Urteil des BVerwG vom 10.12.2014

Materielle Rechtskraft, Formelle Rechtskraft, Sicherungshaft, Ablauf des Verfahrens

BVerwGE: ja
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Ausländerrecht
Rechtsquelle/n:
GG Art. 20 Abs. 3, Art. 104 Abs. 1
AufenthG §§ 57, 62, 66, 67, 106
FamFG § 23, 45, 417
GVG § 17 Abs. 2
VwGO § 40
ZPO §§ 322, 325
RL 2008/115/EG Art. 15 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1
Titelzeile:
Keine Haftung für Kosten einer rechtswidrigen Sicherungshaft
Stichwort/e:
Ausländer; Kostenerstattung; Zurückschiebung; Kosten der Zurückschiebung;
Zurückschiebungsverfügung; Titelfunktion; Sicherungshaft; Haftkosten; Frei-
heitsentziehung; Haftanordnung; Haftverlängerung; Rechtswegaufspaltung;
Inzidentkontrolle; Rechtskraft; formelle Rechtskraft; materielle Rechtskraft;
Haftantrag; zulässiger Haftantrag; Begründung; Aushändigung; Heilung;
Fehlerfolge; Rechtsmissbrauch; unzulässige Rechtsausübung.
Leitsatz/-sätze:
Ein Ausländer haftet nach §§ 66, 67 AufenthG nicht für die Kosten einer
Sicherungshaft, die auf einer rechtswidrigen Haftanordnung beruht. Bei der
Überprüfung eines Kostenerstattungsbescheids müssen die Verwaltungsgerichte
die Rechtmäßigkeit der (amts-)gerichtlichen Haftanordnung inzident prüfen, auch
wenn der Ausländer gegen diese kein Rechtsmittel eingelegt hat.
Urteil des 1. Senats vom 10. Dezember 2014 - BVerwG 1 C 11.14
I. VG Berlin vom 28. Mai 2013
Az: VG 21 K 342.12
II. OVG Berlin-Brandenburg vom 11. Dezember 2013
Az: OVG 3 B 17.13
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 11.14
OVG 3 B 17.13
Verkündet
am 10. Dezember 2014
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 10. Dezember 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
sowie die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke und Dr. Rudolph
für Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. Dezem-
ber 2013 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger, ein nigerianischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Her-
Der Kläger wurde im August 2009 von der Bundespolizei kontrolliert. Dabei gab
er sich unter falschen Personalien als kamerunischer Staatsangehöriger aus.
Wegen des Verdachts der illegalen Einreise verfügte die Bundespolizei am
6. August 2009 die Zurückschiebung des Klägers ohne Benennung eines Ziel-
staats und dann am 13. August 2009 unter Bezeichnung des Zielstaats Kame-
run. Das Amtsgericht verhängte mit Beschluss vom 7. August 2009 für die Dau-
er von längstens 90 Tagen Haft zur Sicherung der Zurückschiebung. Mit Be-
schluss vom 4. November 2009 verlängerte es die Sicherungshaft bis längstens
6. Februar 2010. Mit Beschluss vom 5. Februar 2010 verfügte es die (weitere)
Fortdauer der Sicherungshaft bis längstens 6. Mai 2010. Die gegen diesen Be-
schluss vom Kläger eingelegte Beschwerde erledigte sich mit seiner krank-
heitsbedingten Entlassung aus der Haft. Mit Beschluss vom 6. Oktober 2010
stellte das Landgericht fest, dass die Freiheitsentziehung ab 6. Februar 2010
rechtswidrig war.
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Mit Leistungsbescheid vom 4. April 2011 setzte die Bundespolizeidirektion
Berlin die aus Anlass der eingeleiteten Zurückschiebungsmaßnahmen entstan-
denen Kosten auf 30 349,30 € fest und forderte den Kläger zur Erstattung bin-
nen eines Monats auf. Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Juli 2012 ermäßigte
das Bundespolizeipräsidium Potsdam die Forderung wegen der ab 6. Februar
Das Verwaltungsgericht hat die Bescheide aufgehoben, soweit sie den Betrag
von 15 477,43 € übersteigen, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die Beru-
fung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 11. Dezem-
ber 2013 zurückgewiesen und dies wie folgt begründet: Die Kostenforderung
der Beklagten sei jedenfalls materiell rechtswidrig. Zwar habe der Kläger grund-
sätzlich gemäß § 66 Abs. 1, § 67 Abs. 1 AufenthG die Kosten der versuchten
Zurückschiebung zu tragen. Dies gelte aber nicht für die ab 5. November 2009
entstandenen Kosten der gegen ihn verhängten Sicherungshaft. Die ab diesem
Tag wirksame Haftanordnung vom 4. November 2009 sei rechtswidrig gewe-
sen, weil dem Kläger keine Abschrift des Haftantrags ausgehändigt worden sei.
Ausweislich der Sitzungsniederschrift sei ihm der Haftantrag nur vorgehalten
und erläutert worden. Die Rechtskraft der Haftanordnung stehe ihrer Überprü-
fung durch die Verwaltungsgerichte im ausländerrechtlichen Kosteneinzie-
hungsverfahren nicht entgegen. Nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG habe das Ge-
richt des zulässigen Rechtswegs den Rechtsstreit grundsätzlich unter allen in
Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden. Dies gelte
mangels entgegenstehender gesetzlicher Anordnung auch in Bezug auf
rechtswegfremde Vorfragen, sofern die an sich zuständigen Gerichte hierüber
noch nicht rechtskräftig entschieden hätten und die Beurteilung der Vorfrage
keine Einwirkung auf den Bestand der anderen Entscheidung habe. Das Amts-
gericht habe nur den zulässigen Rahmen der Haftdauer abgesteckt. Eine Auf-
hebung der Freiheitsentziehung wäre jederzeit möglich gewesen. Das Landge-
richt habe nicht zur Haftanordnung vom November 2009 entschieden und nur
festgestellt, dass die Anordnung der Haft „jedenfalls“ seit dem 6. Februar 2010
rechtswidrig gewesen sei. Im Übrigen seien Beschlüsse in Verfahren der freiwil-
ligen Gerichtsbarkeit nur der formellen Rechtskraft fähig. Es entstünde ein Wer-
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tungswiderspruch, wenn dem Kläger die infolge der Nichtaushändigung des
Haftantrags fehlende Verteidigungsmöglichkeit im Haftverfahren zugutegehal-
ten, er im Kosteneinziehungsverfahren jedoch auf die Rechtskraft des dort er-
gangenen Beschlusses verwiesen oder ihm eine ungenügende Verteidigung
vorgehalten würde. Die Auferlegung der Haftkosten stelle eine neue Beschwer
dar, die dem Kläger während seiner Inhaftierung möglicherweise nicht vor Au-
gen gestanden habe. Von einer zurechenbaren Versäumung eigener Rechts-
verteidigung könne nur gesprochen werden, wenn der Regelungsgehalt und die
Folgen eines Hoheitsaktes innerhalb der für die Einlegung des Rechtsbehelfs
vorgesehenen Frist erkennbar seien.
Die Beklagte macht mit ihrer Revision vor allem geltend, das Verhalten des
Klägers sei rechtsmissbräuchlich und stelle eine unzulässige Rechtsausübung
dar. Die noch im Streit befindlichen Kosten wären nicht entstanden, wenn er
seinen Mitwirkungspflichten nachgekommen wäre. Eine Inzidentprüfung sei
auch unter Berücksichtigung verfassungsgerichtlicher Erwägungen nicht gebo-
ten. Die Überprüfung von Haftanordnungen obliege der freiwilligen Gerichtsbar-
keit. Die formelle Rechtskraft der dortigen Entscheidungen dürfe nicht durch-
brochen werden. Im Übrigen führe nach der neueren Rechtsprechung des Bun-
desgerichtshofs die unterbliebene Aushändigung des Haftantrags nur dann zur
Rechtswidrigkeit der Haft, wenn das Verfahren ohne diesen Fehler zu einem
anderen Ergebnis hätte führen können.
Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung. Ergänzend macht er gel-
tend, die Haftanordnung vom November 2009 sei auch rechtswidrig, weil der ihr
zugrunde liegende Haftantrag nicht den gesetzlichen Begründungsanforderun-
gen entsprochen habe und deshalb unzulässig gewesen sei. Die Entscheidung
des Bundesgerichtshofs betreffe einen anderen Fall und widerspreche dem Ge-
setzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Außerdem sei nicht auszu-
schließen, dass die Aushändigung des Haftantrags zu einem anderen Ergebnis
hätte führen können.
