Urteil des BVerwG vom 20.07.2007

BVerwG: neues tatsächliches vorbringen, ablauf der frist, ausweisung, geburt, emrk, ermittlungsverfahren, menschenrechte, gefahr, beweiswürdigung, aufenthalt

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 289.06
OVG 2 R 1/06
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. Juli 2007
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter und Prof. Dr. Kraft
beschlossen:
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Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
des Saarlandes vom 15. September 2006 werden zurück-
gewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf
10 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerden, mit denen die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
(§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht wird, bleiben ohne Erfolg.
Grundsätzliche Bedeutung i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat eine Rechtssa-
che nur dann, wenn eine bestimmte klärungsbedürftige Rechtsfrage des revi-
siblen Rechts bezeichnet wird, die im Interesse der Rechtseinheit oder der
Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren mit Bedeutung über diesen Ein-
zelfall hinaus geklärt werden könnte. Ob einer Rechtssache diese Bedeutung
zukommt, muss wenigstens durch die Bezeichnung der bestimmten Rechtsfra-
ge, die sowohl für die Entscheidung des Berufungsgerichts von Bedeutung war
als auch für die Entscheidung im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde
erheblich sein wird, dargelegt werden (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO; vgl. Be-
schluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328, stRspr).
Diesen Darlegungsanforderungen werden die Beschwerden nur teilweise ge-
recht; im Übrigen sind sie unbegründet.
1. Die Kläger werfen die Frage auf, ob der Zeitpunkt der letzten Behördenent-
scheidung oder der Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung maßge-
bend für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung sei. Sie beziehen
sich dazu auf die Rechtsprechung zur Ausweisung freizügigkeitsberechtigter
Unionsbürger (Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 - BVerwGE 121,
297) und türkischer Staatsangehöriger mit einem assoziationsrechtlichen Auf-
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enthaltsrecht nach dem ARB 1/80 (Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C
29.02 - BVerwGE 121, 315).
Insoweit genügen die Beschwerden nicht den Anforderungen aus § 133 Abs. 3
Satz 3 i.V.m. § 132 Abs. 2 Satz 1 VwGO an eine Grundsatzrüge; denn sie le-
gen nicht hinreichend dar, dass die von ihnen aufgeworfene Frage aufgrund der
tatsächlichen, nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher bindenden
Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) in einem Revisi-
onsverfahren entscheidungserheblich wäre. Das Oberverwaltungsgericht hat
die angefochtene Ausweisungsverfügung an § 47 Abs. 1 Nr. 1 und § 48 Abs. 1
Satz 1 Nr. 4 AuslG im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids
(28. Juli 2004) geprüft. Für die Beurteilung am Maßstab des Art. 8 EMRK hat es
demgegenüber auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abgestellt (UA
S. 14, 15, 17 und 24); in diesem Zusammenhang wurde die familiäre Situation
der Kläger auch im Hinblick auf die zwei gemeinsamen Kinder berücksichtigt.
Das Berufungsgericht hat im Rahmen einer die Umstände des konkreten Falles
einbeziehenden Abwägung wegen der vom Kläger auch weiterhin zu erwarten-
den Straftaten von erheblichem Gewicht dem staatlichen Interesse des Schut-
zes der Gemeinschaft Vorrang vor dem Interesse der Kläger und ihrer Kinder
am Bestand der Familiengemeinschaft eingeräumt und die unbefristete Aus-
weisung auch im „gegenwärtigen Zeitpunkt“ (UA S. 17) als verhältnismäßig
i.S.d. Art. 8 EMRK angesehen. Die Kläger zeigen nicht auf, aus welchen Grün-
den die gerichtliche Prüfung der angefochtenen Ausweisung an nationalem
Recht - bezogen auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung - an-
ders hätte ausfallen können.
