Urteil des BVerwG vom 17.06.2013

BVerwG: kopie, erfüllung, hauptsache, aufenthaltserlaubnis, staat, wiederaufnahme, beweisantrag, pass, asylrecht, gebärdensprache

BVerwG 10 B 1.13
Rechtsquellen:
AufenthG §§ 3, 5 Abs. 1 Nr. 4
AufenthV § 1 Abs. 3 Nr. 2, § 3 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1
GFK Art. 28
VwGO § 86 Abs. 1, § 132 Abs. 2 Nr. 3
Stichworte:
Aufklärungsrüge; Flüchtling; Identitätssicherung; Passersatz; Passpflicht; Reiseausweis.
Leitsatz:
Die Erfüllung der Passpflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG dient nicht allein der Feststellung
der Identität des Passinhabers. Vielmehr gewährleisten ein gültiger Pass oder Passersatz wie
der Reiseausweis nach Art. 28 GFK auch die Verpflichtung zur Wiederaufnahme der
betreffenden Person durch den das Dokument ausstellenden Staat.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 1.13
VG Berlin - 25.11.2008 - AZ: VG 38 V 98.08 Berlin
OVG Berlin-Brandenburg - 23.10.2012 - AZ: OVG 2 B 13.10
In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Juni 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
beschlossen:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 23. Oktober 2012
wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das
Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der
vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Gründe
1 Die Beschwerde der Beklagten ist begründet. Die Beklagte rügt zu Recht, dass das
Berufungsgericht seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 3
i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO). Wegen dieses Verfahrensmangels, auf dem die Entscheidung beruht,
verweist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO im Interesse der
Verfahrensbeschleunigung unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Berufungsgericht
zurück.
2 Die Beklagte beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht es unterlassen hat, von Amts
wegen aufzuklären, ob der Kläger zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die Passpflicht
nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfüllte. Zwar verletzt ein Gericht seine
Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung grundsätzlich dann nicht, wenn es von einer
sich nicht aufdrängenden Beweiserhebung absieht, die ein anwaltlich vertretener Beteiligter oder
- wie hier - ein Behördenvertreter nicht ausdrücklich beantragt hat. Die Tatsache, dass ein
Beweisantrag nicht gestellt wurde, ist aber dann unerheblich, wenn sich dem Gericht auf der
Grundlage seiner Rechtsauffassung auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag eine weitere
Sachverhaltsermittlung von Amts wegen hätte aufdrängen müssen (stRspr, etwa Urteil vom 29.
Mai 2008 - BVerwG 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u.
Asylrecht Nr. 21 jeweils Rn. 13 m.w.N.). Das ist hier der Fall.
3 Das Berufungsgericht hätte Anlass zur Aufklärung der Frage sehen müssen, ob der
französische Reiseausweis für Flüchtlinge gemäß Art. 28 GFK, den der Bevollmächtigte des
Klägers dem Gericht mit Schriftsatz vom 27. Januar 2011 in Kopie vorgelegt hat (Bl. 195 <199>
d.A.), zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch gültig war. Die Beklagte weist in der
Beschwerdebegründung mit Recht darauf hin, dass die Erfüllung der Passpflicht eine
Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG darstellt. Der Kläger kann seiner
Passpflicht auch durch Vorlage eines gültigen Passersatzes nachkommen (§ 3 Abs. 1 Satz 1
AufenthG). Als Passersatz gilt nach § 3 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 1 Abs. 3 Nr. 2 AufenthV
auch der Reiseausweis für Flüchtlinge im Sinne von Art. 28 GFK. Einen solchen hat der Kläger
zwar in Kopie vorgelegt. Die Vertreterin der Beklagten hat das Berufungsgericht ausweislich des
Protokolls der mündlichen Verhandlung aber darauf hingewiesen, „es sei noch genau zu klären,
ob ein aktuelles visierfähiges Reisedokument des Klägers vorliege“ (S. 2 des Protokolls der
mündlichen Verhandlung vom 23. Oktober 2012). Spätestens aufgrund dieses Hinweises hätte
sich dem Gericht eine entsprechende Aufklärung aufdrängen müssen, denn der in Kopie
überreichte Reiseausweis gemäß Art. 28 GFK war bis zum 21. Oktober 2011 befristet (Bl. 199
d.A.).
4 Zutreffend weist die Beklagte in ihrer Beschwerdebegründung des Weiteren darauf hin, dass
die vom Kläger in Kopie vorgelegte, bis 2015 gültige französische Aufenthaltserlaubnis kein
Reisedokument darstellt. Zwar kann die Identität des Klägers auch durch andere Dokumente als
den Reiseausweis nach Art. 28 GFK nachgewiesen werden. Der Gesetzgeber verlangt aber in §
5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG die Erfüllung der Passpflicht als weitere, zur Identitätsklärung nach § 5
Abs. 1 Nr. 1a AufenthG hinzutretende Voraussetzung für die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis. Denn nur ein Pass oder ein Passersatz wie der Reiseausweis nach Art. 28
GFK gewährleisten im Rahmen ihrer Geltungsdauer auch die Verpflichtung zur Wiederaufnahme
der betreffenden Person durch den das Dokument ausstellenden Staat im Fall der Notwendigkeit
oder des Wunsches zur Rückkehr (vgl. hierzu Ziffer 3.04 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift
zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009, GMBl 2009, 877 und Paragraph 13 des Anhangs
zur GFK, BGBl II 1953, 559 <585>).
5 Auf die von der Beschwerde weiter geltend gemachten Zulassungsgründe kommt es nicht
mehr entscheidend an.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft