Urteil des BVerwG vom 31.01.2013

BVerwG: genfer flüchtlingskonvention, widerruf, stadt hamburg, nationale sicherheit, unmenschliche behandlung, gesamtstrafe, flüchtlingseigenschaft, anerkennung, anfechtungsklage

BVerwG 10 C 17.12
Rechtsquellen:
AufenthG § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2
AsylVfG § 73 Abs. 1 Satz 1
GFK Art. 33 Abs. 2
StGB §§ 54, 55
Richtlinie 2004/83/EG Art. 14 Abs. 4 Buchst. b
Richtlinie 2011/95/EU Art. 14 Abs. 4 Buchst. b
Stichworte:
Asylanerkennung; Flüchtlingsanerkennung; Widerruf; Bescheid; Anfechtung; Widerrufsgrund;
Anfechtungsgrund; Prüfungsumfang; Streitgegenstand; Gesamtfreiheitsstrafe; Einzelstrafe;
Gesamtstrafenbildung; Mindestfreiheitsstrafe; Verfolgungslage; Amtsaufklärung.
Leitsatz:
1. Das Verwaltungsgericht hat im Anfechtungsprozess gegen den Widerruf der Asyl- und
Flüchtlingsanerkennung (§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) den Widerrufsbescheid umfassend auf
seine Rechtmäßigkeit zu prüfen. In diese Prüfung hat es auch vom Kläger nicht geltend
gemachte Anfechtungsgründe und von der Behörde nicht angeführte Widerrufsgründe
einzubeziehen.
2. Ein Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung wegen einer rechtskräftigen Verurteilung
zu einer mindestens dreijährigen Freiheitsstrafe (§ 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG) kommt bei
einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe (§§ 53 bis 55 StGB) nur in Betracht, wenn eine
der in die Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstrafen eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe
ist.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 10 C 17.12
VG Hamburg - 11.12.2008 - AZ: VG 11 A 107/06
Hamburgisches OVG - 02.01.2012 - AZ: OVG 4 Bf 26/09.A
In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 31. Januar 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Maidowski
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird der Beschluss des Hamburgischen
Oberverwaltungsgerichts vom 2. Januar 2012 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das
Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
I
1 Der 1973 geborene Kläger ist syrisch-orthodoxer Christ türkischer Staatsangehörigkeit. Er
reiste im Alter von sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland ein und lebte zunächst bei
seinen Eltern. Ihm wurde ein befristeter Aufenthaltstitel erteilt und in der Folge mehrfach
verlängert; mehrere Geschwister haben inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit erworben.
Seine Schulausbildung beendete er ohne Abschluss. Seit seinem 13. Lebensjahr konsumierte er
Drogen und wurde vielfach straffällig. Im Zeitraum zwischen 1991 und 2010 verbrachte er
insgesamt etwa 15 Jahre in Untersuchungs- und Strafhaft; maßgeblich hierfür waren
überwiegend Verurteilungen zu Freiheitsstrafen von jeweils bis zu zwei Jahren. Eine höhere
Freiheitsstrafe, nämlich eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, war lediglich durch das Urteil
des Landgerichts Hamburg vom 24. Januar 2001 ausgesprochen worden. Diesem Urteil lagen
eine am 30. Oktober 2000 begangene versuchte schwere räuberische Erpressung in Tateinheit
mit versuchter gefährlicher Körperverletzung in einem minderschweren Fall (Einzelstrafe zwei
Jahre zehn Monate) und eine am 1. Juli 2000 begangene Bedrohung in Tateinheit mit
Beleidigung (Einzelstrafe sechs Monate) zu Grunde.
2 Die Ausländerbehörde der Stadt Hamburg hörte den Kläger seit 1992 mehrfach zu einer
beabsichtigten Ausweisung an. Durch Bescheid vom 29. Dezember 1999 wies sie ihn aus, weil
er innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheitsstrafen von zusammen mindestens drei
Jahren verurteilt worden sei (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG 1990). Seine hiergegen gerichtete
Anfechtungsklage blieb erfolglos. In der Folge wurden ihm Duldungen erteilt. Einen im Jahre
1996 aus der Haft heraus gestellten Asylantrag lehnte die Beklagte als offensichtlich
unbegründet ab, wurde jedoch durch das zuständige Verwaltungsgericht verpflichtet, den Kläger
wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der syrisch-orthodoxen Christen als asylberechtigt
anzuerkennen.