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II
Die Revision hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Be-
klagten gegen das erstinstanzliche Urteil ohne Verstoß gegen Bundesrecht zu-
rückgewiesen. Der Kläger haftet nicht für die nur noch im Streit befindlichen
Kosten seiner Haftunterbringung in der Zeit vom 5. November 2009 bis
5. Februar 2010. Die angefochtenen Bescheide sind in dem Umfang, in dem
das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben hat, rechtswidrig und verletzen
den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Auf der Grundlage der von
der Bundespolizei erlassenen Zurückschiebungsverfügung durfte der Kläger
zwar zur Sicherung der Zurückschiebung auf richterliche Anordnung in Siche-
rungshaft genommen werden (1.). Für den hier streitigen Zeitraum fehlt es aber
an einer rechtmäßigen Haftanordnung (2.). Einer inzidenten Prüfung der
Rechtmäßigkeit der ab dem 5. November 2009 wirksamen Haftanordnung steht
nicht entgegen, dass die Anordnung einer Freiheitsentziehung zur Sicherung
einer Zurückschiebung den ordentlichen Gerichten obliegt und der Kläger ge-
gen die Haftverlängerung vom November 2009 kein Rechtsmittel eingelegt hat
(2.1). Diese Haftverlängerung war rechtswidrig, weil sie auf einem unzulässigen
Haftantrag beruhte (2.2) und dem Kläger nicht spätestens zu Beginn seiner An-
hörung vor dem Amtsgericht im November 2009 eine Abschrift des Antrags
ausgehändigt worden war (2.3). Unerheblich ist, ob die Sicherungshaft ohne
Verstoß des Klägers gegen seine ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten
schon eher hätte beendet werden können (3.).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Bescheide ist die
Sach- und Rechtslage bei Erlass der letzten behördlichen Entscheidung (hier:
Widerspruchsbescheid vom 12. Juli 2012). Mithin findet das Aufenthaltsgesetz
- AufenthG - in der Fassung des am 1. April 2012 in Kraft getretenen Gesetzes
zur Änderung von Vorschriften über Verkündung und Bekanntmachungen sowie
der Zivilprozessordnung, des Gesetzes betreffend die Einführung der Zivilpro-
zessordnung und der Abgabenordnung vom 22. Dezember 2011 (BGBl I
S. 3044) Anwendung. Die im Rahmen der Prüfung des Leistungsbescheids in-
zident zu beurteilende Rechtmäßigkeit der Haftverlängerung vom November
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2009 bestimmt sich hingegen nach der im Zeitpunkt der Maßnahme geltenden
Rechtslage (vgl. Urteil vom 4. Oktober 2012 - BVerwG 1 C 13.11 - BVerwGE
144, 230 = Buchholz 402.242 § 55 AufenthG Nr. 14, jeweils Rn. 29).
Das Berufungsgericht ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die
Bescheide der Beklagten, soweit sie noch im Streit stehen, materiell rechtswid-
rig sind. Nach § 66 Abs. 1 AufenthG hat der Ausländer die Kosten zu tragen,
die im Zusammenhang mit der Durchsetzung einer Zurückschiebung entstehen.
Den Umfang der zu erstattenden Kosten bestimmt § 67 Abs. 1 AufenthG. Da-
nach umfassen die Kosten einer Zurückschiebung auch die bei der Vorberei-
tung dieser Maßnahme angefallenen Kosten einer Haftunterbringung. Soweit
§ 67 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nur die Kosten der „Abschiebungshaft“ erwähnt,
handelt es sich um eine beispielhafte Aufführung der bei der Vorbereitung einer
Abschiebung entstehenden Verwaltungskosten („einschließlich“). Dass es zu
einer Zurückschiebung des Klägers nicht gekommen ist, ändert ebenfalls nichts
daran, dass der Anwendungsbereich der Vorschrift eröffnet ist (Urteil vom
8. Mai 2014 - BVerwG 1 C 3.13 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungs-
sammlung BVerwGE vorgesehen, InfAuslR 2014, 328 Rn. 18 zu den Kosten
einer versuchten Abschiebung).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haftet der Ausländer
für die Kosten einer Abschiebung - und damit auch einer Zurückschiebung -
nur, wenn die zu ihrer Durchsetzung ergriffenen Amtshandlungen und Maß-
nahmen ihn nicht in seinen Rechten verletzen. Insoweit trifft das Aufenthaltsge-
setz für Maßnahmen, die - wie die Sicherungshaft - selbständig in Rechte des
Ausländers eingreifen, eine eigenständige und vorrangige Regelung gegenüber
den Vorschriften des Verwaltungskostengesetzes, auf die § 69 Abs. 2 Satz 2
AufenthG nur verweist, soweit das Aufenthaltsgesetz keine abweichende Rege-
lung enthält (Urteil vom 16. Oktober 2012 - BVerwG 10 C 6.12 - BVerwGE 144,
326 = Buchholz 402.242 § 66 AufenthG Nr. 2, jeweils Rn. 20). Folglich können
nur die Kosten einer rechtmäßigen Sicherungshaft geltend gemacht werden.
Deren Rechtmäßigkeit ist aus der behördlichen Sicht bei ihrer Durchführung -
also ex ante - zu beurteilen (Urteil vom 16. Oktober 2012 a.a.O., jeweils
Rn. 22).
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1. Die Sicherungshaft des Klägers fand im streitigen Zeitraum ihre Rechts-
grundlage in § 57 i.V.m. § 62 Abs. 3 AufenthG in der seinerzeit anwendbaren
Fassung des FGG-Reformgesetzes vom 17. Dezember 2008 (BGBl I S. 2586)
- AufenthG a.F. -. Danach sollte ein Ausländer, der unerlaubt eingereist war,
innerhalb von sechs Monaten nach dem Grenzübertritt zurückgeschoben wer-
den (§ 57 Abs. 1 Satz 1 AufenthG a.F.). Lagen die Voraussetzungen für eine
Zurückschiebung vor, war der Ausländer nach § 57 Abs. 3 AufenthG a.F. in
entsprechender Anwendung des § 62 Abs. 3 AufenthG a.F. bei Vorliegen der
dortigen Voraussetzungen zur Sicherung der Zurückschiebung auf richterliche
Anordnung in Haft zu nehmen (Sicherungshaft).
