Urteil des BVerwG vom 28.09.2004

Aufenthaltserlaubnis, Eltern, Sozialhilfe, Ausweisungsgrund

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 10.03
Verkündet
VG 4 A 5570/02
am 28. September 2004
Schmidt
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 28. September 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und H u n d ,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k und den Richter am Bundes-
verwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Verwaltungs-
gerichts Hannover vom 3. März 2003 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentschei-
dung vorbehalten.
G r ü n d e :
I.
Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung einer unbefristeten
Aufenthaltserlaubnis.
Der 1982 in Teheran geborene Kläger ist ebenso wie seine Eltern iranischer Staats-
angehöriger. Er reiste im März 1988 zunächst nur mit seiner Mutter in das Bundes-
gebiet ein und beantragte - erfolglos - Asyl. Im Dezember 1990 erhielt der Kläger
eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltserlaubnis, die nach In-Kraft-Treten des neuen
Ausländerrechts ab 1. Januar 1991 als Aufenthaltsbefugnis fortgalt. Die Aufenthalts-
befugnis wurde in der Folgezeit bis zur Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht
ununterbrochen - jeweils auf der Grundlage einer niedersächsischen "Bleiberechts-
regelung" - verlängert, zuletzt durch Bescheid der Beklagten vom 19. Juli 2001 bis
18. Juli 2003.
Im Mai und Juni 2001 beantragte der Kläger eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26. Juli 2002 ab. Zur Begrün-
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dung verwies sie darauf, dass die Eltern des Klägers, denen er nach § 1601 BGB
zum Unterhalt verpflichtet sei, Sozialhilfe in Anspruch nähmen. Hierin liege ein Ver-
sagungsgrund nach § 35 Abs. 1 Satz 1, § 24 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 46 Nr. 6 AuslG.
Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein, der erst während des verwaltungsge-
richtlichen Verfahrens beschieden und als unbegründet zurückgewiesen wurde.
Mit Urteil vom 3. März 2003 hat das Verwaltungsgericht durch den Einzelrichter die
im November 2002 erhobene Untätigkeitsklage abgewiesen und die Berufung sowie
die Revision gegen seine Entscheidung zugelassen. Zur Begründung hat sich das
Verwaltungsgericht auf die wörtlich wiedergegebenen Gründe einer Entscheidung
des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (richtig: vom 19. September 2000)
- OVG 10 L 1680/00 - bezogen, die auf den vorliegenden Fall entsprechend anzu-
wenden seien. Danach scheitere die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaub-
nis nach § 35 Abs. 1, § 24 Abs. 1 Nr. 6, § 46 Nr. 6 AuslG am Sozialhilfebezug der
Eltern. Die an Sinn und Zweck sowie an der Entstehungsgeschichte orientierte Aus-
legung des § 46 Nr. 6 AuslG ergebe, dass trotz der sprachlich missglückten Formu-
lierung sowohl der Hilfeempfänger selbst als auch der Unterhaltsverpflichtete im Falle
der Inanspruchnahme von Sozialhilfe ausgewiesen werden könnten. Die Bestim-
mung diene den fiskalischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Ob eine
Unterhaltspflicht bestehe, sei nach deutschem Recht zu beurteilen. Obwohl die Un-
terhaltspflicht bei mangelnder Leistungsfähigkeit im Einzelfall nach § 1603 Abs. 1
BGB entfalle, ändere dies nichts am Vorliegen eines Ausweisungsgrundes. § 46
Nr. 6 AuslG stelle auf die allgemeine Unterhaltspflichtigkeit ab. Liege danach mit dem
Sozialhilfebezug der Eltern ein Ausweisungsgrund vor, komme es nicht darauf an, ob
der Ausländer deswegen auch tatsächlich (konkret) rechtsfehlerfrei ausgewiesen
werden könnte. Denn für die unbefristete Aufenthaltserlaubnis sei allein maßgeblich,
ob ein (abstrakter) Ausweisungsgrund vorliege. Ob der Sozialhilfebezug eines deut-
schen Familienangehörigen unter Umständen anders bewertet werden müsse, sei
nicht entscheidungserheblich.