3 Durch Bescheid vom 25. Januar 2006 widerrief die Beklagte die Anerkennung des Klägers als
Asylberechtigter (Ziffer 1 des Bescheids) sowie die Feststellung, dass die Voraussetzungen des
§ 51 Abs. 1 AuslG vorlägen (Ziffer 2). Zusätzlich stellte sie fest, dass die Voraussetzungen des §
60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht vorlägen (Ziffer 3). Zur Begründung verwies sie auf die
Verurteilung des Klägers zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe (§ 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2
AufenthG). Die weitere Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 4), begründete sie damit, dass syrisch-orthodoxe Christen in der
Türkei nicht mehr mit Verfolgung oder menschenrechtswidriger Behandlung rechnen müssten.
4 Das Verwaltungsgericht Hamburg wies die gegen diesen Bescheid gerichtete
Anfechtungsklage durch Urteil vom 11. Dezember 2008 ab. Das Oberverwaltungsgericht hat auf
die Berufung des Klägers das Urteil des Verwaltungsgerichts durch Beschluss vom 2. Januar
2012 geändert und den Bescheid der Beklagten aufgehoben. Ein Widerrufsgrund könne nicht
nur dann vorliegen, wenn nachträglich die Anerkennungsvoraussetzungen wegfielen, sondern
auch dann, wenn nachträglich Ausschlussgründe verwirklicht worden seien, etwa wenn der
auch dann, wenn nachträglich Ausschlussgründe verwirklicht worden seien, etwa wenn der
Ausländer wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer
Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden sei. Ein solcher Fall sei hier jedoch
nicht gegeben. Denn § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erfasse nicht den Fall, dass im Wege der
Gesamtstrafenbildung auf eine dreijährige Freiheitsstrafe erkannt worden sei. Dies folge aus
dem Wortlaut der Norm und werde durch Entstehungsgeschichte und Gesetzeszweck bestätigt.
Die Möglichkeit eines Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung als Folge einer
Gesamtstrafenbildung könne im Übrigen zu Gleichheitsverstößen führen. Denn derjenige
Straftäter, bei dem die Ahndung mehrerer Straftaten verbunden werde und in eine dreijährige
Gesamtstrafe münde, werde ohne sachlichen Grund gegenüber demjenigen benachteiligt, bei
dem dieselben Straftaten verfahrensmäßig getrennt und mit Strafen von jeweils unter drei Jahren
abgeurteilt würden. Die Frage, ob der Widerruf der Asylanerkennung auch darauf gestützt
werden könne, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei auf Grund einer Veränderung
der Umstände keine asylrelevante Verfolgung oder Folter bzw. unmenschliche Behandlung
mehr drohe, habe die Beklagte in ihren Bescheid weder angesprochen noch habe sie
entsprechende Überlegungen im Gerichtsverfahren vorgetragen. Die Möglichkeit einer
derartigen Veränderung der maßgeblichen Umstände in der Türkei liege auch nicht ohne
Weiteres auf der Hand.
5 Die Beklagte rügt mit der Revision die Verletzung materiellen Rechts sowie die Verletzung der
Amtsaufklärungspflicht. Sie ist der Auffassung, dass auch die Verurteilung zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens drei Jahren den Widerruf der Asyl- und
Flüchtlingseigenschaft begründen könne.
6 Der Kläger verteidigt die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts und hält hilfsweise sein
Begehren auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung unionsrechtlicher bzw. nationaler
Abschiebungsverbote aufrecht.
7 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich an dem
Verfahren und unterstützt die Revision.
II
8 Die Revision ist begründet. Das Berufungsgericht hat allerdings ohne Verstoß gegen revisibles
Recht entschieden, dass die Beklagte den Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung des
Klägers nicht auf § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG stützen durfte.
Es hat jedoch die im Verfahren ebenfalls aufgeworfene Frage, ob der Widerruf stattdessen auf
den Wegfall der verfolgungsbegründenden Umstände gestützt werden konnte (§ 73 Abs. 1 Satz
2 AsylVfG), nicht im Einklang mit revisiblem Recht beantwortet. Da hinreichende
Sachverhaltsfeststellungen hierzu fehlen, kann der Senat die Frage, ob sich die
Berufungsentscheidung aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO), nicht
abschließend beantworten. Der Rechtsstreit ist deshalb zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO.