Ob nach damaliger Rechtslage die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Zu-
rückschiebung des Klägers durch die Bundespolizei vorlagen, kann dahinste-
hen. Denn der Kläger hat gegen die Zurückschiebungsverfügung vom 13. Au-
gust 2009 keinen Rechtsbehelf eingelegt, so dass die Verfügung in Bestands-
kraft erwachsen ist. Dieser vollstreckbare Verwaltungsakt bildete die Grundlage
für die von der Bundespolizei eingeleiteten Maßnahmen; die Bestandskraft um-
fasst auch die materiellrechtliche Dimension des Verwaltungshandelns und be-
grenzt die verwaltungsgerichtliche Prüfungsreichweite im nachfolgenden Kos-
tenerstattungsverfahren. Damit hätte der Kläger etwaige Einwände gegen die
Rechtmäßigkeit der Zurückschiebung durch Anfechtung der Zurückschiebungs-
verfügung geltend machen müssen (allgemein zum Verhältnis einer Grundver-
fügung zu nachfolgenden Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung vgl. Urteil
vom 25. September 2008 - BVerwG 7 C 5.08 - Buchholz 345 § 6 VwVG Nr. 1
m.w.N.).
Unerheblich ist, dass § 57 AufenthG a.F. bei unerlaubt eingereisten Ausländern
eine Aufenthaltsbeendigung durch unmittelbare Vollstreckung der tatbestandlich
vorausgesetzten und im genannten Kontext kraft Gesetzes vollziehbaren Aus-
reisepflicht ermöglichte, ohne dass es eines Grundverwaltungsaktes bedurfte.
Es ist der Verwaltung nicht verwehrt, die Zurückschiebung im Vorfeld ihrer
tatsächlichen Durchführung gegenüber dem Betroffenen in Form eines Verwal-
tungsakts zu verfügen und ihm auf diese Weise eine gerichtliche Klärung der für
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die Zurückschiebung relevanten und zwischen den Beteiligten streitigen
Rechts- oder Tatsachenfragen zu ermöglichen (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-
AufenthG, Stand Mai 2013, § 57 AufenthG Rn. 17; Hailbronner, Ausländerrecht,
Stand März 2012, § 57 AufenthG Rn. 4). In der Rechtsprechung des Bundes-
verwaltungsgerichts ist anerkannt, dass die Befugnis der Verwaltung, sich zur
Wahrnehmung ihrer Aufgaben des Mittels des Verwaltungsaktes zu bedienen,
nicht ausdrücklich in der gesetzlichen Grundlage erwähnt werden muss, die in
materieller Hinsicht zu einem Eingriff ermächtigt. Denn als Handlungsform, in
der die Verwaltung Privatpersonen in der Regel gegenübertritt, ist der Verwal-
tungsakt allseits bekannt. Es reicht deshalb aus, wenn sich die Verwaltungsakt-
befugnis dem Gesetz im Wege der Auslegung entnehmen lässt (Urteil vom
7. Dezember 2011 - BVerwG 6 C 39.10 - BVerwGE 141, 243 = Buchholz
442.09 § 5a AEG Nr. 1, jeweils Rn. 14 m.w.N.).
2. Die Sicherungshaft beruhte im streitigen Zeitraum aber nicht auf einer recht-
mäßigen richterlichen Anordnung.
2.1 Einer inzidenten Prüfung der Rechtmäßigkeit der Sicherungshaft im Kos-
tenerstattungsverfahren steht nicht entgegen, dass sich das Verfahren bei auf-
enthaltsrechtlich begründeten Freiheitsentziehungen seit dem 1. September
2009 nach Buch 7 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in
den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - FamFG - richtet (vgl.
§ 106 Abs. 2 AufenthG). Der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts ist in
seinem Urteil vom 16. Oktober 2012 - BVerwG 10 C 6.12 - (BVerwGE 144, 326
= Buchholz 402.242 § 66 AufenthG Nr. 2, jeweils Rn. 22) davon ausgegangen,
dass die Verwaltungsgerichte bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer
Haftanordnung jedenfalls dann nicht an die Entscheidungen der nach dem Fa-
mFG zuständigen ordentlichen Gerichte gebunden sind, wenn sie über die Kos-
tenhaftung von Drittverpflichteten zu entscheiden haben, die nicht am Verfahren
zur Verhängung der Haft beteiligt waren. Offengelassen wurde, ob dies auch
bei Entscheidungen über die Kostenhaftung des Ausländers selbst gilt. Der Se-
nat beantwortet diese Frage nunmehr dahingehend, dass auch in diesen Fällen
keine Bindung besteht.
