Urteil des BVerwG vom 28.10.2008

Verbot der Diskriminierung, Schutz der Familie, Aufenthaltserlaubnis, Emrk

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 34.07
VGH 13 S 1078/07
Verkündet
am 28.Oktober 2008
Wahl
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 28. Oktober 2008
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 26. Juli 2007
wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aus humanitä-
ren Gründen gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG.
Die 1957 geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige. Sie ist verheira-
tet und Mutter von sechs zum Teil bereits erwachsenen Kindern. Die Klägerin
reiste nach eigenen Angaben im Oktober 1989 in die Bundesrepublik Deutsch-
land ein und stellte in der Folgezeit einen Asylantrag. Das damalige Bundesamt
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migra-
tion und Flüchtlinge - Bundesamt) lehnte zwar die Anträge auf Asyl und Flücht-
lingsanerkennung ab. Einem Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart folgend
stellte das Bundesamt aber mit Bescheid vom Oktober 1993 fest, dass bei der
Klägerin und ihrem Ehemann Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG hin-
sichtlich Afghanistans vorliegen. Das Verwaltungsgericht hatte ein Abschie-
bungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG bejaht, weil die Klägerin aufgrund des
in Afghanistan herrschenden Kriegsgeschehens einer menschenrechtswidrigen
Gefährdung ihres Lebens (Art. 2 EMRK) ausgesetzt wäre. Aufgrund einer Blei-
berechtsanordnung des Landesinnenministeriums erhielt sie im November 1993
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eine Aufenthaltsbefugnis nach § 32 AuslG, welche fortlaufend - nach Inkrafttre-
ten des Aufenthaltsgesetzes als Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen
nach § 23 AufenthG - verlängert wurde, zuletzt bis zum Januar 2011.
Im Februar 2005 beantragten die Klägerin und ihr Ehemann die Erteilung einer
Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 26 Abs. 4 AufenthG.
Sie beriefen sich darauf, dass in ihrem Fall von dem Erfordernis der Sicherung
des Lebensunterhalts abgesehen werden könne. Der Ehemann sei wegen
krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit, die Klägerin wegen der Notwendigkeit
der Pflege ihres Ehemannes und eines schwerbehinderten Sohnes nicht in der
Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Eine von der Beklagten veranlasste
amtsärztliche Untersuchung des Ehemannes und des Sohnes ergab, dass der
Ehemann der Klägerin unter anderem unter einem nicht beherrschbaren Lid-
schluss der Augen (essentieller Blepharospasmus) leidet, was seine Sehfähig-
keit erheblich beeinträchtigt. Im Falle des 1982 geborenen Sohnes wurde fest-
gestellt, dass er geistig schwer behindert ist (Down-Syndrom) und der Pflege
bedarf.
Die Beklagte lehnte die Anträge auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis mit
Bescheiden vom 28. Dezember 2005 unter Berufung auf die fehlende Siche-
rung des Lebensunterhalts ab. Die gegen diese Bescheide eingelegten Wider-
sprüche wies das Regierungspräsidium Stuttgart zurück.
Die auf Aufhebung der Bescheide und Neubescheidung gerichtete Klage hat
das Verwaltungsgericht im Fall der Klägerin abgewiesen. Für den Ehemann der
Klägerin hat das Verwaltungsgericht hingegen die Beklagte verpflichtet, über
den Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Mai 2007 hat die Be-
klagte dem Ehemann daraufhin eine Niederlassungserlaubnis erteilt.
