Urteil des BVerwG vom 05.08.2010

BVerwG (in angemessener weise, ablauf der frist, rechtssatz, beschwerde, anbau, bundesverwaltungsgericht, zulassung, errichtung, begründung, vorinstanz)

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 45.10
OVG 1 LB 50/10
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. November 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz und Petz
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Ober-
verwaltungsgerichts vom 5. August 2010 wird zurückge-
wiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 35 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Er-
folg.
1. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Aus dem
Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass das Berufungsurteil von einer
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts abweicht.
Der Revisionszulassungsgrund der Divergenz liegt vor, wenn die Vorinstanz in
Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem ihre Entscheidung tragenden
Rechtssatz einem ebensolchen Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts
widerspricht (vgl. Beschluss vom 20. Dezember 1995 - BVerwG 6 B 35.95 -
NVwZ-RR 1996, 712; stRspr). § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verlangt, dass der
Tatbestand der Divergenz nicht nur durch die Angabe der höchstrichterlichen
Entscheidung, von der abgewichen sein soll, sondern auch durch Gegenüber-
stellung der miteinander unvereinbaren Rechtssätze dargelegt wird. Dem wird
die Klägerin nicht gerecht. Sie arbeitet keinen Rechtssatz aus dem Berufungs-
urteil heraus, der von einem Rechtssatz aus einer Entscheidung des Bundes-
verwaltungsgerichts abweicht.
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a) Dem Beschluss des Senats vom 7. Juli 1994 - BVerwG 4 B 131.94 - (juris
Rn. 7) lässt sich der Rechtssatz entnehmen, dass die Verfestigung einer Split-
tersiedlung nicht im Sinne des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB zu befürchten
ist, wenn eine zwar unerwünschte, aber bereits verfestigte Splittersiedlung vor-
handen ist und das Hinzutreten einer weiteren baulichen Anlage zu einer weite-
ren Verfestigung nichts mehr „beitragen“ kann. Einen entgegenstehenden
Rechtssatz des Inhalts, dass die Verfestigung einer Splittersiedlung auch dann
zu befürchten ist, wenn das Hinzutreten einer weiteren baulichen Anlage zu
einer zwar unerwünschten, aber bereits verfestigten Splittersiedlung zu einer
weiteren Verfestigung keinen Beitrag mehr leisten kann, hat das Oberverwal-
tungsgericht nicht formuliert. Es hat seiner Prüfung vielmehr den Obersatz vor-
angestellt, dass die Verfestigung einer Splittersiedlung zu befürchten ist, wenn
damit ein Vorgang zu missbilligender unorganischer Besiedlung eingeleitet oder
verstärkt wird (UA S. 14). Im Rahmen der Subsumtion ist es zu dem Ergebnis
gelangt, dass der umstrittene Anbau der Klägerin und weitere Baulichkeiten, die
bei Zulassung des Anbaus nicht verhindert werden könnten oder hinsichtlich
derer der Anbau zumindest eine nicht genau zu übersehende Vorbildwirkung
entfalten könnte, den vorhandenen Siedlungssplitter erheblich verstärken wür-
den. Ob diese tatrichterliche Würdigung richtig ist oder - wie die Klägerin
meint - anders hätte ausfallen müssen, weil die Beklagte innerhalb der Splitter-
siedlung Neubauten zugelassen habe, ist für den Erfolg der Beschwerde ohne
Belang. Eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt nicht vor,
wenn die Vorinstanz einen Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts im Ein-
zelfall rechtsfehlerhaft anwendet oder aus ihm nicht die rechtlichen Folgerun-
gen zieht, die etwa für die Sachverhalts- und Beweiswürdigung geboten sind
(stRspr; vgl. nur Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW
1997, 3328).
b) Dem Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts, bei der Prüfung der Frage,
ob ein Vorhaben materiell illegal sei, dürfe die Rechtslage zum Zeitpunkt der
Errichtung des Baus nicht außer Betracht gelassen werden (Urteil vom 28. Juni
1956 - BVerwG 1 C 93.54 - BVerwGE 3, 351 <354 f.>), und den von der Be-
schwerde zitierten Rechtssätzen zum Begriff der angemessenen Versorgung im
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Sinne des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB (Urteil vom 23. Januar 1981
- BVerwG 4 C 82.77 - BVerwGE 61, 285 <289 f.>), hat sich das Oberverwal-
tungsgericht ebenfalls nicht widersetzt. Es hat geprüft, ob der Anbau bei seiner
Errichtung im Jahr 1989 das Teilprivileg des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB für
sich in Anspruch nehmen konnte (UA S. 16). Soweit es dies mit der Begrün-
dung verneint hat, die Erweiterung des Wohnhauses sei nicht angemessen, hat
es sich Rechtssätze aus dem Beschluss des Senats vom 31. Mai 1988
- BVerwG 4 B 88.88 - (BRS 48 Nr. 77) zu eigen gemacht (UA S. 17 f.), die mit
den von der Klägerin in Bezug genommenen Rechtssätzen aus dem Urteil vom
23. Januar 1981 (a.a.O.) übereinstimmen. Sollte das Oberverwaltungsgericht
die Rechtssätze unrichtig angewandt haben, läge darin keine Divergenz (s.o.).