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Ergibt sich bei einer Kette von Hoheitsakten eine Rechtswegaufspaltung, hat
dies nicht automatisch zur Folge, dass es dem angerufenen Gericht verwehrt
ist, Vorfragen zu prüfen, die, wären sie die Hauptfrage, in den Zuständigkeitsbe-
reich eines anderen Gerichts fielen. Gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG entschei-
det das Gericht des zulässigen Rechtswegs den Rechtsstreit unter allen in Be-
tracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten. Dies schließt nach allgemei-
nem Verständnis auch rechtswegfremde Vorfragen ein, soweit gesetzlich nicht
ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist und die an sich zuständigen Gerichte
über die streitige Vorfrage nicht mit materieller Rechtskraftbindung entschieden
haben (vgl. Urteil vom 13. April 1978 - BVerwG 2 C 7.75 - Buchholz 238.4 § 31
SG Nr. 11).
Für eine gesetzliche Ausnahme von der grundsätzlichen Verpflichtung zur Inzi-
dentprüfung auch rechtswegfremder Vorfragen ist in Freiheitsentziehungssa-
chen nichts ersichtlich. Der Gesetzgeber hat den ordentlichen Gerichten mit
dem FamFG neben der Zuständigkeit für die Anordnung von Freiheitsentzie-
hungen zwar auch den nachträglichen, auf Feststellung der Rechtswidrigkeit
der Freiheitsentziehung gerichteten Rechtsschutz zugewiesen. Unmittelbarer
Gegenstand im vorliegenden - nach § 40 Abs. 1 VwGO den Verwaltungsgerich-
ten zugewiesenen - Verfahren ist aber nicht die amtsgerichtliche Haftverlänge-
rung vom November 2009 und deren Rechtmäßigkeit, sondern die nachgela-
Leistungsbescheids über die Kosten der auf dieser richterlichen Anordnung be-
ruhenden Haftunterbringung. Den einschlägigen Regelungen im FamFG zur
Anordnung und Überprüfung von Freiheitsentziehungen ist nicht zu entnehmen,
dass die Befugnis zur Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Haftanordnung auch
dort, wo sie nur Vorfrage ist, generell dem Rechtsschutzverfahren vor den or-
dentlichen Gerichten vorbehalten ist. Hierfür finden sich auch in der Gesetzes-
begründung zum FamFG keinerlei Anhaltspunkte. Danach sollte lediglich das
FGG-Verfahren von Grund auf neu geregelt und auf den Standard eines mo-
dernen Prozessgesetzes gebracht werden (BTDrucks 16/6308 S. 1). Für eine
Einschränkung der verwaltungsgerichtlichen Inzidentprüfungskompetenz be-
steht auch kein Bedürfnis, da die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung im Kos-
tenerstattungsverfahren nur als Vorfrage zu prüfen ist und deren verwaltungs-
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gerichtliche Beurteilung im Erstattungsverfahren weder in Rechtskraft erwächst
noch sonst eine irgendwie geartete Gestaltungs- oder Feststellungswirkung äu-
ßert. Insbesondere ist ausgeschlossen, dass die Haftanordnung über die Inzi-
dentkontrolle aufgehoben oder ihre Rechtswidrigkeit verbindlich festgestellt
wird. Allein Erwägungen der Prozessökonomie und die größere Sach- und
Ortsnähe der Amtsgerichte vermögen eine den gesetzlichen Bestimmungen
nicht zu entnehmende Ausnahme nicht zu rechtfertigen.
Auch die Rechtskraft steht einer Inzidentkontrolle der Haftanordnung im verwal-
tungsgerichtlichen Kostenerstattungsverfahren nicht entgegen, da die der or-
dentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesenen Entscheidungen in Freiheitsentzie-
hungssachen nur in formelle (vgl. § 45 FamFG), nicht aber in materielle
Rechtskraft erwachsen. Formelle Rechtskraft bedeutet, dass die Entscheidung
durch ordentliche Rechtsmittel oder sonstige Rechtsbehelfe nicht oder nicht
mehr angefochten werden kann. Das FamFG enthält hingegen keine den
wächst eine Entscheidung in materielle Rechtskraft, hat das zur Folge, dass die
entschiedene Frage von den an die Rechtskraft gebundenen Personen nicht
einer neuerlichen richterlichen Nachprüfung unterbreitet werden darf („ne bis in
idem-Gebot“). Sie dient der Rechtssicherheit, dem Rechtsfrieden und der sinn-
vollen Begrenzung der Inanspruchnahme gerichtlicher Ressourcen, erstreckt
sich auf den Inhalt der Entscheidung und legt fest, in welchem Umfang das Ge-
richt und die Beteiligten in einem neuerlichen, auf dem gleichen Lebenssach-
verhalt beruhenden gerichtlichen Verfahren um dieselbe Rechtsfrage an die
rechtskräftige Entscheidung gebunden sind. Inwieweit Entscheidungen nach
dem FamFG der materiellen Rechtskraft fähig sind, muss nach überwiegender
Auffassung von Fall zu Fall entschieden werden (vgl. im Einzelnen: Keidel,
FamFG, 18. Auflage 2014, § 45 FamFG Rn. 24 ff.). Entscheidungen in Frei-
heitsentziehungssachen erwachsen jedenfalls nicht in materielle Rechtskraft,
denn eine sachlich nicht gerechtfertigte Inhaftierung ist zur Verwirklichung der
Freiheitsgarantien des Art. 104 GG umgehend zu beenden, ohne dass es da-
rauf ankommt, ob sich die fehlende Berechtigung der Inhaftierung aus neuen
Umständen oder daraus ergibt, dass sie nicht hätte angeordnet werden dürfen
(BGH, Beschlüsse vom 18. September 2008 - V ZB 129/08 - InfAuslR 2010, 35
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zum FEVG und vom 28. April 2011 - V ZB 292/10 - FGPrax 2011, 200 zum
FamFG).