Der Kläger hat die vom Einzelrichter zugelassene Sprungrevision mit Zustimmung
der Beklagten eingelegt und verfolgt damit sein Begehren auf Erteilung einer unbe-
fristeten Aufenthaltserlaubnis weiter. Zur Begründung macht er weiterhin vor allem
geltend, es könne nicht richtig sein, dass junge Ausländer, deren Eltern Sozialhilfe in
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Anspruch nehmen müssten, nur dann Aussicht auf eine unbefristete Aufenthaltser-
laubnis hätten, wenn sie entweder selbst Großverdiener seien und ihre Eltern unter-
halten könnten oder wenn die Eltern verstorben seien.
Die Beklagte beruft sich auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils und
weist noch darauf hin, dass die von ihr befürwortete strikte Anwendung des Gesetzes
einen sinnvollen Druck auf die Vermeidung von Sozialhilfebezug ausübe.
Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren und hält in Überein-
stimmung mit dem Bundesministerium des Innern die Revision für unbegründet. § 24
Abs. 1 Nr. 6 AuslG stelle nur auf das abstrakte Vorliegen eines Ausweisungsgrundes
in der Person des betroffenen Ausländers ab. Diese Auslegung sei zweckgerecht.
Denn an die Verleihung eines besseren Aufenthaltsstatus müssten andere Anforde-
rungen gestellt werden als an den Entzug einer bestehenden Rechtsposition, die die
Abwägung mit Bestands- und Vertrauensschutzgesichtspunkten erfordere. Dass bei
der Auslegung der entsprechenden Bestimmungen die Kinder gewissermaßen auf-
enthaltsrechtlich für ihre Eltern haften würden, sei sachgerecht. Auch das Bürgerliche
Gesetzbuch betrachte unterhaltsrechtlich Eltern und Kinder als eine wirtschaftliche
Beistandsgemeinschaft.
II.
1. Die Revision ist zulässig.
Sie ist unter Beachtung der besonderen Vorschriften für die Sprungrevision (§ 134
VwGO) form- und fristgerecht mit Zustimmung der Beklagten eingelegt und begrün-
det worden. Zulässigkeitsbedenken ergeben sich im Ergebnis auch nicht daraus,
dass die Sprungrevision vom Einzelrichter nach § 6 VwGO zugelassen worden ist.
Allerdings lässt der Senat offen, ob die nach § 134 Abs. 2 Satz 2 VwGO in aller Re-
gel zwingende Bindung des Revisionsgerichts an die Zulassungsentscheidung des
Verwaltungsgerichts nach § 134 Abs. 2 Satz 1 VwGO ausnahmsweise entfallen oder
eine Revisionszulassung unwirksam sein kann, wenn sie im Einzelfall unter Verlet-
zung des Verfassungsgebots des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2
GG - d.h. in manipulativer oder objektiv willkürlicher Missachtung der einschlägigen
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Bestimmungen - ergangen ist (zur Aufhebung und Zurückverweisung von Amts we-
gen in Fällen einer objektiv willkürlichen Einzelrichterzulassung nach §§ 568, 574
gl. BGH, Beschluss vom 13. März 2003 - IX ZB 134/02 -, BGHZ 154, 200). Ein
solcher Fall liegt hier nicht vor. Die Zulassung der Berufung oder Sprungrevision we-
gen grundsätzlicher Bedeutung durch den Einzelrichter beim Verwaltungsgericht ver-
letzt namentlich nicht schon deshalb Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, weil der Einzelrichter
