Urteil des BVerwG vom 14.03.2017

BVerwG: anerkennung, bundesamt für migration, ablauf der frist, beweiserleichterung, russische föderation, genfer flüchtlingskonvention, staatliche verfolgung, zugehörigkeit

Rechtsquellen:
AsylVfG
§ 3 Abs. 1, § 26 Abs. 1 und Abs. 4
AufenthG
§ 60 Abs. 1 Satz 1 und Satz 5
VwGO
§ 108 Abs. 1, § 137 Abs. 2, § 139 Abs. 3
Richtlinie 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, Art. 8, Art. 9, Art. 10
Stichworte:
Beweiserleichterung; Beweislastumkehr; Familienflüchtlingsschutz; Flüchtlings-
anerkennung; Flüchtlingseigenschaft; interner Schutz; inländische Fluchtalter-
native; Nationalität; politische Überzeugung; Prognose; Rasse; Terrorismusab-
wehr; Verfolgungshandlung; Verfolgungsgrund; Verfolgungsprognose; Vorver-
folgung.
Leitsätze:
1. Dem im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der
Richtlinie 2004/83/EG vorverfolgten Asylantragsteller kommt die Beweiserleich-
terung nach dieser Bestimmung auch bei der Prüfung zugute, ob für ihn im Ge-
biet einer internen Schutzalternative gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie
2004/83/EG keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht.
2. a) Der unanfechtbaren Anerkennung des Stammberechtigten, die nach § 26
Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG für die Gewährung von Familienasyl und Familienflücht-
lingsschutz an den Ehegatten erforderlich ist (vgl. § 26 Abs. 4 AsylVfG), steht
eine rechtskräftige gerichtliche Verpflichtung des Bundesamts für Migration und
Flüchtlinge zur Anerkennung des Stammberechtigten gleich.
b) Dieser Anforderung ist im Revisionsverfahren ausnahmsweise auch dann
Genüge getan, wenn das Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig abschließend
über die Asylanträge der Ehegatten entscheidet und die Verpflichtung zur An-
erkennung des Stammberechtigten zugleich mit der Entscheidung über den
Asylantrag des Ehegatten rechtskräftig wird.
Urteil des 10. Senats vom 5. Mai 2009 - BVerwG 10 C 21.08
I. VG Kassel vom 02.06.2004 - Az.:
VG 2 E 1588/02.A -
II. VGH Kassel vom 09.04.2008 - Az.: OVG 3 UE 460/06.A -
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BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 21.08
VGH 3 UE 460/06.A
Verkündet
am 5. Mai 2009
Röder
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 5. Mai 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Die Revisionen der Beklagten und des Bundesbeauftrag-
ten gegen den Beschluss des Hessischen Verwaltungsge-
richtshofs vom 9. April 2008 werden zurückgewiesen.
Die Beklagte und der Bundesbeauftragte tragen die Kos-
ten des Revisionsverfahrens je zur Hälfte.
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G r ü n d e :
I
Die Kläger, aus Tschetschenien stammende Eheleute russischer Staatsange-
hörigkeit, erstreben ihre Anerkennung als Flüchtlinge.
Der 1975 geborene Kläger ist armenischer Volks- und christlicher Religionszu-
gehörigkeit; seine 1979 geborene Ehefrau ist tschetschenische Volkszugehöri-
ge. Sie reisten im August 2001 nach Deutschland ein und stellten Asylanträge.
Ihr Asylbegehren begründeten sie wie folgt: Zusammen mit dem Bruder des
Klägers seien sie bereits im Februar 2000 von russischen Militärs festgenom-
men und schwer misshandelt worden. Die schwangere Klägerin habe daraufhin
eine Fehlgeburt erlitten. Im April 2001 hätten Angehörige der russischen Si-
cherheitskräfte den Kläger und seinen Bruder als Terroristen beschuldigt und in
ein „ Filtrationslager“ gebracht, in dem sie misshandelt worden seien. Durch
Bestechung hätten der Kläger und sein Bruder fliehen können.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundes-
amt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - lehnte mit Bescheid vom
24. Juni 2002 die Anerkennung als Asylberechtigte ab, stellte fest, dass die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach
§ 53 AuslG nicht vorliegen, und drohte den Klägern die Abschiebung in die
Russische Föderation an.