Damit ist im vorliegenden Kostenerstattungsverfahren unerheblich, dass der
Kläger gegen den Haftverlängerungsbeschluss des Amtsgerichts vom Novem-
ber 2009 keine Beschwerde beim Landgericht eingelegt hat. Mit Ablauf der
Rechtsmittelfrist ist die Entscheidung des Amtsgerichts lediglich in formelle
Rechtskraft erwachsen, konnte also nicht mehr mit Rechtsmitteln angegriffen
werden. Eine inhaltliche Bindung an den Haftverlängerungsbeschluss des
Amtsgerichts ist nicht eingetreten, so dass mangels einer materiell rechtskräfti-
gen Entscheidung die Rechtmäßigkeit der Sicherungshaft im verwaltungsge-
richtlichen Verfahren bezüglich des Kostenheranziehungsbescheids zu überprü-
fen ist.
2.2 Zu Recht weist der Kläger daraufhin, dass die Haftunterbringung im hier
streitigen Zeitraum schon deshalb rechtswidrig war, weil der Haftverlängerung
vom November 2009 kein zulässiger Haftantrag zugrunde lag.
Nach § 417 Abs. 1 FamFG darf das für die Haftanordnung zuständige Gericht
eine Freiheitsentziehung nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde
anordnen. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur dann, wenn er
den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Der Gesetzge-
ber hat sich - abweichend vom Vorschlag der Bundesregierung (Entwurfsbe-
gründung zum FGG-ReformG, BTDrucks 16/6308 S. 291) - dafür entschieden,
an die Begründung eines Haftantrags strengere Anforderungen zu stellen und
der Behörde in § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorzuschreiben, zu welchen Punk-
ten sich der Haftantrag zu verhalten hat (Beschlussempfehlung zum FFG-
ReformG, BTDrucks 16/9733 S. 299).
Nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG muss der Haftantrag Darlegungen
zur Ausreisepflicht, zu den Ab- bzw. Zurückschiebungsvoraussetzungen, zur
Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung/Zurückschie-
bung und zur notwendigen Haftdauer enthalten. Die vorgeschriebene Begrün-
dung muss auf den konkreten Fall zugeschnitten sein; Leerformeln und Text-
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bausteine genügen nicht. Inhalt und Umfang der notwendigen Darlegungen dür-
fen knapp sein, sie müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falls we-
sentlichen Punkte ansprechen. Hinsichtlich der Durchführbarkeit der Rückfüh-
rung sind auf das Land bezogene Ausführungen erforderlich, in welches der
Betroffene ab- bzw. zurückgeschoben werden soll. Anzugeben ist, ob und in-
nerhalb welchen Zeitraums Rückführungen in das betreffende Land üblicher-
weise möglich sind. Notwendig sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfah-
rens und eine Darstellung, in welchem Zeitraum die einzelnen Schritte unter
normalen Bedingungen durchlaufen werden können (BGH, Beschlüsse vom
15. September 2011 - V ZB 123/11 - InfAuslR 2012, 25, vom 27. Oktober 2011 -
V ZB 311/10 - FGPrax 2012, 82, vom 20. März 2014 - V ZB 169/13 - juris und
vom 16. Juli 2014 - V ZB 80/13 - InfAuslR 2014, 384).
Diesen gesetzlichen Begründungsanforderungen genügt der Haftverlänge-
rungsantrag der Bundespolizei vom 28. Oktober/3. November 2009 nicht. Er
enthält keinerlei Angaben zur Durchführbarkeit der Zurückschiebung, insbeson-
dere fehlen Darlegungen, welches Land für eine Zurückschiebung in Betracht
kommen könnte und innerhalb welchen Zeitraums eine Zurückschiebung dort-
hin möglich wäre. Allein der pauschale Hinweis, dass weiterhin die Haftgründe
gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 5 AufenthG vorlägen und die beantragte
Haftdauer über die Frist von sechs Monaten auch verhältnismäßig sei, da der
Betroffene nicht gewillt sei, an der Passersatzbeschaffung mitzuwirken, genügt
hierfür nicht.