Die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil hat der Verwal-
tungsgerichtshof mit Urteil vom 26. Juli 2007 zurückgewiesen. Zur Begründung
hat er ausgeführt: Es könne offen bleiben, ob die Klägerin die sprachlichen In-
tegrationsvoraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis er-
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fülle. Es fehle jedenfalls an der gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG in Verbin-
dung mit § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zwingenden Erteilungsvorausset-
zung, dass die Niederlassungserlaubnis nur erteilt werden darf, wenn der Le-
bensunterhalt des Ausländers gesichert ist. Weder die Klägerin noch ihr Ehe-
mann seien in den letzten Jahren berufstätig gewesen. Sie hätten ihren Le-
bensunterhalt vielmehr ausschließlich aus öffentlichen Leistungen, nämlich Hil-
feleistungen nach dem SGB II, bestritten. Hieran werde sich auch in absehbarer
Zeit nichts ändern, da der Ehemann der Klägerin bereits aus gesundheitlichen
Gründen, sie selbst aufgrund der erforderlichen Betreuungsleistungen für ihren
schwerbehinderten Sohn keiner Berufstätigkeit werde nachgehen können.
Nach dem gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG entsprechend anzuwendenden
§ 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG werde insbesondere von den Voraussetzungen der
Sicherung des Lebensunterhalts nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG aber
nur abgesehen, wenn der Ausländer diese aus den in § 9 Abs. 2 Satz 3
AufenthG genannten Gründen nicht erfüllen könne, d.h. wenn der Lebensunter-
halt des Ausländers wegen einer eigenen körperlichen, geistigen oder seeli-
schen Krankheit oder Behinderung nicht gesichert sei. Diese Voraussetzungen
lägen im Fall der Klägerin nicht vor, da sie selbst nicht krankheits- oder behin-
derungsbedingt außerstande sei, ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbs-
tätigkeit zu sichern. Das Gericht gehe zwar davon aus, dass die Klägerin auf-
grund der erforderlichen vollschichtigen Betreuung eines zu 100% behinderten
Sohnes sowie des fast blinden Ehemannes bereits aus zeitlichen Gründen nicht
in der Lage sei, einer Berufstätigkeit nachzugehen. Eine Anwendung des § 9
Abs. 2 Satz 6 AufenthG auf den Fall, dass der Ausländer eine körperlich oder
geistig behinderte oder erkrankte Person rund um die Uhr zu betreuen habe, sei
jedoch nicht möglich. Im Übrigen stellten die Versagungsvoraussetzungen für
eine Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Satz 6 AufenthG
eine abschließende Ausnahmeregelung dar. Diese sei keiner erweiternden Aus-
legung auf andere Fallkonstellationen, in denen der Ausländer unverschuldet
seinen Lebensunterhalt nicht sichern könne, zugänglich, auch nicht durch He-
ranziehung der allgemeinen Regelung des § 5 Abs. 3 Halbs. 2 AufenthG.
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Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer vom Verwaltungsgerichtshof zuge-
lassenen Revision. Sie macht geltend, das angefochtene Urteil verletze § 5
Abs. 3 AufenthG, § 26 Abs. 4 AufenthG, Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Es sei
rechtsfehlerhaft, die in § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG geregelte Möglichkeit des
Absehens von den Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und Abs. 2
AufenthG nicht auch auf § 26 Abs. 4 AufenthG zu beziehen. Denn § 5 Abs. 3
Satz 2 AufenthG erfasse alle Aufenthaltstitel, nicht nur Aufenthaltserlaubnisse.
Zwar enthalte § 9 Abs. 2 AufenthG spezifische Voraussetzungen für eine Nie-
derlassungserlaubnis, hier gehe es aber nicht um eine Niederlassungserlaubnis
nach § 9 AufenthG, sondern um eine nach § 26 Abs. 4 AufenthG. Bei einer
Niederlassungserlaubnis aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen
Gründen nach § 26 Abs. 4 AufenthG gelte § 5 Abs. 3 AufenthG, daher könne
auch von den speziellen Voraussetzungen des § 9 AufenthG abgesehen wer-
den. Das gebiete zudem eine verfassungskonforme Auslegung von § 26 Abs. 4
AufenthG und § 5 Abs. 3 AufenthG. Denn andernfalls wäre die Klägerin nur bei
Aufgabe ihrer Ehe- oder Familiengemeinschaft in der Lage, eine Niederlas-
sungserlaubnis zu erhalten, weil sie dann arbeiten und den Lebensunterhalt für
sich verdienen könnte. Auch das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Be-
schluss vom 11. Mai 2007 (2 BvR 2483/06) hervorgehoben, dass es mit Art. 6
Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren sei, einen Aufenthaltstitel nur deshalb zu
versagen, weil der Lebensunterhalt infolge der Ehe nicht gesichert sei, während
er ohne Eheschließung gesichert wäre. Aus den gleichen Gründen verletze das
angegriffene Urteil Art. 8 EMRK.