einerseits nach § 6 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur mit einer Rechtssache befasst werden
darf, die keine grundsätzliche Bedeutung hat und nach § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO den
Rechtsstreit auf die Kammer zurückübertragen kann, während andererseits die Zu-
lassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO und der Sprungrevision nach
§ 134 Abs. 2 Satz 1, § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO voraussetzt, dass die Sache grund-
sätzliche Bedeutung hat (vgl. im Einzelnen das Urteil vom 29. Juli 2004 - BVerwG
5 C 65.03 -, zur Veröffentlichung vorgesehen, m.w.N.; zur Unzulässigkeit von Vorla-
gen des Einzelrichters nach Art. 100 Abs. 1 GG vgl. aber BVerfG, Kammer-Be-
schluss vom 5. August 1998 - 1 BvL 23/97 - NJW 1999, 274). Vielmehr ist davon
auszugehen, dass der Gesetzgeber nach § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO die Entscheidung
des Einzelrichters in Fällen von grundsätzlicher Bedeutung nicht stets ausgeschlos-
sen und eine Rückübertragung auf die Kammer sogar nur zugelassen hat, wenn sich
die grundsätzliche Bedeutung erst im Verlauf des Verfahrens aus einer wesentlichen
Änderung der Prozesslage ergibt (Urteil vom 29. Juli 2004 a.a.O. unter Hinweis auf
BGH, Urteil vom 16. Juli 2003 - VIII ZR 286/02 -, MDR 2004, 49 = NJW 2003, 2900
zu dem mit § 6 Abs. 3 VwGO vergleichbaren § 526 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). An diese Be-
stimmungen hat sich das Verwaltungsgericht im vorliegenden Ausgangsverfahren
gehalten. Ob bereits zum Zeitpunkt der Übertragung des Rechtsstreits auf den Ein-
zelrichter nach § 6 Abs. 1 VwGO die grundsätzliche Bedeutung der Sache erkennbar
war, kann dahinstehen; Anhaltspunkte für eine willkürliche Übertragung sind jeden-
falls nicht ersichtlich. Die Entscheidung des Einzelrichters gegen eine Rückübertra-
gung auf die Kammer nach § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO und für die Zulassung der
Sprungrevision, nachdem die Sitzungsvertreterin der Beklagten in der mündlichen
Verhandlung darauf hingewiesen hatte, dass das Bundesverwaltungsgericht bereits
früher die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung in einem vergleichbaren Ver-
fahren zugelassen hatte, war auch nicht ermessensfehlerhaft, geschweige denn will-
kürlich. Der Einzelrichter wollte offenbar - wie die vollständige Bezugnahme in den
Entscheidungsgründen auf das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsge-
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richts vom 19. September 2000 (OVG 10 L 1680/00), gegen das der Senat die später
nicht durchgeführte Revision zugelassen hatte, zeigt - nur erreichen, dass die
seinerzeit unentschieden gebliebene Rechtsfrage nunmehr vom Bundesverwal-
tungsgericht alsbald rechtsgrundsätzlich geklärt wird. Unter diesen Umständen ist die
Zulassung der Sprungrevision durch den Einzelrichter nicht zu beanstanden.
2. Die Revision ist - mit dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beschei-
dungsantrag (§ 113 Abs. 5 VwGO) - auch begründet.