Auf die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht die Beklagte mit
Urteil vom 2. Juni 2004 verpflichtet, die Kläger als Asylberechtigte anzuerken-
nen und ihnen flüchtlingsrechtlichen Abschiebungsschutz zu gewähren. Es hat
seine Entscheidung auf eine in Tschetschenien herrschende Gruppenverfol-
gung der Tschetschenen gestützt; eine inländische Fluchtalternative in den üb-
rigen Regionen der Russischen Föderation bestehe nicht.
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Dagegen haben die Beklagte und der Bundesbeauftragte für Asylangelegenhei-
ten - Bundesbeauftragter - Berufung eingelegt. Im Berufungsverfahren haben
die Kläger ihre Klage zurückgenommen, soweit sie auf die Anerkennung als
Asylberechtigte nach Art. 16a GG gerichtet war.
Mit Beschluss vom 9. April 2008 hat der Verwaltungsgerichtshof das Verfahren
eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist, und die Berufungen
im Übrigen zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausge-
führt, dass die Kläger als Flüchtlinge anzuerkennen seien. Ihr Leben und ihre
Freiheit seien im Zeitpunkt der Ausreise allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur
Gruppe der aus Tschetschenien stammenden Kaukasier unmittelbar bedroht
gewesen. Zusätzlich seien die Kläger aber auch aus individuellen Gründen vor-
verfolgt. Die von ihnen erlittenen Maßnahmen seien nicht als legitime Terroris-
musbekämpfung gerechtfertigt. Unter Geltung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie
2004/83/EG komme es auf die zusätzliche Prüfung einer internen Schutzmög-
lichkeit zum Ausreisezeitpunkt nicht mehr an. Zur Überzeugung des Senats
stehe fest, dass die Kläger jetzt weder nach Tschetschenien noch in andere
Gebiete der Russischen Föderation zurückkehren könnten, da keine stichhalti-
gen Gründe dagegen sprächen, dass sie nicht erneut von einer solchen Verfol-
gung bedroht wären. Bei dem nur durch Bestechung freigekommenen Kläger
sei davon auszugehen, dass er von den russischen Sicherheitskräften als Ter-
rorist gesucht und verhaftet werden könne; gleiches gelte für die Klägerin. Bei
einer Festsetzung durch den Inlandsgeheimdienst wegen des Terrorismusver-
dachts könnten erneute Übergriffe der Sicherheitsbehörden nicht mit der erfor-
derlichen Sicherheit ausgeschlossen werden.
Mit ihren vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revisionen machen das
Bundesamt und der Bundesbeauftragte geltend, auch unter Geltung der Quali-
fikationsrichtlinie komme es auf das Bestehen einer inländischen Fluchtalterna-
tive zum Zeitpunkt der Ausreise an. Die Beklagte beanstandet ferner, das Beru-
fungsgericht habe den Prognosemaßstab und damit die Vermutung des Art. 4
Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG auch auf den internen Schutz erstreckt; damit
würden beide Elemente der Flüchtlingsanerkennung in unzulässiger Weise ver-
mengt. Der Bundesbeauftragte trägt vor, die Rückkehrprognose des Beru-
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fungsgerichts beruhe auf Unterstellungen; er rügt in diesem Zusammenhang
sowohl die Verletzung materiellen Rechts als auch Verfahrensmängel.
Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich am Verfahren beteiligt. Er ist der
Auffassung, dass das Prüfprogramm in der angefochtenen Entscheidung nicht
zu beanstanden sei. Das Berufungsgericht habe jedoch die Regelungen in
Art. 4 Abs. 4 und Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG nicht hinreichend klar vonein-
ander abgegrenzt. Drohe den Klägern landesweit individuelle staatliche Verfol-
gung, komme eine inländische Fluchtalternative nicht in Betracht.
II
Die Revisionen der Beklagten und des Bundesbeauftragten für Asylangelegen-
heiten - Bundesbeauftragten - bleiben ohne Erfolg. Das Berufungsgericht hat
den Anspruch der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ohne
Verstoß gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) bejaht. Seine Wür-
digung, bei dem aus individuellen Gründen als vorverfolgt anzusehenden Klä-
ger sprächen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass er bei Rückkehr nach
Tschetschenien nicht erneut von solcher Verfolgung bedroht werde und auch
keine Möglichkeit internen Schutzes in anderen Regionen der Russischen Fö-
deration bestehe, ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden (1.). Für die Klä-
gerin ergibt sich die Flüchtlingsanerkennung in diesem Stadium des Verfahrens
bereits aus § 26 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 AsylVfG (2.).
1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Begehrens auf Zuerkennung
der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG)
in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798)
sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekannt-
machung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162). Die in diesen Bekanntma-
chungen berücksichtigten Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung
aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom
19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz -, die am
28. August 2007 in Kraft getreten sind, hat der Verwaltungsgerichtshof gemäß
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§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylVfG zu Recht der am 9. April 2008 ergangenen
Berufungsentscheidung zugrunde gelegt.
Das Berufungsgericht hat dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft u.a. deshalb
zugesprochen, weil er in Tschetschenien zweimal von russischen Sicherheits-
kräften verhaftet und misshandelt worden ist. Bei ihm als Vorverfolgtem könne
nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er bei ei-
ner Rückkehr infolge andauernder Registrierung als (potentieller) Tschetsche-
nienkämpfer wegen des Terrorismusverdachts festgesetzt werde und es dabei
erneut zu Übergriffen der Sicherheitskräfte komme. Ihm stehe im Zeitpunkt der
Berufungsentscheidung auch keine Möglichkeit internen Schutzes in anderen
Regionen der Russischen Föderation offen. Diese Begründung, die die ange-
fochtene Entscheidung unabhängig von den Ausführungen zur Gruppenverfol-
gung trägt, hält der revisionsgerichtlichen Nachprüfung stand.
Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens
über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlings-
konvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er be-
sitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den
Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1
Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in
einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit we-
gen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung be-
droht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind
Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April
2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaats-
angehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die ander-
weitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewähren-
den Schutzes (ABl EG Nr. L 304 S. 12) - sog. Qualifikationsrichtlinie - ergän-
zend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
a) Nach den von den Revisionsklägern nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen
tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, an die der Senat gebun-
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den ist (§ 137 Abs. 2 VwGO), wurde der Kläger zweimal verhaftet und dabei
Opfer schwerster körperlicher Übergriffe der russischen Sicherheitskräfte. Die
Anwendung physischer Gewalt in so gravierender Form stellt sich als schwer-
wiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte - hier des Verbots un-
menschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK - dar
und erfüllt damit den Tatbestand einer Verfolgungshandlung (Art. 9 Abs. 1
Buchst. a i.V.m. Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG). Die Verfolgung
ging dabei von russischen Sicherheitskräften und somit unmittelbar vom Staat
aus (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a AufenthG i.V.m. Art. 6 Buchst. a der Richtli-
nie). Das Vorliegen von Exzesstaten der Amtsträger hat das Berufungsgericht
angesichts der großen Zahl von Übergriffen, die nicht geahndet wurden, zu
Recht ausgeschlossen.
b) § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG setzt des Weiteren voraus, dass die geschütz-
ten Rechtsgüter wegen der Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zuge-
hörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen
Überzeugung bedroht sind. Auch gemeinschaftsrechtlich ist eine Verfolgungs-
handlung für die Flüchtlingsanerkennung nur dann relevant, wenn sie an einen
der in Art. 10 der Richtlinie 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründe anknüpft
(Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie). Dabei umfasst der Begriff der Rasse insbesondere
die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethni-
schen Gruppe (Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie). Der Begriff der Nationa-
lität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer
solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer
Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemein-
same geografische oder politische Ursprünge oder ihre Verwandtschaft mit der
Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird (Art. 10 Abs. 1 Buchst. c der
Richtlinie); das ist bei der gebotenen gemeinschaftsrechtskonformen Ausle-
gung des Begriffs der „ Staatsangehörigkeit“ in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu
berücksichtigen. Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbeson-
dere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in
Art. 6 der Richtlinie genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken
oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt,
wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grund-
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haltung oder Überzeugung tätig geworden ist (Art. 10 Abs. 1 Buchst. e der
Richtlinie). Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese
Merkmale dem Antragsteller von seinem Verfolger lediglich zugeschrieben wer-
den (Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie).
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts knüpfte die von dem Kläger
erlittene individuelle Verfolgung allein an sein „ kaukasisches Aussehen“ (Be-
zeichnung als „ Schwarze“ oder „ Dunkelhäutige“ , BA S. 24) bzw. seine kauka-
sische Gruppenzugehörigkeit an (BA S. 33). Das löste bei den russischen Si-
cherheitskräften - ohne konkrete Anhaltspunkte oder einen Tatvorwurf - pau-
schal den Verdacht aus, der Kläger sei tschetschenischer Kämpfer. Aus der für
die Feststellung von Verfolgungsgründen maßgeblichen Sicht des Verfolgers
- hier: der russischen Sicherheitskräfte - kommt in der vom Berufungsgericht
zusätzlich festgestellten Diffamierung der aus Tschetschenien stammenden
Kaukasier (Tschetschenen, Armenier, u.a.) als „ Schwarzärsche“ deren an die
Hautfarbe anknüpfende Herabwürdigung deutlich zum Ausdruck. Ob auf der
Grundlage dieser Feststellungen - wie vom Berufungsgericht angenommen -
das Merkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllt
wird, kann dahinstehen. Denn jedenfalls liegt eine Kombination der Verfol-
gungsgründe der Rasse und der politischen Überzeugung vor.
Die Maßnahmen der Sicherheitskräfte haben eine legitime Terrorismus- und
Separatismusbekämpfung bei Weitem überschritten. Die Schwere der vom Klä-
ger erlittenen körperlichen Übergriffe lässt sich nicht mit der Verfolgung ange-
messener Sicherheitsinteressen des Staates und dem Rechtsgüterschutz
rechtfertigen (vgl. Urteil vom 25. Juli 2000 - BVerwG 9 C 28.99 - BVerwGE 111,
334 <340 f.>).
c) Die vom Berufungsgericht für den Kläger gestellte Verfolgungsprognose ist
als in erster Linie tatrichterliche Würdigung revisionsgerichtlich nicht zu bean-
standen.
Da der Kläger individuell verfolgt worden ist und sein Heimatland kurz darauf
verlassen hat, kommt ihm - ohne dass es auf die Ausführungen des Beru-
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fungsgerichts zur Gruppenverfolgung der aus Tschetschenien stammenden
Kaukasier ankäme - die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie
2004/83/EG zugute. Nach dieser Bestimmung ist die Tatsache, dass ein An-
tragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar be-
droht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung be-
gründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut
von solcher Verfolgung bedroht wird. Entgegen der Auffassung der Revisions-
kläger kann nach dieser Vorschrift eine Vorverfolgung nicht mehr wegen einer
zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen
Teil des Herkunftsstaates verneint werden; das hat der Senat bereits in seinem
Urteil vom 19. Januar 2009 - BVerwG 10 C 52.07 - juris Rn. 29 (zur Veröffentli-
chung in der Sammlung BVerwGE bestimmt) entschieden. Mit anderen Worten
greift im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung die Beweiserleichterung auch
dann, wenn im Zeitpunkt der Ausreise keine landesweit ausweglose Lage be-
stand.
Zur Überzeugung des Berufungsgerichts sprechen keine stichhaltigen Gründe
dagegen, dass der Kläger bei Rückkehr nach Tschetschenien erneut von staat-
licher Verfolgung durch die russischen Sicherheitskräfte bedroht wird. Dieser
Prognose liegt die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs zugrunde, dass der
Kläger aufgrund seiner nur durch Bestechung bewirkten Flucht aus einem „ Filt-
rationslager“ nach wie vor als potentieller Tschetschenienkämpfer bei den rus-
sischen Sicherheitskräften erfasst ist. Die in diesem Zusammenhang vom Bun-
desbeauftragten im Schriftsatz vom 29. April 2009 und damit nach Ablauf der
Frist zur Begründung der Revision (§ 139 Abs. 3 Satz 1 VwGO) erstmals erho-
benen Verfahrensrügen sind verspätet und demzufolge unzulässig. Das Beru-
fungsgericht hat insoweit auch nicht auf zu schmaler Tatsachengrundlage ent-
schieden. Zwar ist in seiner Entscheidung von „ zu unterstellenden Registrie-
rungen als terrorverdächtige Person“ (BA S. 37) die Rede, aber aus dem Zu-
sammenhang der Ausführungen wird hinreichend deutlich, dass der Verwal-
tungsgerichtshof davon ausgeht, dass der Kläger von den Sicherheitsbehörden
registriert worden ist (vgl. BA S. 35). Damit gründet die Prognose des Beru-
fungsgerichts auf einer den Anforderungen des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO
noch genügenden Tatsachenfeststellung. Die darauf aufbauende tatrichterliche
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Einschätzung, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger nach
wie vor unter dem Terrorismusvorwurf erfasst sei, bei einer Rückkehr von russi-
schen Sicherheitskräften aufgegriffen und dann misshandelt werde, erscheint
nicht spekulativ, sondern nachvollziehbar. Der Verwaltungsgerichtshof hat sei-
ne Würdigung auf mehrere Quellen gestützt und ausreichend begründet; revi-
sionsgerichtlich ist dagegen nichts zu erinnern.