9 1. Gegenstand des Verfahrens ist der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 25. Januar 2006.
Auf die Anfechtungsklage des Klägers ist die Rechtmäßigkeit dieses Bescheids
uneingeschränkt zu überprüfen. Eine Beschränkung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle auf
einen von mehreren möglichen Widerrufsgründen würde der Verpflichtung des
Verwaltungsgerichts widersprechen, die Rechtmäßigkeit eines angefochtenen unteilbaren
Verwaltungsakts umfassend zu prüfen. Dabei muss das Verwaltungsgericht zum einen auch
solche Anfechtungsgründe berücksichtigen, die der Kläger nicht geltend gemacht hat (stRspr seit
Urteil vom 20. Februar 1956 - BVerwG 5 C 36.55 - NJW 1956, 804; vgl. auch Urteil vom 24.
Februar 2011 - BVerwG 10 C 3.10 - BVerwGE 139, 109, Rn. 14 a.E. im Anschluss an EuGH,
Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505 Rn. 76). Zum
anderen hat es die Rechtmäßigkeit eines nicht im Ermessen der Behörde stehenden
Verwaltungsakts auch unter Gesichtspunkten zu prüfen, die von der Behörde im Bescheid oder
im Gerichtsverfahren nicht angeführt worden sind. Denn die Aufhebung eines solchen
Verwaltungsakts setzt nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO u.a. seine objektive Rechtswidrigkeit
voraus; daran fehlt es auch dann, wenn er unter einem im Bescheid oder im Verfahren nicht
angesprochenen Grund rechtmäßig ist. Die vorliegende Klage ist also nicht schon dann
begründet, wenn der im Widerrufsbescheid allein angeführte Widerrufsgrund des § 60 Abs. 8
AufenthG nicht vorliegt, sondern nur dann, wenn der Bescheid auch unter anderen rechtlichen
Gesichtspunkten nicht haltbar ist und er den Adressaten in seinen Rechten verletzt,
insbesondere also wenn auch andere in Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden. Nur
diese Sichtweise wird im Übrigen der im Asylverfahren geltenden Konzentrations- und
Beschleunigungsmaxime gerecht, nach der alle in einem Asylprozess typischerweise relevanten
Fragen in einem Prozess abschließend geklärt werden sollen (Urteil vom 8. September 2011 -
BVerwG 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 10; Beschluss vom 10. Oktober 2011 - BVerwG 10
B 24.11 - juris Rn. 4).
10 2. Ohne Verstoß gegen revisibles Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass die
Beklagte den Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung im vorliegenden Fall zu Unrecht
auf § 60 Abs. 8 AufenthG gestützt hat.
11 Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG müssen die Anerkennung als Asylberechtigter und die
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich widerrufen werden, wenn die
Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist u.a. dann der Fall, wenn der Ausländer
aus schwerwiegenden Gründen eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland
(§ 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 1 AufenthG) oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er
wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer
Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist (§ 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2
AufenthG). Im letztgenannten Fall muss zusätzlich eine konkrete Wiederholungsgefahr
bestehen. Diese liegt nur vor, wenn von dem Ausländer in Zukunft neue vergleichbare Straftaten
ernsthaft drohen (vgl. Urteil vom 16. November 2000 - BVerwG 9 C 6.00 - BVerwGE 112, 185
<188 ff.> noch zu § 51 Abs. 3 Alt. 2 AuslG 1990).
12 Die nach § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erforderliche rechtskräftige Verurteilung zu einer
Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren kann grundsätzlich unabhängig davon vorliegen, ob
die verhängte Freiheitsstrafe auf tateinheitlich oder tatmehrheitlich begangene und gleichzeitig
abgeurteilte Delikte (§ 52 oder §§ 53 bis 55 StGB) zurückgeht. Bei der Verurteilung zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe ist jedoch erforderlich, dass zumindest eine der Einzelstrafen, aus denen
die Gesamtstrafe gemäß §§ 54 oder 55 StGB gebildet wird, eine wenigstens dreijährige
Freiheitsstrafe ist. Falls hingegen die Gesamtfreiheitsstrafe ausschließlich aus Einzelstrafen
hervorgegangen ist, die jeweils für sich genommen die Mindestdauer von drei Jahren nicht
erreichen, ist der Anwendungsbereich des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG nicht eröffnet. Dies
folgt aus dem Wortlaut der Norm und einer teleologisch-systematischen Auslegung im Einklang
mit den relevanten völker- und unionsrechtlichen Vorschriften (anders OVG Lüneburg, Urteil vom