Das Verwaltungsgericht hat mit seiner Annahme, der Sozialhilfebezug der Eltern des
Klägers stehe der Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis an ihn entgegen,
Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die Abweisung der auf Neu-
bescheidung gerichteten Klage kann hierauf nicht gestützt werden. Der Senat kann
über das Begehren des Klägers indes nicht abschließend entscheiden, da das Ver-
waltungsgericht bisher - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - keine Feststellun-
gen dazu getroffen hat, ob alle weiteren gesetzlichen Voraussetzungen für die im
Ermessen der Beklagten stehende Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis
nach § 35 Abs. 1 AuslG erfüllt sind. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben
und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwal-
tungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Nach § 35 Abs. 1 Satz 1 AuslG kann die Ausländerbehörde einem Ausländer, der
seit acht Jahren eine Aufenthaltsbefugnis besitzt und dessen Lebensunterhalt aus
eigener Erwerbstätigkeit oder aus eigenem Vermögen gesichert ist, eine unbefristete
Aufenthaltserlaubnis erteilen, wenn zusätzlich die Voraussetzungen des § 24 Abs. 1
Nrn. 2 bis 6 AuslG vorliegen, d.h. der Ausländer als Arbeitnehmer eine Arbeitsbe-
rechtigung besitzt (Nr. 2), er im Besitz der sonstigen für eine dauernde Ausübung
seiner Erwerbstätigkeit erforderlichen Erlaubnisse ist (Nr. 3), er sich auf einfache Art
in deutscher Sprache mündlich verständigen kann (Nr. 4), über ausreichenden
Wohnraum verfügt (Nr. 5) und wenn kein Ausweisungsgrund vorliegt (Nr. 6). Nach
den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ist der Kläger im maßgeblichen Zeit-
punkt der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz seit deutlich mehr als
acht Jahren im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis gewesen. Die Beklagte hat bislang
die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis stets mit der Begründung ab-
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gelehnt, der Kläger müsse sich den (unstreitigen) Sozialhilfebezug seiner Eltern als
Ausweisungs- und Versagungsgrund nach § 35 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 24 Abs. 1
Nr. 6, §§ 45, 46 Nr. 6 AuslG entgegenhalten lassen (a). Nur damit hat sich das Ver-
waltungsgericht auseinander gesetzt. Hingegen ist bisher nicht geprüft, ob der Kläger
den weiteren Anforderungen nach § 35 Abs. 1 Satz 1, § 24 Abs. 1 Nrn. 2 bis 5 AuslG
genügt (b).
a) Ein Ausweisungsgrund im Sinne von § 35 Abs. 1 Satz 1, § 24 Abs. 1 Nr. 6 AuslG
liegt nach dem Grund- und Auffangtatbestand des § 45 Abs. 1 AuslG vor, wenn der
Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige er-
hebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt.
Nach § 46 Nr. 6
AuslG ist das insbesondere auch der Fall, wenn der Ausländer für sich, seine Famili-
enangehörigen, die sich im Bundesgebiet aufhalten und denen er allgemein zum
Unterhalt verpflichtet ist, oder für Personen in seinem Haushalt, für die er Unterhalt
getragen oder auf Grund einer Zusage zu tragen hat, Sozialhilfe in Anspruch nimmt
oder in Anspruch nehmen muss. Der Ausweisungsgrund in der Funktion eines Ver-
sagungsgrundes, der die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung (hier: einer unbe-
fristeten Aufenthaltserlaubnis) grundsätzlich ausschließt, muss dabei nur gleichsam
abstrakt - d.h. nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen - vorliegen. Nicht er-
forderlich ist hingegen, dass der Ausländer wegen des festgestellten Ausweisungs-
grundes im Einzelfall auch (konkret) rechtsfehlerfrei ausgewiesen werden könnte
(stRspr; vgl. etwa Beschluss vom 24. Juni 1997 - BVerwG 1 B 122.97 - ; Urtei-
le vom 27. August 1996 - BVerwG 1 C 8.94 - BVerwGE 102, 12 <17> und vom
16. Juli 2002 - BVerwG 1 C 8.02 - BVerwGE 116, 378 <385>, vgl. auch Renner
AuslR, 7. Aufl. 1999, § 7 AuslG Rn. 13 ff. <15> ). Denn mit dem Verweis auf Auswei-
sungsgründe nach §§ 45 ff. AuslG sollen die öffentlichen Interessen bereits bei der
Aufenthaltsgewährung (vgl. etwa § 7 Abs. 2 Nr. 1, § 16 Abs. 3 Nr. 2, § 17 Abs. 5,
§ 19 Abs. 3 AuslG) und Aufenthaltsverfestigung (vgl. auch § 27 Abs. 2 Nr. 5 AuslG)
vorbeugend und in weiterem Umfang als bei der Aufenthaltsbeendigung durch Aus-
weisung zur Geltung gebracht werden. Daran ist festzuhalten.