Da der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts Verfolgung
durch russische Sicherheitskräfte erlitten und bei einer Rückkehr erneut zu be-
fürchten hat, braucht hier nicht entschieden zu werden, ob Art. 4 Abs. 4 der
Richtlinie 2004/83/EG mit der Formulierung „ solche Verfolgung“ einen inneren
Zusammenhang zwischen festgestellter Vorverfolgung und drohender Verfol-
gung voraussetzt (vgl. dazu Vorlagebeschluss des Senats vom 7. Februar 2008
- BVerwG 10 C 33.07 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 19
Rn. 41).
d) Das Berufungsgericht hat angenommen, dass dem Kläger keine Möglichkeit
internen Schutzes in anderen Regionen der Russischen Föderation offen steht.
Da er als einmal registrierte terrorverdächtige Person zu den besonders ge-
fährdeten Gruppen gehöre, könne nicht mit der gemäß Art. 4 Abs. 4 der Richtli-
nie 2004/83/EG erforderlichen Sicherheit angenommen werden, dass er bei
Rückkehr in sein Heimatland, unabhängig davon, ob er sich nach Tschetsche-
nien oder in andere Regionen der Russischen Föderation begebe, nicht erneut
von solcher Verfolgung bedroht sei. Auch diese Annahme hält revisionsgericht-
licher Prüfung stand.
Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der
den Mitgliedstaaten in Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG eingeräumten Möglich-
keit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerken-
nung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie können die Mit-
gliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen,
dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem
Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine
tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von
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dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in die-
sem Landesteil aufhält. Absatz 2 verlangt von den Mitgliedstaaten bei Prüfung
der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1
erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der
persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung
über den Antrag.
Ob in dem vorliegenden Fall, in dem das Berufungsgericht von einer dem Klä-
ger landesweit drohenden Verfolgung durch den Staat ausgegangen ist, über-
haupt interner Schutz zu prüfen ist, kann dahinstehen. Das Berufungsgericht
hat bereits die erste Voraussetzung des Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie, derzufolge
in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung be-
stehen darf, verneint. Es hat den Kläger dabei von der Beweiserleichterung des
Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG profitieren lassen. Dagegen wendet die
Beklagte ein, diese Vorgehensweise vermenge die Elemente der Flüchtlings-
anerkennung in unzulässiger Weise. Dem folgt der Senat nicht.
Gegen eine unterschiedliche Handhabung der Maßstäbe spricht bereits der
insoweit übereinstimmende Wortlaut von Art. 4 Abs. 4 und Art. 8 Abs. 1 der
Richtlinie 2004/83/EG, der in beiden Vorschriften von begründeter Verfolgungs-
furcht spricht. Dieser Prognosemaßstab bleibt auch in Fällen der Vorverfolgung
unverändert; denn die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie enthaltene Beweiserleichte-
rung in Form einer widerlegbaren Vermutung soll erkennbar beweisrechtlich
diejenigen privilegieren, die in ihrem Heimatland tatsächlich bereits persönlich
Verfolgung erfahren haben, weil sie diese entweder selbst erlitten haben oder
von ihr unmittelbar bedroht waren (Urteil vom 19. Januar 2009 - BVerwG 10 C
52.07 - a.a.O. Rn. 29). Mit Blick auf den Normzweck der Beweiserleichterung
erscheint es nicht nachvollziehbar, der Prüfung internen Schutzes als Ausdruck
der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes einen strengeren Maßstab zugrunde
zu legen als der systematisch vorgelagerten Stellung der Verfolgungsprognose.
