n.F. besteht (vgl. § 102 a AuslG). Diese nunmehr entscheidungs-
erhebliche Tatsachenfrage hat das Berufungsgericht erörtert, im Ergebnis aber aus-
drücklich offen gelassen (UA S. 12 f.). Die Sache muss daher zur Klärung dieser
Frage an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen werden. Das Berufungsge-
richt wird ferner die für den Zeitpunkt der Berufungsentscheidung bejahte Unterhalts-
fähigkeit des Klägers gemäß § 86 Abs. 1 Nr. 3 AuslG a.F. neu zu bewerten haben.
Ergibt sich danach kein Einbürgerungsanspruch, so wird das Berufungsgericht die
Voraussetzungen einer Ermessenseinbürgerung nach § 8 StAG zu prüfen haben.
Eckertz-Höfer
Dr. Mallmann
Hund
Richter
Prof. Dr. Dörig
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 8 000 € fest-
gesetzt (§ 13 Abs. 1 Satz 1 GKG i.V.m. Nr. 41.1 des Streitwertkatalogs für die Ver-
waltungsgerichtsbarkeit NVwZ 1996, 563, 566).
Eckertz-Höfer
Dr. Mallmann
Prof. Dr. Dörig
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Staatsangehörigkeitsrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AuslG § 87 Abs. 2, § 88 Abs. 1 und 2
§ 86 Abs. 1 AuslG i.d.F. vom 29.10.1997
StAG § 8 Abs. 1
Stichworte :
Einbürgerung; strafrechtliche Unbescholtenheit; Verurteilung; Freiheitsstrafe; Ju-
gendstrafe; Strafaussetzung zur Bewährung; Aufgabe der Staatsangehörigkeit; Ver-
meidung von Mehrstaatigkeit; Einbürgerungszusicherung; Tilgungsreife der Straftat;
Rechtsschutzbedürfnis.
Leitsätze:
1. Eine Jugendstrafe ist weder eine Freiheitsstrafe im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 1
Nr. 3 noch eine Strafe im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG.
2. Eine Ermessenseinbürgerung nach § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG ist ausgeschlossen,
wenn der Einbürgerungsbewerber zu einer Jugendstrafe ohne Bewährung verurteilt
worden ist.
Urteil des 1. Senats vom 17. März 2004 - BVerwG 1 C 5.03
I. VG Freiburg vom 14.07.1999 - Az.: VG 2 K 2190/98 -
II. VGH Mannheim vom 12.09.2002 - Az.: VGH 13 S 880/00 -