Allerdings sind bei der Auslegung und Anwendung des Ausweisungsgrundes des
Sozialhilfebezugs von Angehörigen gemäß § 46 Nr. 6 AuslG als Erlaubnisversa-
gungsgrund die Ziele zu berücksichtigen, welche der Gesetzgeber hiermit verfolgt.
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Die Vorschrift dient allgemein und in erster Linie fiskalischen Interessen. Sie soll,
soweit sie einer Aufenthaltsgenehmigung und Aufenthaltsverfestigung entgegensteht,
die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu Lasten der Allgemeinheit verhindern
und im Falle der Ausweisung beenden. Mit diesem Regelungsgehalt steht die
Verweisung auf § 46 Nr. 6 AuslG in einem Spannungsverhältnis zu dem humanitären
Begünstigungszweck, den § 35 Abs. 1 AuslG nach der Gesetzesbegründung verfolgt.
Die Vorschrift soll danach zwar "denjenigen Ausländern die Möglichkeit zur
Erlangung eines rechtlich gesicherten Daueraufenthalts … eröffnen, deren Aufent-
haltsbeendigung seit Jahren aus humanitären, rechtlichen oder tatsächlichen Grün-
den nicht möglich ist" (BTDrucks 11/6321, S. 68). Ihnen soll diese Vergünstigung
aber nur zugute kommen, wenn sie die weiteren gesetzlichen Anspruchsvorausset-
zungen und damit zugleich keine "geringeren Integrationsanforderungen" erfüllen als
andere Ausländer, die einen rechtlich gesicherten Daueraufenthalt anstreben (vgl.
BTDrucks 11/6321, a.a.O.). Die Anspruchsvoraussetzungen, insbesondere die Min-
destdauer eines legalen Aufenthalts von acht Jahren und die Sicherung des eigenen
Lebensunterhalts des Ausländers nach § 35 Abs. 1 Satz 1 AuslG, stellen ferner Indi-
katoren für eine "bereits tatsächlich vollzogene Integration" dar, welche die Aufent-
haltsverfestigung nach § 35 AuslG "lediglich ... auch ausländerrechtlich nachvoll-
zieht" (vgl. BTDrucks 11/6321, a.a.O.). Mit der Bezugnahme auf § 24 Abs. 1 Nrn. 2
bis 6 AuslG wird ferner sichergestellt, dass für die humanitäre Aufenthaltsverfesti-
gung nach § 35 AuslG insgesamt keine geringeren (Integrations-) Bedingungen gel-
ten als für eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AuslG.
Danach reicht es für die begehrte Aufenthaltsverfestigung - entgegen der Ansicht der
Revision - allein nicht aus, dass der Kläger für sich selbst keine Sozialhilfe in An-
spruch nimmt und - was bisher allerdings nicht abschließend geprüft worden ist -
darüber hinaus sein Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit oder eigenem
Vermögen gesichert ist (§ 35 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AuslG; vgl. auch § 24 Abs. 2
AuslG). Er muss vielmehr nach der gesetzlichen Regelung grundsätzlich auch dafür
einstehen, dass seine Familienangehörigen, denen er zum Unterhalt verpflichtet ist,
keine Sozialhilfe beziehen, um den Lebensunterhalt in Deutschland zu bestreiten.
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass § 46 Nr. 6 AuslG
trotz seines unscharfen Wortlauts (Inanspruchnahme von Sozialhilfe "für … seine
Familienangehörigen") nicht anders ausgelegt und verstanden werden kann (vgl.