Mängel in der Antragsbegründung führen grundsätzlich zur Rechtswidrigkeit der
auf Grund eines solchen Antrags erlassenen Haftanordnung (BGH, Beschluss
vom 16. Juli 2014 a.a.O. m.w.N.). Dies ist eine Folge dessen, dass das Be-
gründungserfordernis als eine Verfahrensgarantie im Sinne des Art. 104 Abs. 1
Satz 1 GG ausgestaltet worden ist. Diese Garantie dient nicht nur dem Zweck,
dem Betroffenen eine bessere Verteidigung im Verfahren zu ermöglichen. Mit
den besonderen Begründungsanforderungen will der Gesetzgeber vor allem
erreichen, dass dem Gericht durch den Antrag selbst eine hinreichende Tatsa-
chengrundlage für die Einleitung weiterer Ermittlungen bzw. für seine Entschei-
dung zugänglich wird (vgl. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des
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Deutschen Bundestags zum FGG-ReformG, BTDrucks 16/9733 S. 299). Die
Begründung des Haftantrags ist nach Auffassung des Rechtsausschusses des
Deutschen Bundestags eine unverzichtbare Voraussetzung für die Einleitung
weiterer Ermittlungen bzw. für die Entscheidung des Richters über den Haftan-
trag. Unvollständige, auch nicht auf richterliche Aufforderung ergänzte Haftan-
träge sind vom Haftrichter als unzulässig zurückzuweisen (BTDrucks 16/9733
S. 299).
Die Voraussetzungen, unter denen Mängel des Haftantrags nach der Recht-
sprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Beschluss vom 16. Juli 2014 a.a.O.) im
gerichtlichen Verfahren - mit Wirkung für die Zukunft - geheilt werden können,
liegen nicht vor. Weder hat die Beklagte ausweislich des Sitzungsprotokolls die
fehlende Begründung durch ergänzende Angaben im Termin zur persönlichen
Anhörung am 4. November 2009 nachgeholt noch hat das Amtsgericht das Vor-
liegen der an sich seitens der Behörde nach § 417 Abs. 2 FamFG vorzutragen-
den Tatsachen auf Grund eigener Ermittlungen von Amts wegen (§ 26 FamFG)
in seinem Beschluss festgestellt. Dort findet sich lediglich die nicht näher darge-
legte Behauptung, dass „nach den überzeugenden Ausführungen der Bundes-
polizei“ zu erwarten sei, dass die erneute Haft ausreichen werde, das erstrebte
Ziel der Zurückschiebung durchzusetzen, und eine Zurückschiebung innerhalb
der nächsten drei Monate möglich erscheine. Diese Leerformel sagt über die
Durchführbarkeit der Zurückschiebung im konkreten Fall nichts aus. Klarstel-
lend ist darauf hinzuweisen, dass der Beschluss des Landgerichts vom
6. Oktober 2010 schon deshalb nicht geeignet ist, eine Heilung der Haftverlän-
gerung vom November 2009 herbeizuführen, da er auf die Beschwerde des
Klägers gegen die weitere Haftverlängerung vom Februar 2010 ergangen ist
und folglich nicht die hier maßgebliche erste Haftverlängerung vom November
2009 betrifft.
2.3 Außerdem hätte dem Kläger spätestens zu Beginn seiner Anhörung im No-
vember 2009 eine Abschrift des Antrags der Bundespolizei ausgehändigt wer-
den müssen.
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Diese auch in Verfahren der Zurückschiebungshaft geltende Pflicht ergibt sich
aus der allgemeinen Regelung in § 23 Abs. 2 FamFG. Danach soll das Gericht
verfahrenseinleitende Anträge den übrigen Beteiligten übermitteln. Die Aushän-
digung des Antrags ist im Anhörungsprotokoll oder an einer anderen Aktenstelle
schriftlich zu protokollieren (BGH, Beschlüsse vom 4. März 2010 - V ZB 222/09
- BGHZ 184, 323 <330>, vom 14. Juni 2012 - V ZB 284/11 - InfAuslR 2012, 369
und vom 11. Oktober 2012 - V ZB 274/11 - InfAuslR 2013, 77). Auch dieser
Mangel kann im weiteren Verfahren - mit Wirkung für die Zukunft - geheilt wer-
den, indem dem Betroffenen der Haftantrag nachträglich übermittelt und ihm
durch eine erneute persönliche Anhörung Gelegenheit gegeben wird, sich zu
dem ihm nunmehr bekannten Haftantrag zu äußern (BGH, Beschluss vom
10. Oktober 2013 - V ZB 127/12 - FGPrax 2014, 39).
Zu welchem Zeitpunkt das Amtsgericht hiernach dem Kläger den Verlänge-
rungsantrag der Bundespolizei spätestens hätte übermitteln müssen (vgl. hierzu
BGH, Beschlüsse vom 1. Juli 2011 - V ZB 141/11 - InfAuslR 2011, 399 und vom
4. März 2010 a.a.O.), bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung,
da nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit für das Revisi-
onsgericht grundsätzlich bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) Feststellungen des
Berufungsgerichts dem Kläger der Antrag weder vor noch zu Beginn der Anhö-
rung und auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt, unter Eröffnung einer Mög-
lichkeit zur erneuten persönlichen Anhörung, übermittelt worden ist.