Die Beklagte tritt der Revision entgegen und verteidigt das angefochtene Urteil.
Ergänzend trägt sie vor, Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK seien nicht verletzt.
Die Klägerin müsse aufgrund der Versagung der Niederlassung ihre eheliche
und familiäre Lebensgemeinschaft nicht aufgeben. Die Klägerin sei seit 1993 im
Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, die laufend verlängert werde.
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Die zulässige Revision der Klägerin hat keinen Erfolg.
Das Berufungsgericht hat einen Anspruch der Klägerin auf ermessensfehler-
freie Neubescheidung ihres Antrags auf Erteilung einer Niederlassungserlaub-
nis nach § 26 Abs. 4 AufenthG ohne Verstoß gegen Bundesrecht verneint.
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist das Aufent-
haltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I
S. 162). Denn das Berufungsgericht müsste, wenn es jetzt entschiede, diese
Gesetzesfassung zugrunde legen und insbesondere die durch das Gesetz zur
Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union
vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) inzwischen eingetretenen Rechtsände-
rungen beachten (stRspr. vgl. etwa Urteil vom 4. September 2007 - BVerwG
1 C 43.06 - NVwZ 2008, 333 Rn. 13 m.w.N.).
Nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG darf eine Niederlassungserlaubnis aus hu-
manitären Gründen nur erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9
AufenthG bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Hierzu gehört auch die
zwingende Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 9
Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Wie das Berufungsgericht festgestellt hat und
von der Revision auch nicht in Abrede gestellt wird, ist die Klägerin zur Siche-
rung ihres Lebensunterhalts weder gegenwärtig noch in absehbarer Zeit im-
stande.
Von der zwingenden Erteilungsvoraussetzung der Unterhaltssicherung ist - mit
Ausnahme der hier nicht in Betracht kommenden Sonderregelung in § 26 Abs.
4 Satz 4 AufenthG - nur im Rahmen der Vorschriften des § 9 Abs. 2 AufenthG
abzusehen (1.). Ein Rückgriff auf die allgemeine Ausnahmeregelung des § 5
Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist nicht möglich (2.). Die Notwendigkeit, von dem Er-
fordernis der Sicherung des Lebensunterhalts abzusehen, ergibt sich im vorlie-
genden Fall auch nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK (3.).
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1. Nach § 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG gelten für die Erteilung der in dieser Vor-
schrift geregelten Niederlassungserlaubnis die Regelungen des § 9 Abs. 2 Satz
2 bis 6 AufenthG entsprechend. Nach § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG wird von der
Voraussetzung der Unterhaltssicherung abgesehen, wenn der Ausländer diese
aus den in § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG genannten Gründen - d.h. wegen einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung - nicht er-
füllen kann. Diese Voraussetzungen liegen im Fall der Klägerin nicht vor, da
diese selbst nicht krankheits- oder behinderungsbedingt außerstande ist, ihren
Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu sichern. Mit Recht hat das
Berufungsgericht eine analoge Anwendung der Vorschrift auf den Fall, dass der
Ausländer zwar nicht wegen einer eigenen Krankheit oder Behinderung, aber
wegen der Pflege eines kranken oder behinderten Angehörigen zur Unterhalts-
sicherung außerstande ist, abgelehnt.
Hierfür spricht neben dem Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG insbeson-
dere die gesetzgeberische Wertung, die Sicherung des Lebensunterhalts bei
der Erteilung von Aufenthaltstiteln im Ausländerrecht als eine Voraussetzung
von grundlegendem staatlichen Interesse anzusehen (vgl. hierzu BTDrucks
15/420 S. 70 und Urteil vom 26. August 2008 - BVerwG 1 C 32.07 - Rn. 21 - zur
Aufnahme in die Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen). Diese be-
reits im Ausländergesetz 1990 getroffene Wertung wurde durch die Neurege-
lung des Aufenthaltsrechts im Zuwanderungsgesetz noch verstärkt, indem die
Sicherung des Lebensunterhalts nunmehr nicht nur bei der Erteilung von Titeln
zum Daueraufenthalt, sondern für alle Aufenthaltstitel von einem (Re-
gel)Versagungsgrund (vgl. § 7 Abs. 2 AuslG 1990) zu einer (Re-
gel)Erteilungsvoraussetzung heraufgestuft worden ist (vgl. § 5 Abs. 1
AufenthG). Aus dieser gesetzgeberischen Bewertung folgt, dass Ausnahmen
von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzlich eng
auszulegen sind. Aus den Gesetzgebungsmaterialien zur Ausnahmevorschrift
des heutigen § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG ergibt sich ebenfalls, dass diese nur
Kranke und Behinderte selbst, nicht aber auch Dritte erfassen soll. Denn da-
nach soll „behinderten Ausländern“ eine Aufenthaltsverfestigung ermöglicht und
verhindert werden, dass „Behinderte“ benachteiligt werden, wenn sie wegen
ihrer Behinderung nicht arbeiten können (vgl. BTDrucks. 15/420 S. 72). Nicht-
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behinderte Dritte werden in den Kreis derer, für die eine Ausnahme von der
Voraussetzung der Unterhaltssicherung zu machen ist, hingegen nicht einbezo-
gen. Dafür spricht auch der Hinweis der Gesetzesmaterialien auf das besonde-
re Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, das nur Behinderte selbst
als Grundrechtsträger schützt, diese allerdings auch vor indirekter, mittelbarer
Diskriminierung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1997 - 1 BvR 9/97 -
BVerfGE 96, 288 <301 ff.>; Eckertz-Höfer, in: Alternativkommentar zum GG,
3. Aufl., Art. 3 Abs. 3, Rn. 134, 138; zur mittelbaren Diskriminierung vgl.
BVerfG, Beschluss vom 18. Juni 2008 - 2 BvL 6/07 - Rn. 49 - juris).
Eine indirekte Diskriminierung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt hier
schon deshalb nicht vor, weil die für die Pflege des behinderten Sohnes erfor-
derliche Fortsetzung des Aufenthalts der Klägerin nicht von der Erteilung der
beantragten Niederlassungserlaubnis abhängt, die Pflege vielmehr auch wei-
terhin aufgrund der der Klägerin erteilten und jeweils verlängerten befristeten
Aufenthaltserlaubnis erbracht werden kann.
Eine Erstreckung der in § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG zugunsten Behinderter ge-
troffenen Regelung auf die Klägerin kann auch nicht aus der Rechtsprechung
des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in der Sache Coleman (Ur-
teil vom 17. Juli 2008 - C-303/06 - NJW 2008, 2763 ff.) abgeleitet werden. Darin
wurde der Schutzbereich des Diskriminierungsverbots wegen Behinderung
zwar auch auf eine Mutter erstreckt, die - wie die Klägerin - die wesentlichen
Pflegeleistungen für ihr behindertes Kind erbringt. Die Entscheidung bezieht
sich aber nur auf das in der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. Novem-
ber 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der
Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. EG L 303, S. 16) veranker-
te spezielle Verbot der Diskriminierung. Zudem betrifft die Entscheidung nur
den Fall der Benachteiligung der pflegenden Mutter, während es im vorliegen-
den Fall um die Frage der Erstreckung einer Privilegierung (Absehen vom Er-
fordernis der Unterhaltssicherung) geht. Im Übrigen hat der Gerichtshof in sei-
ner Entscheidung in der Sache Bartsch hervorgehoben, dass sich das Diskrimi-
nierungsverbot nach Art. 13 EG (dort: wegen des Alters) nicht auf nationale Re-
gelungen bezieht, die keinen gemeinschaftsrechtlichen Bezug haben, etwa weil
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sie nicht der Umsetzung einer Gemeinschaftsrichtlinie dienen (vgl. Urteil vom
23. September 2008 - C-427/06 - NZA 2008, 1119 f. ). Die von der
Klägerin erstrebte Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß
§ 26 Abs. 4 AufenthG weist keinen solchen gemeinschaftsrechtlichen Bezug
auf, dient insbesondere nicht der Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorga-
ben zum Ausländerrecht.