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Hailbronner, AuslR, § 46 AuslG Rn. 59; Renner, a.a.O. § 46 AuslG Rn. 41 f.;
Vormeier in: GK-AuslR, § 46 AuslG Rn. 118).
Der Ausländer "haftet" nach dieser Bestimmung jedoch ausländerrechtlich für seine
Familienangehörigen, zu denen die Eltern gehören, nicht voraussetzungslos und un-
beschränkt. Das gilt auch, soweit § 46 Nr. 6 AuslG nicht als Ermächtigung für eine
Ausweisung, sondern als Versagungsgrund für die Erteilung einer unbefristeten Auf-
enthaltserlaubnis - hier nach § 35 Abs. 1 AuslG - anzuwenden ist. So rechnet § 46
Nr. 6 AuslG den Sozialhilfebezug von Familienangehörigen dem Ausländer nur dann
zu, wenn er ihnen zum Unterhalt verpflichtet ist, d.h. wenn er ihnen nach dem anzu-
wendenden Recht Unterhalt schuldet. Das hat das Verwaltungsgericht durch seine
vollständige Bezugnahme auf die Gründe der zitierten Entscheidung des Oberver-
waltungsgerichts, welche eine libanesische Staatsangehörige betraf, angenommen
und für den aus dem Iran stammenden Kläger nicht mehr selbständig überprüft. Mit
dieser Annahme verletzt die Entscheidung Bundesrecht, weil für den Kläger als irani-
schen Staatsangehörigen nicht - wie etwa für libanesische Staatsangehörige - nach
Art. 18 Abs. 1 EGBGB, Art. 4 des Haager Übereinkommens über das auf Unterhalts-
verpflichtungen anzuwendende Recht (vom 2. Oktober 1973, BGBl 1986 II, 837)
deutsches Unterhaltsrecht anwendbar ist. Vielmehr ist die Unterhaltsverpflichtung
des Klägers gegenüber seinen in Deutschland lebenden Eltern nach iranischem
Recht zu bestimmen. Das ergibt sich aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1 EGBGB i.V.m. Art. 8
Abs. 3 des Deutsch-Iranischen Niederlassungsabkommens (Niederlassungsabkom-
men zwischen dem Deutschen Reich und dem Kaiserreich Persien vom 17. Februar
1929, RGBl 1930 II, 1002, 1006 und 1931 II, 9), das nach wie vor in Geltung ist (vgl.
die Bekanntmachung über die deutsch-iranischen Vorkriegsverträge vom 15. August
1955, BGBl 1955 II, 829; vgl. ferner etwa Hohloch in: Erman, BGB, 10. Aufl. 2000,
Art. 18 EGBGB Rn. 3 ff., 6 und Schotten/Wittkowski, Das deutsch-iranische Nieder-
lassungsabkommen im Familien- und Erbrecht, FamRZ 1995, 264 ff.). Ob der Kläger
seinen Eltern nach iranischem Recht unterhaltspflichtig ist, ist nicht festgestellt. Die-
ser Fehler des angegriffenen Urteils wirkt sich auf die Revisionsentscheidung jedoch
nicht aus. Er würde eine Zurückverweisung nur gebieten, wenn der Sozialhilfebezug
der Eltern - eine Unterhaltspflicht des Klägers nach iranischem Recht unterstellt - der
Erteilung der begehrten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis entgegenstünde. Das ist
aber nicht der Fall. Die Versagung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 35
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Abs. 1 AuslG i.V.m. § 24 Abs. 1 Nr. 6, § 46 Nr. 6 AuslG hängt nämlich zusätzlich
auch davon ab, dass der Sozialhilfebezug von unterhaltsberechtigten Familien-
angehörigen den mit dem abstrakten Versagungsgrund verbundenen Regelungs-
zweck überhaupt berührt.