8. Februar 2012 - 13 LB 50/09 - und OVG Schleswig, Urteil vom 21. Juni 2012 - 1 LB 10/10).
13 Nach dem Wortlaut des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG stellt ein Ausländer eine Gefahr für
die Allgemeinheit dar, wenn er wegen „eines“ Verbrechens oder besonders schweren
Vergehens verurteilt worden ist; ein entsprechender Sprachgebrauch findet sich auch in Art. 14
Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom
13. Dezember 2011 (vormals Richtlinie 2004/83/EG, „wegen einer besonders schweren Straftat
rechtskräftig verurteilt“) sowie in Art. 33 Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK, „weil er
wegen eines Verbrechens oder eines besonderes schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt
wurde“). Im Hinblick darauf, dass das Aufenthaltsgesetz in einem vergleichbaren
Zusammenhang Rechtsfolgen ausdrücklich an das Vorliegen „einer oder mehrerer vorsätzlicher
Straftaten“ knüpft (§ 53 Nr. 1, § 54 Nr. 1 AufenthG), spricht der Wortlaut des § 60 Abs. 8 Satz 1
Alt. 2 AufenthG eher für als gegen die Annahme, dass die Gefahrenschwelle der Vorschrift nicht
überschritten wird, wenn die Verurteilung zu einer mindestens dreijährigen Gesamtstrafe auf
einer Zusammenfassung mehrerer Freiheitsstrafen von jeweils unter dreijähriger Dauer beruht.
14 Diese Annahme wird durch den Zweck der Vorschrift bestätigt. Sie geht auf Art. 14 Abs. 4
Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG zurück, der Art. 33 Abs. 2 GFK und der darin normierten
Ausnahme vom völkerrechtlichen Refoulement-Verbot nachgebildet ist: Sie soll Gefahren von
dem Aufnahmestaat eines Flüchtlings abwehren, die durch dessen kriminelles Verhalten
verursacht werden. Im Hinblick darauf, dass § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG und Art. 14 Abs. 4
Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU darüber hinausgehend sogar die Möglichkeit eines
Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung vorsehen (krit. dazu Hailbronner, EU
Immigration and Asylum Law, Kap. IV 3, S. 1133 f. Rn. 15; Marx, Handbuch zum
Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 37 Rn. 47 ff.), muss die Vorschrift jedoch restriktiv so
ausgelegt werden, dass die Sicherungen insbesondere des völkerrechtlichen Flüchtlingsrechts
gegen eine Abschiebung in den Verfolgerstaat nicht relativiert werden. Der Widerruf der Asyl-
und Flüchtlingsgewährung kann deshalb gegenüber kriminellen Flüchtlingen nur als ultima ratio
in Betracht kommen, wenn ihr kriminelles Verhalten die Schwelle der besonders schweren
Strafbarkeit überschreitet (vgl. Urteil vom 7. Oktober 1975 - BVerwG 1 C 46.69 - BVerwGE 49,
202 <208 ff.> zu § 14 Abs. 1 Satz 2 AuslG 1965).
15 Aus diesen Gründen kommt es nach der Konzeption des deutschen Rechts für die
Anwendung des § 60 Abs. 8 AufenthG unabhängig davon, dass die Umsetzung der
Mindestgewährleistung des Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG in nationales
Recht durch die Mitgliedstaaten eine erhebliche Bandbreite aufweist (vgl. European Council on
Refugees and Exilies, The Impact oft the EU Qualification Directive on International Protection,
2008, S. 171 ff., 179 bis 182 mit einer Zusammenstellung der Umsetzungsmaßnahmen, vgl. auch
ebda. S. 33 f.), im Übrigen auch nicht auf die abstrakte Strafdrohung, sondern auf die konkret
verhängte Freiheitsstrafe an. Denn die Mindeststrafenregelung soll sicherstellen, dass der
Entzug des Asyl- und Flüchtlingsstatus nur gegenüber besonders gefährlichen Tätern in Betracht
kommt. Nur sie bedeuten eine Gefahr für die Allgemeinheit, die gegenüber dem Ziel des
Flüchtlingsschutzes im Ausnahmefall überwiegen kann, nicht aber solche Täter, die sich zwar
eines mit hoher Strafdrohung bewehrten Vergehens oder Verbrechens schuldig gemacht haben,
dabei aber im unteren oder mittleren Bereich der Strafbarkeit geblieben sind, so dass sie eine
Freiheitsstrafe von weniger als drei Jahren verwirkt haben. Ist ein Flüchtling rechtskräftig zu einer
mindestens dreijährigen (Einzel-)Freiheitsstrafe verurteilt worden, ist unter Berücksichtigung aller
Umstände des Einzelfalles weiter zu prüfen, ob diese Verurteilung die Annahme rechtfertigt,
dass er tatsächlich eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2
AufenthG darstellt.
