Urteil des BVerwG vom 23.01.2007

BVerwG: vorrang des gesetzes, richterliche rechtsfortbildung, abgabenordnung, festsetzungsverjährung, beitragsforderung, willkürverbot, rechtsstaatsprinzip, rüge, ersetzung, verjährungsfrist

Rechtsquellen:
GG
Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1
VwGO
§ 132 Abs. 2 Nr. 1, § 137 Abs. 1
AO
§ 171 Abs. 3, Abs. 3a
NKAG
§ 11 Abs. 1 Nr. 4b
Stichworte:
Straßenausbaubeitrag; Kommunalabgabe; Verjährung; Abgabenordnung; Fest-
setzungsverjährung; Festsetzungsfrist; Hemmung; Rechtsbehelfsverfahren;
dynamische Verweisung im Landesgesetz auf Bundesrecht; Bezugnahme;
Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung; Willkürverbot.
Leitsatz:
Die Auslegung des niedersächsischen Landesrechts dahingehend, dass die
dynamische Verweisung in § 11 Abs. 1 Nr. 4b NKAG auf Vorschriften der Ab-
gabenordnung sich auch schon vor der Neufassung vom 23. Januar 2007 (Nds.
GVBl S. 41) in der Sache auf die durch das Steuerbereinigungsgesetz 1999 mit
Wirkung vom 30. Dezember 1999 in einen anderen Absatz des § 171 AO (von
Abs. 3 in Abs. 3a) überführte Regelung über die Hemmung der Festsetzungs-
verjährung durch ein Rechtsbehelfsverfahren bezogen habe, zeigt keinen bun-
desrechtlichen Klärungsbedarf zu den Grenzen richterlicher Gesetzesausle-
gung auf.
Beschluss des 9. Senats vom 7. Januar 2008 - BVerwG 9 B 81.07
I. VG Hannover vom 28.09.2004 - Az.: VG 4 A 6114/03 -
II. OVG Lüneburg vom 11.10.2007 - Az.: OVG 9 LC 345/04 –
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 9 B 81.07
OVG 9 LC 345/04
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. Januar 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Storost,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen und die Richterin am
Bundesverwaltungsgericht Buchberger
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Beschluss des Niedersächsischen
Oberverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2007 wird zu-
rückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Klägerin.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 17 246,07 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
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Die Klägerin ist zu einem Straßenausbaubeitrag herangezogen worden. Ihre
Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hat
angenommen, ein Ablauf der Verjährungsfrist für die Festsetzung der Beitrags-
forderung sei gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 4b des Niedersächsischen Kommunalab-
gabengesetzes (NKAG) i.V.m. § 171 Abs. 3a der Abgabenordnung (AO) ge-
hemmt gewesen, obwohl die landesrechtliche Verweisungsnorm vor ihrer Neu-
fassung vom 23. Januar 2007 (Nds. GVBl S. 41) nach ihrem Wortlaut nur auf
die Absätze 1 bis 3 des § 171 AO, nicht aber auch auf § 171 Abs. 3a AO Bezug
nahm. Vielmehr habe sich die Verweisung in § 11 Abs. 1 Nr. 4b NKAG schon
vor ihrer Neufassung in der Sache auch auf § 171 Abs. 3a AO bezogen.
Die letztgenannte Vorschrift ist durch das Steuerbereinigungsgesetz 1999 vom
22. Dezember 1999 (BGBl I S. 2601) mit Wirkung vom 30. Dezember 1999 in
§ 171 AO eingefügt worden. Die bis dahin geltende Bestimmung des § 171
Abs. 3 AO, wonach die Festsetzungsfrist durch eine Anfechtung des Festset-
zungsbescheides gehemmt wird, ist durch die Neuregelung dahin geändert
worden, dass dies nur noch für Anträge außerhalb eines Rechtsbehelfsverfah-
rens gilt. Die früher im Absatz 3 enthaltene Bestimmung über den Eintritt der
Hemmung durch ein Rechtsbehelfsverfahren findet sich seit dem Steuerberei-
nigungsgesetz 1999 nunmehr in Absatz 3a. Erst die Neufassung des § 11
Abs. 1 Nr. 4b NKAG vom 23. Januar 2007 erklärt nunmehr ausdrücklich die
Absätze 1 bis 3a des § 171 AO auf kommunale Abgaben für anwendbar.
Das Oberverwaltungsgericht begründet seine - auch in Rechtsprechung und
Literatur (vgl. OVG Magdeburg, Beschluss vom 12. Juli 2002 - 1 M 273/01 -
NVwZ-RR 2003, 233; Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 8. Aufl.
2007, § 19 Rn. 37 m.w.N.) überwiegend vertretene - Ansicht damit, dass der
Landesgesetzgeber mit der dynamischen Verweisung in § 11 Abs. 1 Nr. 4b
NKAG nach deren Sinn und Zweck habe erreichen wollen, dass die Regelun-
gen in der Abgabenordnung über die Hemmung der Festsetzungsverjährung
auch bei etwaigen sachlichen Änderungen des Bundesgesetzes ohne besonde-
ren weiteren Gesetzesbefehl des Landesgesetzgebers auf kommunalabgaben-
rechtliche Verfahren angewendet werden sollen. Dass die vom Landesgesetz in
Bezug genommene Regelung vom Bundesgesetzgeber (später) in einen ande-
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ren Absatz derselben Rechtsvorschrift aufgenommen worden sei, könne unter
diesen Umständen nicht von Belang sein. Auch ergäbe die in der landesrechtli-
chen Verweisungsnorm enthaltene Maßgabe (Ersetzung von Vorschriften der
Finanzgerichtsordnung durch solche der Verwaltungsgerichtsordnung) keinen
Sinn, wenn sich die Bezugnahme in § 11 Abs. 1 Nr. 4b NKAG nicht auf § 171
Abs. 3a AO erstrecken würde. Dass diese Bezugnahme nicht bereits bei einer
früheren Änderung des Kommunalabgabengesetzes, sondern erst am 23. Ja-
nuar 2007 an das geänderte Bundesrecht angepasst worden sei, rechtfertige
nicht den Schluss, dass der Landesgesetzgeber die Rechtslage in Nieder-
sachsen habe abweichend regeln wollen, sondern beruhe darauf, dass ihm die
bundesrechtliche Änderung nicht bewusst gewesen sei; der Wille zur Beibehal-
tung der bisherigen Rechtslage sei durch die Neufassung vom 23. Januar 2007
vielmehr deutlich zu Tage getreten.