Das kommt nur in Betracht, wenn die begehrte Aufenthaltsverfestigung auch tatsäch-
lich die mit dem Versagungsgrund geschützten fiskalischen Interessen der Bundes-
republik Deutschland beeinträchtigt. Das ist zwar regelmäßig und typischerweise
dann der Fall, wenn der Ehegatte und die minderjährigen ledigen Kinder des Aus-
länders Sozialhilfe beziehen, weil deren aufenthaltsrechtlicher Status mit dem Auf-
enthaltsrecht des Vaters und Ehemanns zusammenhängt und nach § 35 Abs. 2
AuslG verfestigt wird, falls diesem eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach § 35
Abs. 1 Satz 1 AuslG erteilt wird. Eine in diesen Fällen mit Erteilung einer unbefriste-
ten Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 1 AuslG notwendigerweise verbundene
"Verfestigung" auch des Sozialhilfebezugs der Familienangehörigen widerspricht den
öffentlichen Interessen an der Vermeidung der Inanspruchnahme von Sozialleistun-
gen zu Lasten der Allgemeinheit und steht deshalb der Gewährung eines humanitä-
ren Daueraufenthaltsrechts nach § 35 Abs. 1 AuslG entgegen. Dasselbe muss für
alle weiteren Fallkonstellationen gelten, in denen die Aufenthaltsverfestigung für den
Antragsteller zugleich Auswirkungen auf die Aufenthaltsrechte von Familienangehö-
rigen (etwa nach § 17 Abs. 2, § 22 AuslG) und anderen Personen hat, deren Sozial-
hilfebezug sich der Ausländer nach § 46 Nr. 6 AuslG im Sinne eines abstrakten Ver-
sagungsgrundes entgegenhalten lassen muss. In allen anderen Fällen jedoch, in de-
nen der aufenthaltsrechtliche Status dieses Personenkreises - und damit auch der
den ausländerrechtlichen Anforderungen zuwiderlaufende Sozialhilfebezug - von der
Rechtstellung des antragstellenden Ausländers unabhängig ist, werden die durch
§ 46 Nr. 6 AuslG geschützten fiskalischen Interessen durch die Erteilung einer unbe-
fristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 1 AuslG tatsächlich nicht nachteilig be-
troffen. Das gilt beispielsweise auch, wenn ein deutscher Familienangehöriger des
Ausländers Sozialhilfe bezieht (vgl. zutreffend VG Düsseldorf, InfAuslR 1993, 344
und Vormeier, a.a.O., Rn. 119). Unter solchen Umständen kann der nach dem Wort-
laut des § 46 Nr. 6 AuslG im Einzelfall vorliegende "Ausweisungsgrund" des Sozial-
hilfebezugs in seiner Funktion als Versagungsgrund einer Aufenthaltsverfestigung
nach § 35 Abs. 1 Satz 1, § 24 Abs. 1 Nr. 6 AuslG nicht entgegenstehen.
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Nach dieser teleologischen Auslegung des abstrakten Versagungsgrundes der Inan-
spruchnahme von Sozialhilfe nach § 35 Abs. 1, § 24 Abs. 1 Nr. 6, § 46 Nr. 6 AuslG
ist der Sozialhilfebezug der Eltern des Klägers hier nicht geeignet, die Versagung der
von ihm begehrten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis zu rechtfertigen. Denn die El-
tern des Klägers leiten ihren Aufenthaltsstatus in keiner Weise vom Kläger ab. Eine
dem Kläger erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach § 35 AuslG hätte weder
auf das Aufenthaltsrecht seiner Eltern noch auf deren Sozialhilfebezug eine rechtlich
oder tatsächlich erhebliche Rückwirkung. Mit der Versagung der unbefristeten Auf-
enthaltserlaubnis lässt sich die Inanspruchnahme von Sozialhilfe durch die Eltern des
Klägers weder vermeiden noch beenden.