2. Die weitere als grundsätzlich bedeutsam angesehene Frage, ob
„ein laufendes Ermittlungsverfahren, in dem Verfah-
renseinstellung im Raum steht, zur Verweigerung des Ab-
sehens von der Ausweisung bzw. der Befristung einer
Ausweisung unter Achtung des Rechts des Familienle-
bens zum Nachteil des Ausländers herangezogen werden
[kann]“,
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verhilft der Beschwerde ebenfalls nicht zum Erfolg. Sie rechtfertigt die Zulas-
sung der Revision schon deshalb nicht, weil sie sich auf einen Sachverhalt be-
zieht, den das Berufungsgericht so nicht festgestellt hat („im Raume stehende
Einstellung des Ermittlungsverfahrens“). Zudem hat das Berufungsgericht bei
der Beurteilung, ob die Ausweisung des Klägers mit Blick auf Art. 8 EMRK ver-
hältnismäßig ist, nicht an dem laufenden Ermittlungsverfahren angeknüpft,
sondern selbst aufgrund einer umfangreichen Beweisaufnahme festgestellt,
dass der Kläger am 5. Februar 2006 eine Körperverletzung begangen hat. Es
bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren, dass auch nicht abgeurteil-
te Straftaten der Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Ausweisung zugrunde ge-
legt werden können; erforderlich ist nur, dass sich der Rechtsverstoß aus den
getroffenen Feststellungen ergibt (vgl. Urteil vom 17. Juni 1998 - BVerwG 1 C
27.96 - BVerwGE 107, 58 <63> zu § 46 Nr. 2 AuslG). In Wahrheit wendet sich
die Rechtssache mit ihrem Vorbringen gegen die Sachverhalts- und Beweis-
würdigung des Berufungsgerichts. Damit kann eine grundsätzliche Bedeutung
der Rechtssache jedoch nicht dargelegt werden.
3. An die vom Berufungsgericht aus der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte entnommenen Leitlinien zur Prüfung der Ver-
hältnismäßigkeit einer Ausweisung am Maßstab des Art. 8 EMRK und die sich
daran anschließende fallbezogene Würdigung in dem Berufungsurteil knüpfen
die Kläger folgende Fragestellung:
„Von grundsätzlicher Bedeutung ist in diesem Zusam-
menhang die Frage, ob diese lapidare[n] Ausführungen
den zuvor zitierten Leitlinien genügen.“
Diese Fragestellung betrifft ebenfalls die Sachverhaltswürdigung des Beru-
fungsgerichts in dem hier vorliegenden Fall; sie ist deshalb einer allgemeinen,
über den Einzelfall hinausgreifenden rechtsgrundsätzlichen Klärung nicht zu-
gänglich.
4. Schließlich verhilft auch die Frage,
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„ob die Geburt eines nach der letzten ‚Tat’ geborenen
Kindes im Hinblick auf ihre Zäsurwirkung auf das Verhal-
ten eines Ausländers außer Betracht bleiben darf“,
der Beschwerde nicht zum Erfolg. Sie stützt sich auf die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zur Gewichtung familiärer Belange und gegenläufi-
ger öffentlicher Interessen bei einer Ausweisung (Kammerbeschluss vom
23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320 <322>). Die dort ange-
sprochene tatsächliche Möglichkeit, dass die Geburt eines Kindes eine „Zäsur“
in der Lebensführung des betroffenen Ausländers mit der Folge einer günstigen
Prognose hinsichtlich der Begehung weiterer Straftaten bei legalisiertem Auf-
enthalt bewirken kann, hat das Berufungsgericht im vorliegenden Fall gerade
nicht festgestellt. Auch wenn die entsprechende Aussage im Berufungsurteil
ausführlich nur auf die Geburt des ersten Kindes bezogen ist (UA S. 26), lässt
sich daraus angesichts der Ausführungen zu der im Zeitpunkt der letzten münd-
lichen Verhandlung - und damit nach der Geburt des in dem Berufungsurteil
mehrfach erwähnten zweiten Kindes - bestehenden konkreten Gefahr, dass
vom Kläger auch weiterhin die Begehung von Straftaten mit erheblichem Ge-
wicht zu erwarten ist, nicht der Schluss ziehen, das Berufungsgericht habe in-
soweit die Möglichkeit einer Zäsur außer Betracht gelassen. Damit würde sich
die Frage in einem Revisionsverfahren nicht stellen.
5. Die von der nunmehrigen Bevollmächtigten der Kläger erstmalig nach Ablauf
der Frist zur Begründung der Beschwerde vorgetragenen Umstände können
nicht zur Zulassung der Revision führen. Die Prüfung des Senats ist auf die
fristgerecht geltend gemachten Beschwerdegründe beschränkt (§ 133 Abs. 3
Satz 1 und 3 VwGO). Im Übrigen ist für neues tatsächliches Vorbringen im Be-
schwerdeverfahren nach § 133 VwGO kein Raum (§ 137 Abs. 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestset-
zung folgt aus § 47 Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.
Eckertz-Höfer Richter Prof. Dr. Kraft
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