2. Von der zwingenden Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensun-
terhalts kann auch nicht durch Rückgriff auf die Regelung des § 5 Abs. 3 Satz 2
AufenthG abgesehen werden.
Mit Recht hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber
die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG als
stärkste Form der Aufenthaltsverfestigung durch Verweis auf § 9 Abs. 2
AufenthG von besonderen Integrationserfordernissen abhängig macht, die über
die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG hi-
nausgehen. Anders als die Aufenthaltserlaubnis ist die Niederlassungserlaubnis
unbefristet und inhaltlich grundsätzlich unbeschränkt, sofern nicht ausnahms-
weise Nebenbestimmungen im Aufenthaltsgesetz zugelassen sind (vgl. § 23
Abs. 2 Satz 4 AufenthG).Sie unterliegt keiner Zweckbindung, berechtigt zur
Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und verschafft dem Berechtigten ferner den
besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Sie ist daher
auf den dauerhaften Verbleib eines Ausländers im Bundesgebiet angelegt.
Wenn der Gesetzgeber diese gesicherte Rechtsposition in § 26 Abs. 4
AufenthG von dem in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genannten Erfordernis
der Sicherung des Lebensunterhalts abhängig macht, darf von dieser Voraus-
setzung grundsätzlich auch nur unter den besonderen in § 9 Abs. 2 Satz 6
AufenthG normierten Voraussetzungen abgesehen werden. Ein Rückgriff auf
die allgemeine Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, wonach
ohne Normierung konkreter Voraussetzungen von der Anwendung der Absätze
1 und 2 des § 5 AufenthG - und damit auch von dem Erfordernis der Unter-
haltssicherung - abgesehen werden kann, ist daher nicht möglich. Vielmehr trifft
§ 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG insoweit eine abschließende Regelung.
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Für die Vorschrift des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG verbleibt - entgegen der Auf-
fassung der Revision - auch ein Anwendungsbereich, wenn sie die Niederlas-
sungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG nicht erfasst. Denn sie ermöglicht
ein Absehen von den Erteilungsvoraussetzungen für Aufenthaltserlaubnisse in
allen von § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht erfassten „übrigen Fällen“, bezieht
sich also allgemein auf Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufent-
haltsgesetzes (u.a. auf die Aufenthaltserlaubnisse nach §§ 22, 23, 23a, 25 Abs.
4 und Abs. 5 AufenthG) und nicht lediglich auf Fälle der Erteilung einer Nieder-
lassungserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5.
Die Tatsache, dass die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis für Asylberech-
tigte und Konventionsflüchtlinge nach § 26 Abs. 3 AufenthG nicht voraussetzt,
dass der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG), für die
übrigen Ausländer mit einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5
dagegen gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG die strengeren Regeln des § 9 Abs. 1
und 2 AufenthG gelten, hält sich im Rahmen einer zulässigen gesetzgeberi-
schen Differenzierung.
3. Die Notwendigkeit vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts ab-
zusehen, ergibt sich im vorliegenden Fall auch nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG und
Art. 8 EMRK.
Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst namentlich die Freiheit der Ehe-
schließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und fami-
liäres Zusammenleben (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83
u.a. - BVerfGE 76, 1 <42>). Wird - wie vorliegend - das eheliche und familiäre
Zusammenleben gewährleistet, kommt es grundsätzlich nicht darauf an, über
welchen Aufenthaltstitel die Betroffenen verfügen. Auch im Falle einer befriste-
ten Aufenthaltserlaubnis nach § 23 AufenthG, über die die Klägerin verfügt,
kann die familiäre Gemeinschaft fortgesetzt werden, wenn die Aufenthaltser-
laubnis - wie hier - jeweils verlängert wird und keine aufenthaltsbeendenden
Maßnahmen ergriffen werden.
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Der von der Revision zur Stützung ihrer Auffassung herangezogene Beschluss
des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai 2007 (2 BvR 2483/06 - NVwZ
2007, 1302) betrifft eine andere Fallkonstellation als die vorliegende. In dem
vom Verfassungsgericht entschiedenen Fall ging es um die Aufenthaltsbeendi-
gung durch Nichtverlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, gestützt auf fehlende
Unterhaltssicherung. Im vorliegenden Fall geht es aber nicht um die Beendi-
gung des Aufenthalts, sondern nur um die Frage, ob die Klägerin ihren Aufent-
halt - und damit die Fortsetzung ihrer familiären Lebensgemeinschaft - auf ei-
nen befristeten Aufenthaltstitel oder eine auf Dauer angelegte Niederlassungs-
erlaubnis stützen kann.
Auch aus Art. 8 EMRK folgt nach der Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte kein Anspruch auf einen bestimmten Aufent-
haltstitel, vielmehr kommt es auf die tatsächliche Möglichkeit zur Fortsetzung
des Aufenthalts an (vgl. Große Kammer EuGHMR, Urteil vom 15. Januar 2007
- Nr. 60654/00 - Sisojeva ./. Lettland - InfAuslR 2007, 140, Rn. 91). Diese ist
hier auf der Grundlage der Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG
gewährleistet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Richter
Beck Prof. Dr. Kraft
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Beck
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Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Ausländerrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AufenthG
§ 2 Abs. 3, § 5 Abs. 1 und 2, § 5 Abs. 3 Satz 2, § 9 Abs. 2
Satz 1 Nr. 2, Satz 3 und Satz 6, § 23, § 26 Abs. 3 und 4
EG
Art. 13
GG
Art. 3 Abs. 3 Satz 2, Art. 6 Abs. 1
EMRK
Art. 8
Stichworte:
Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen; Sicherung des Lebensun-
terhalts; Ausnahmen; Behinderung; Diskriminierung wegen Behinderung; Be-
hinderter als Schutzberechtigter; keine Schutzerstreckung auf Dritte; Aufent-
haltserlaubnis; allgemeine Erteilungsvoraussetzungen; Schutz der Familie.
Leitsätze:
1. Die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen nach
§ 26 Abs. 4 AufenthG setzt voraus, dass der Lebensunterhalt des Ausländers
gesichert ist. Von dieser Voraussetzung ist - abgesehen von der in § 26 Abs. 4
Satz 4 AufenthG getroffenen Sonderregelung - nur in den in § 9 Abs. 2 Satz 6
AufenthG genannten Fällen abzusehen. Ein Rückgriff auf die allgemeine Aus-
nahmeregelung des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist nicht möglich.
2. Nach § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG ist von der Voraussetzung der Sicherung
des Lebensunterhalts nur zugunsten eines Ausländers abzusehen, der diese
selbst aus den in § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG genannten Gründen - d.h. wegen
einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung -
nicht erfüllen kann, nicht aber zugunsten eines den Kranken oder Behinderten
pflegenden Dritten.
Urteil des 1. Senats vom 28. Oktober 2008 - BVerwG 1 C 34.07
I. VG Stuttgart vom 24.01.2007 - Az. 17 K 979/06
II. VGH Mannheim vom 26.07.2007 - Az. 13 S 1078/07