Soweit die Beklagte hierzu der Sache nach einwendet, die (drohende) Versagung der
unbefristeten Aufenthaltserlaubnis könne dem Ziel der Vermeidung von Soziallasten
mittelbar dadurch dienen, dass der in § 46 Nr. 6 genannte Personenkreis im Interes-
se des antragstellenden Ausländers faktisch von der Inanspruchnahme von
Sozialleistungen absehen könne, entspricht dies nicht dem gesetzlichen Regelungs-
zweck. Ebenso wenig ist erkennbar, dass der Gesetzgeber - wie der Vertreter des
Bundesinteresses geltend macht - dem Ausländer bei der Erteilung einer unbefriste-
ten Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 1 AuslG eine unbeschränkte aufenthalts-
rechtliche "Haftung" (hier: des Sohnes für seine Eltern) im Hinblick darauf aufbürden
wollte, dass Eltern und Kinder nach deutschem Unterhaltsrecht als eine wirtschaftli-
che Beistandsgemeinschaft betrachtet werden. Beides widerspräche den humanitä-
ren Absichten des Gesetzgebers, solchen Ausländern einen rechtlich gesicherten
Daueraufenthalt zu ermöglichen, die sich seit langem hier aufhalten und die sich
selbst in das wirtschaftliche und soziale Leben integriert haben.
b) Das Verwaltungsgericht hat bisher nicht geprüft und keine Feststellungen dazu
getroffen, ob der Kläger die weiteren Voraussetzungen für die Erteilung einer unbe-
fristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 1 Satz 1 AuslG (die bereits erwähnte
spezielle Anforderung der Sicherung des Lebensunterhalts aus eigener Erwerbstä-
tigkeit oder eigenem Vermögen) und nach § 24 Abs. 2 Nrn. 2 bis 5 AuslG erfüllt. Dem
Bundesverwaltungsgericht ist es verwehrt, hierzu eigene Feststellungen zu treffen
(vgl. § 137 Abs. 2 VwGO). Diese wird das Verwaltungsgericht nunmehr nachzuholen
haben.
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Die Entscheidung über die Kosten ist der Schlussentscheidung vorzubehalten.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Hund
Beck Prof. Dr. Dörig
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 4 000 € (vier-
tausend Euro) festgesetzt (§ 13 Abs. 1 Satz 2 GKG a.F. i.V.m. § 72 GKG i.d.F. des
Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 5. Mai 2004 (BGBI I S. 718).
Eckertz-Höfer Beck Hund
Sachgebiet:
BVerwGE: ja
Ausländerrecht
Fachpresse: ja
Verwaltungsprozessrecht
Rechtsquellen:
GG
Art. 101 Abs. 1 Satz 2
AuslG
§ 24 Abs. 1; § 35; § 46 Nr. 6
VwGO
§ 6, § 134
Stichworte:
Versagung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis; Ausweisungsgrund Sozialhilfebe-
zug der Eltern; Ausweisungsgrund als abstrakter Versagungsgrund; Zulassung der
Sprungrevision durch den Einzelrichter.
Leitsätze:
1. Eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 1 AuslG darf einem Aus-
länder dann nicht unter Berufung auf den Ausweisungsgrund nach § 46 Nr. 6 AuslG
mit der Begründung versagt werden, dass seine in Deutschland lebenden Eltern So-
zialhilfe beziehen, wenn die Eltern ein eigenes Aufenthaltsrecht besitzen, das vom
Aufenthaltsstatus des Sohnes unabhängig ist.
2. Der Senat lässt offen, ob die Bindung des Revisionsgerichts an die Zulassung der
Sprungrevision ausnahmsweise entfallen oder die Zulassung unwirksam sein kann,
wenn sie im Einzelfall unter Verletzung des Verfassungsgebots des gesetzlichen
Richters ergangen ist (unter Bezugnahme auf das Urteil vom 29. Juli 2004
- BVerwG 5 C 65.03 -)
Urteil des 1. Senats vom 28. September 2004 - BVerwG 1 C 10.03
VG Hannover vom 03.03.2003 - Az.: VG 4 A 5570/02 -