16 Aus demselben Grund reicht es nicht aus, wenn ein Täter nur deshalb zu einer mindestens
dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, weil mehrere von ihm begangene Taten
geringeren oder mittleren Gewichts im Rahmen eines einzigen Strafverfahrens oder - wenn eine
frühere Strafe noch nicht vollstreckt ist - im Wege der nachträglichen Gesamtstrafenbildung
abgeurteilt worden sind. Die von der Beklagten für richtig gehaltene Auslegung des § 60 Abs. 8
Satz 1 Alt. 2 AufenthG würde hingegen dazu führen, dass die von rein verfahrenspraktischen
Aspekten, nicht aber von der Gefährlichkeit des Täters abhängige Frage, ob eine Straftat in
einem Strafverfahren für sich genommen oder zusammen mit anderen Straftaten abgeurteilt wird,
ausschlaggebend dafür werden könnte, ob der Täter die Voraussetzungen für einen Widerruf
seines Asyl- oder Flüchtlingsstatus erfüllt oder nicht.
17 Auch die Entstehungsgeschichte der Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Takkenberg/Tahbaz,
The collected travaux préparatoires of the 1951 Geneva convention relating to the status of
refugees, 1990, III S. 89 f., 344 ff., sowie Weis, The travaux préparatoires analysed with a
commentary, abrufbar bei www.unhcr.org/4ca34be29.html, ab Seite 233) bestätigt die
Erforderlichkeit einer restriktiven Auslegung des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG. Während im
ursprünglichen Textentwurf eine Einschränkung des Refoulement-Verbots (Art. 28 des Entwurfs)
noch nicht vorgesehen war, setzte sich der Gedanke, dass Staaten zur Hinnahme von Gefahren
für ihre Sicherheit oder für die Allgemeinheit nicht unbeschränkt gezwungen sein dürften, erst
nach einer intensiven Debatte über die Grenzen des Refoulement-Schutzes durch. Der
schließlich verabschiedeten Textfassung lag die Einschätzung zu Grunde, dass die
Abschiebung eines Flüchtlings nur ausnahmsweise und als Reaktion auf besonders
schwerwiegendes kriminelles Verhalten des Flüchtlings zulässig sei, wenn eine Gefahr für die
nationale Sicherheit oder der Allgemeinheit bestehe. Die Auffassung des Vertreters des
Bundesinteresses, auch in derartigen Fällen könne über die Merkmale einer Gefahr für die
Allgemeinheit oder der Wiederholungsgefahr im Rahmen einer Einzelfallwürdigung eine
Unterschreitung des völker- und unionsrechtlich gebotenen Mindeststandards verhindert werden
(ebenso OVG Schleswig a.a.O. Rn. 45), wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Denn sie
verschiebt die untere Grenze für die Möglichkeit eines Widerrufs der Asyl- und
Flüchtlingsanerkennung in einen Bereich, der bereits die durch eine Mehrzahl von Taten der
mittleren Kriminalität ausgelösten Gefahren erfasst und sich damit gerade nicht auf Fälle
besonders schwerer Verbrechen (Art. 14 Abs. 4 Buchst. b Richtlinie 2011/95/EU) beschränkt.
18 Aus der Entstehungsgeschichte des § 60 Abs. 8 AufenthG ergibt sich nichts Abweichendes.
Die Mindeststrafengrenze des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG war weder im Ausländergesetz
vom 28. April 1965 (AuslG 1965, dort § 14 Abs. 1 Satz 2, gültig bis Ende 1990) noch in der bis
Oktober 1997 gültigen Fassung des Ausländergesetzes vom 9. Juli 1990 (AuslG 1990, dort § 51
Abs. 4) enthalten und fehlt auch in Art. 33 Abs. 2 der durch das AuslG 1965 in Bezug
genommenen Genfer Flüchtlingskonvention. Sie wurde erst durch Gesetz vom 29. Oktober 1997
als § 51 Abs. 3 AuslG (gültig bis Ende 2004) mit der Begründung in das Gesetz eingefügt, die
bisher nur selten angewandte Vorschrift solle konkretisiert und ihre praktische Anwendung
angesichts der aktuellen politischen Lage erleichtert werden (BTDrucks 13/4948 S. 9). Weder
durch das Aufenthaltsgesetz in der Fassung vom 30. Juli 2004 noch durch das erste
Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 ist sie nachfolgend geändert worden. Aus
diesem Ablauf lässt sich lediglich die Absicht des Normgebers ableiten, die Ausweisung von
Straftätern durch eine leicht handhabbare Regelung zu erleichtern, nicht aber eine Aussage zu
der - in den Materialien nicht angesprochenen - Frage, ob die Mindeststrafengrenze auch durch
eine aus mehreren Einzelstrafen von jeweils unter drei Jahren gebildete Gesamtstrafe erfüllt
werden sollte oder nicht. Vielmehr folgt aus der ausdrücklichen Bezugnahme auf Art. 33 Abs. 2
GFK in der Begründung für die Einführung einer Mindestfreiheitsstrafe (BTDrucks 13/4948 S. 9),
dass die dort verbindlich vereinbarte hohe Schwelle für eine Relativierung des
Flüchtlingsschutzes nicht angetastet werden sollte.
19 3. Das Berufungsgericht hat jedoch die im vorliegenden Verfahren ebenfalls aufgeworfene
Frage, ob der angegriffene Widerrufsbescheid auf § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG gestützt werden
kann, nicht im Einklang mit revisiblem Recht beantwortet. Dabei kann offenbleiben, ob das
Berufungsgericht dieser Frage überhaupt nicht nachgegangen ist oder ob es die Frage zwar
aufgeworfen, aber unter Verstoß gegen § 86 Abs. 1 VwGO - da ohne jede
Sachverhaltsaufklärung - beantwortet hat.
20 Der Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist auch
dann geboten, wenn der Ausländer es nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als
Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, nicht mehr
ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er
besitzt (§ 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Nach der Rechtsprechung kann dies allerdings erst dann
angenommen werden, wenn sich die verfolgungsbegründenden Umstände erheblich und
dauerhaft verändert haben (Urteile vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22
und vom 24. Februar 2011 a.a.O. Rn. 16 ff.; EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a.,
Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505 Rn. 72 ff.). Die bei der Anerkennung als Asylberechtigter oder der
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft festgestellte Verfolgungsgefahr fällt also erst weg, wenn
durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte und zugleich
stabile Grundlage für die Verfolgungsprognose entstanden ist, so dass keine beachtliche
Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Betroffenen nach seiner Rückkehr in seinen
Herkunftsstaat mehr besteht. Die einen Wegfall der Verfolgungslage begründenden Tatsachen
müssen zur Überzeugung des Gerichts feststehen, wenn auch nicht - wie das Berufungsgericht
es formuliert hat - „auf der Hand liegen“.
21 4. Das Berufungsgericht hat keine Tatsachen festgestellt, aus denen sich ein Wegfall der
Verfolgungslage ableiten ließe. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass im angegriffenen
Bescheid Ausführungen zur Situation von Angehörigen der syrisch-orthodoxen Kirche in der
Türkei enthalten sind, wenn auch lediglich im Zusammenhang mit einem denkbaren Anspruch
des Klägers auf subsidiären Schutz. Denn es wäre Aufgabe des Verwaltungsgerichts und des
Berufungsgerichts gewesen, die Richtigkeit dieser Ausführungen durch eigene tatsächliche
Feststellungen zu überprüfen. Deshalb kann der Senat die Frage, ob die Berufungsentscheidung
aus anderen Gründen richtig ist (§ 144 Abs. 4 VwGO) nicht beantworten und auch nicht zu
Lasten des Klägers in der Sache selbst entscheiden. Vielmehr ist die Sache an das
Berufungsgericht zurückzuverweisen, um diesem die Gelegenheit zu geben, die für § 73 Abs. 1
Satz 2 AsylVfG maßgeblichen Tatsachen aufzuklären.
22 5. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Der
Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
Fricke
Dr. Maidowski