Die Nichtaushändigung des Haftverlängerungsantrags führt, jedenfalls unter
den hier gegebenen Umständen, ebenfalls zur Rechtswidrigkeit der Haftverlän-
gerung. Zwar hat der Bundesgerichtshof mit Blick auf die Rechtsprechung des
Gerichtshofs der Europäischen Union zu den sich aus der Richtlinie
2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember
2008 (Rückführungsrichtlinie) ergebenden Anforderungen an die richterliche
Kontrolle der von einem Drittstaatsangehörigen gerügten Verletzung des
Rechts auf rechtliches Gehör bei Entscheidungen zur Inhaftnahme nach Art. 15
dieser Richtlinie - unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung - entschieden,
dass die unterbliebene Aushändigung des Haftantrags nur dann zu einer Auf-
hebung der Haftanordnung (bzw. nach einer Erledigung der Hauptsache zur
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Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit) führt, wenn das Verfahren ohne diesen Feh-
ler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (Beschluss vom 16. Juli
2014 -V ZB 80/13 - InfAuslR 2014, 384). Es kann dahinstehen, ob eine derarti-
ge Kausalitätsprüfung auch in Altfällen geboten ist, in denen - wie im Fall des
Klägers - die maßgebliche Haftentscheidung vor Ablauf der Umsetzungsfrist der
Rückführungsrichtlinie (24. Dezember 2010, vgl. Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie)
ergangen ist. Denn angesichts der Mangelhaftigkeit des Haftantrags ist davon
auszugehen, dass das Verfahren bei ordnungsgemäßer Aushändigung einer
Abschrift dieses Antrags an den Kläger zu einem anderen Ergebnis hätte führen
können, die unterbliebene Aushändigung hier also selbst nach der einschrän-
kenden neueren Rechtsprechung des BGH beachtlich ist. Damit erübrigt sich
eine Auseinandersetzung mit den vom Kläger gegen diese Rechtsprechung
erhobenen Einwänden.
3. Die Berufung des Klägers auf die Rechtswidrigkeit der Haftunterbringung ist
entgegen der Auffassung der Beklagten weder rechtsmissbräuchlich noch stellt
sie eine unzulässige Rechtsausübung dar.
Der Berücksichtigung der Rechtswidrigkeit der Sicherungshaft im Kostenerstat-
tungsverfahren steht insbesondere nicht entgegen, dass der Kläger seine wah-
re Identität und Staatsangehörigkeit verschwiegen und bei der Beschaffung von
Identitätspapieren nicht mitgewirkt hat. Selbst wenn der Kläger durch sein Ver-
halten mit dazu beigetragen haben sollte, dass er in Sicherungshaft genommen
wurde, ist ihm eine Berufung auf die bei der Verlängerung der Freiheitsentzie-
hung einzuhaltenden Verfahrensgarantien im nachgelagerten Kostenverfahren
nicht verwehrt. Denn die Verletzung ausländerrechtlicher Mitwirkungspflichten
enthebt die zuständige Behörde und das die Freiheitsentziehung anordnende
Gericht nicht von der Verpflichtung zu rechtmäßigem Handeln (Art. 20 Abs. 3
GG), wenn es darum geht, welche rechtlichen Konsequenzen hieraus gezogen
werden dürfen. Insbesondere enthebt das Verhalten des Klägers die staatlichen
Stellen nicht von der Verpflichtung zur Einhaltung der bei der Anordnung oder
Verlängerung einer Freiheitsentziehung zum Schutz des Betroffenen einzuhal-
tenden verfahrensrechtlichen Garantien.
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Gleiches gilt für den Umstand, dass der Kläger gegen die Haftverlängerung
vom November 2009 kein Rechtsmittel eingelegt hat. Schließt das einschlägige
Recht eine Inzidentprüfung der Haftanordnung nicht aus, kann dem Betroffenen
im Kostenerstattungsverfahren nicht entgegengehalten werden, dass er zuvor
von der Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Haftanordnung keinen Gebrauch
gemacht hat.
Dass der Kläger nicht zu den Kosten der rechtswidrigen Haftunterbringung her-
angezogen werden darf, führt auch nicht zu einer übermäßigen Belastung der
Behörden. Ihren Interessen wird vor allem dadurch hinreichend Rechnung ge-
tragen, dass im Kostenerstattungsverfahren die Rechtmäßigkeit der kostenver-
ursachenden Amtshandlungen ex-ante aus Sicht der handelnden Behörde zu
beurteilen ist.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
Fricke
Dr. Rudolph
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