II
Die allein auf den Revisionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung
der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen
Erfolg.
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Die Beschwerde wendet sich gegen die vorstehend wiedergegebene Ausle-
gung von § 11 Abs. 1 Nr. 4b NKAG in seiner vor dem 27. Januar 2007 gelten-
den Fassung durch das Oberverwaltungsgericht und hält die Frage für rechts-
grundsätzlich klärungsbedürftig,
„ob die Grenzen richterlicher Auslegung von Rechtsvor-
schriften überschritten sind, wenn eine dynamische Ver-
weisungsvorschrift über ihren eindeutigen Wortlaut hinaus
dahingehend ausgelegt wird, sie beziehe sich auch auf
eine Änderung oder Ergänzung der Norm, auf welche ver-
wiesen wird“.
Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision, weil ein bundesrecht-
licher Klärungsbedarf damit nicht aufgezeigt ist. Sie betrifft die Grenzen zuläs-
siger Auslegung des irrevisiblen Landesrechts durch das Oberverwaltungsge-
richt. Auslegungsregeln und allgemeine Grundsätze über die Auslegung von
Rechtsvorschriften sind dem Bundesrecht nur zuzuordnen, wenn und soweit sie
der Anwendung von Bundesrecht dienen. Sie sind dagegen Teil des revisions-
gerichtlicher Prüfung grundsätzlich nicht unterliegenden Landesrechts (§ 137
Abs. 1 VwGO), wenn und soweit es sich - wie hier - um ihre Anwendung im
Rahmen von Landesrecht handelt. Eine generelle Zuordnung der Auslegungs-
regeln zum Bundesrecht, namentlich als allgemeine rechtsstaatliche Vorgabe
für die richterliche Tätigkeit, würde dazu führen, dass jede Fehlauslegung irre-
visiblen Rechts, die letztlich immer auf der Verletzung von irgendwelchen Aus-
legungsgrundsätzen beruhen muss, eben wegen dieser Verletzung als ein Ver-
stoß gegen Bundesrecht deklariert und damit revisibel gemacht werden könnte
(Beschluss vom 30. August 1972 - BVerwG 7 B 43.71 - Buchholz 310 § 137
VwGO Nr. 53 S. 19; Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO,
§ 137 Rn. 69 m.w.N.).
Unter diesen Umständen vermag die Rüge, Landesrecht sei unter Verstoß ge-
gen Bundes(verfassungs)recht, hier unter Überschreitung der Grenzen richterli-
cher Gesetzesauslegung, angewandt worden, für sich genommen noch nicht
eine klärungsbedürftige Frage des Bundesrechts aufzuzeigen; vielmehr muss
zusätzlich dargelegt werden, dass die Auslegung der einschlägigen Grundsätze
des Bundes(verfassungs)rechts durch die höchstrichterliche Rechtsprechung
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nicht oder nicht hinreichend ausdifferenziert und entwickelt ist, um einen Maß-
stab für das Landesrecht abzugeben (Beschluss vom 21. September 2001
- BVerwG 9 B 41.01 - Buchholz 401.8 Verwaltungsgebühren Nr. 44 S. 28). Da-
für trägt die Beschwerde nichts vor.
Allerdings stellen das Rechtsstaatsprinzip, insbesondere der Vorrang des Ge-
setzes und die Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG), und das im
allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verankerte Willkürverbot eine
unübersteigbare bundesrechtliche Grenze jeder Art des Verwaltungshandelns
und der Rechtsprechung dar. Demgemäß hat sich das Bundesverwaltungsge-
richt insbesondere die Prüfung vorbehalten, ob sich das Instanzgericht bei der
Anwendung und Auslegung irrevisiblen Rechts so weit vom zugrunde liegenden
Gesetz entfernt hat, dass der Zusammenhang mit dem Gesetz nicht mehr hin-
reichend erkennbar und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt - auch nicht als
richterliche Rechtsfortbildung - verständlich ist (Urteil vom 23. August 1991
- BVerwG 8 C 37.90 - Buchholz 401.8 Verwaltungsgebühren Nr. 27 S. 15, Be-
schluss vom 14. Oktober 1994 - BVerwG 1 B 153.93 - Buchholz 430.4 Versor-
gungsrecht Nr. 27 S. 10; Eichberger, a.a.O., § 137 Rn. 70 m.w.N.). Aber auch
insoweit besteht mit Blick auf die vorstehend wiedergegebene Auslegung von
§ 11 Abs. 1 Nr. 4b NKAG durch das Oberverwaltungsgericht kein bundesrecht-
licher Klärungsbedarf, zumal es um die Auslegung ausgelaufenen Rechts geht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Werts des Streitgegenstandes entspricht der Höhe der streitigen Beitragsforde-
rung (§ 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 und 3 GKG).
Dr. Storost Domgörgen Buchberger
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