Die hinter der Beweiserleichterung stehende Teleologie - der humanitäre Cha-
rakter des Asyls - verbietet es, einem Schutzsuchenden, der das Schicksal der
Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung solcher
Verfolgung aufzubürden.
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2. Die Flüchtlingsanerkennung der Klägerin folgt in diesem Stadium des Verfah-
rens bereits aus § 26 Abs. 1 und Abs. 4 AsylVfG.
Nach dieser Vorschrift wird dem Ehegatten eines Ausländers die Flüchtlingsei-
genschaft zuerkannt, wenn die Flüchtlingsanerkennung des Stammberechtigten
unanfechtbar ist, die Ehe schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Flücht-
ling politisch verfolgt wird, der Ehegatte einen Asylantrag vor oder gleichzeitig
mit dem anerkannten Flüchtling oder unverzüglich nach der Einreise gestellt hat
und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu widerrufen oder zu-
rückzunehmen ist. Das gilt nicht für Ehegatten, die die Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder des § 3 Abs. 2 AsylVfG erfüllen.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Familienflüchtlingsschutz liegen im
Hinblick auf die Klägerin bis auf die in § 26 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 4 AsylVfG
geforderten Unanfechtbarkeit der Flüchtlingsanerkennung ihres Ehemannes
ohne Weiteres vor. Nach der früheren Fassung der Vorschrift konnten Bundes-
amt und Gerichte das Familienasyl gleichzeitig mit der Rechtsstellung des
Stammberechtigten zuerkennen (Urteil vom 21. Januar 1992 - BVerwG 9 C
66.91 - BVerwGE 89, 315 <317>). Durch die Einfügung des Wortes „ unan-
fechtbar“ durch Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung ausländer- und asyl-
verfahrensrechtlicher Vorschriften vom 29. Oktober 1997 (BGBl I S. 2584) wur-
de die Vorschrift verschärft, um Statusdifferenzen innerhalb der Familie zu
vermeiden, die durch unterschiedliche Entscheidungen der Instanzen hinsicht-
lich des Stammberechtigten auftreten konnten. Diesem Ziel hat der Gesetzge-
ber nunmehr Vorrang eingeräumt gegenüber der Erleichterung für Behörden
und Gerichte, im Falle der Anerkennung zumindest eines Ehegatten zugleich
auch über die Asylanträge u.a. des anderen Ehegatten positiv entscheiden zu
können, ohne dessen Asylgründe nachprüfen zu müssen (vgl. Urteil vom
29. September 1998 - BVerwG 9 C 31.97 - BVerwGE 107, 231 <233 f.>).
Im Hinblick auf diesen Gesetzeszweck steht der unanfechtbaren Anerkennung
des Stammberechtigten nach § 26 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 4 AsylVfG eine
rechtskräftige gerichtliche Verpflichtung des Bundesamts zur Anerkennung des
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Stammberechtigten gleich. Darüber hinaus ist dieser Anforderung nach Sinn
und Zweck der Regelung sowie aus prozessökonomischen Gründen im Revisi-
onsverfahren ausnahmsweise auch dann Genüge getan, wenn das Bundes-
verwaltungsgericht gleichzeitig abschließend über die Asylanträge der Ehegat-
ten entscheidet und die Verpflichtung zur Anerkennung des Stammberechtigten
zugleich mit der Entscheidung über den Asylantrag des Ehegatten rechtskräftig
wird. Aus der Identität der durch § 26 Abs. 1 bzw. 4 AsylVfG vermittelten
Rechtsstellung mit dem originären Status folgt auch in diesen Fällen, dass der
abgeleitet Berechtigte keine Prüfung seiner geltend gemachten individuellen
Verfolgungsgefahr beanspruchen kann (Urteile vom 25. Juni 1991 - BVerwG
9 C 48.91 - BVerwGE 88, 326, vom 28. April 1998 - BVerwG 9 C 1.97 -
BVerwGE 106, 339 <343> und vom 13. November 2000 - BVerwG 9 C 10.00 -
Buchholz 402.25 § 26 AsylVfG Nr. 7).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten wer-
den gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus
§ 30 RVG.
Dr. Mallmann Richter Beck
Prof. Dr. Kraft Fricke
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