2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen der gel-
tend gemachten Verfahrensfehler zuzulassen.
a) Die Klägerin kritisiert, dass das Oberverwaltungsgericht aus der Nichtvorlage
einer Baugenehmigung den Schluss gezogen hat, das um den Anbau erweiter-
te Wohnhaus sei nicht im Sinne des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB zulässi-
gerweise errichtet worden. Sie meint, dass die Vorinstanz die Nichterweislich-
keit der Existenz einer Baugenehmigung nicht zu ihrem Nachteil hätte verwen-
den dürfen, weil die Beklagte in ihrer Beseitigungsverfügung ausgeführt habe,
dass das vorhandene Wohngebäude zulässigerweise errichtet worden sei. Die
Auffassung der Klägerin, das Oberverwaltungsgericht habe dadurch gegen sei-
ne Pflicht zur Klärung des Sachverhalts (§ 86 Abs. 1 VwGO) und den Überzeu-
gungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verstoßen, geht fehl. Das Ober-
verwaltungsgericht hat seine Annahme auch auf die Erwägung gestützt, dass
die in der mündlichen Verhandlung abgegebenen Erklärungen, wonach das
vollständig ausgebaute Dachgeschoss vor Beifügung des Anbaus nur über eine
Außentreppe zu erreichen gewesen sei, durchgreifende Zweifel daran begrün-
deten, dass auch das Wohnhaus genehmigt worden sei, weil ein Umbau und
eine Umnutzung des Dachgeschosses zu Wohnzwecken nur genehmigt wor-
den wäre, wenn dazu eine Innentreppe in den darüber liegenden Raum geführt
worden wäre. Mit Angriffen gegen die Würdigung des Sachverhalts kann ein
Verfahrensmangel grundsätzlich nicht bezeichnet werden, weil die Beweiswür-
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digung regelmäßig und so auch hier dem sachlichen Recht zuzuordnen ist (vgl.
Beschluss vom 12. Januar 1995 - BVerwG 4 B 197.94 - Buchholz 406.12 § 22
BauNVO Nr. 4 S. 4). Gleiches gilt für einen von der Klägerin ebenfalls angedeu-
teten Verstoß gegen materielle Beweislastregeln.
b) Die Klägerin hält dem Oberverwaltungsgericht ferner vor, seine Frage- und
Erörterungspflicht (§ 104 VwGO) und die Aufklärungspflicht (§ 86 VwGO) ver-
letzt zu haben, indem es für sie überraschend und in der Sache zu Unrecht un-
terstellt habe, die Wohnbedürfnisse ihrer Familie hätten sich ohne Weiteres
auch durch die Inanspruchnahme einer Ausbaureserve im Dachgeschoss in
angemessener Weise befriedigen lassen. Ob der Vorwurf der Klägerin berech-
tigt ist, kann offen bleiben. Da das Oberverwaltungsgericht die Unangemes-
senheit der Erweiterung im Verhältnis zum vorhandenen Wohngebäude - seine
Entscheidung selbständig tragend - auch damit begründet hat, dass schon die
Wohnfläche des Altbestandes überdimensioniert sei (UA S. 17 f.), und die Klä-
gerin dieses Begründungselement nicht mit einem Grund für die Zulassung der
Revision zu erschüttern vermag, kann das Urteil nicht, wie von § 132 Abs. 2
Nr. 3 VwGO vorausgesetzt, auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler be-
ruhen. Denn die (unterstellt) fehlerhafte Begründung kann hinweggedacht wer-
den, ohne dass sich der Ausgang des Verfahrens ändert.
3. Für die von der Klägerin angeregte Aussetzung des Verfahrens ist kein
Raum, weil die Voraussetzungen des § 94 VwGO nicht vorliegen. Die Ent-
scheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde hängt nicht von dem Bestehen
oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines
anderen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen
ist. Ob der Klägerin der behauptete und von der Beklagten verneinte Anspruch
auf Einsicht in die Bauakten für die Nachbargrundstücke zusteht, ist für die Ent-
scheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde ohne Bedeutung. Die Klägerin
möchte durch Einsichtnahme in die Bauakten für die Nachbargrundstücke fest-
stellen, ob die Beklagte Baugenehmigungen erteilt hat, die dazu führen, dass
das Vorhaben der Klägerin nicht mehr als städtebauliche Verfestigung einer
Splittersiedlung erscheint. Der Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde ist aber
von der Genehmigungspraxis der Beklagten nicht abhängig. Die Verfahrensrü-
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ge der mangelnden Erforschung des Sachverhalts ist nicht darauf gestützt,
dass das Oberverwaltungsgericht nicht ermittelt hat, ob und in welchem Um-
fang die Beklagte die Errichtung von Bauvorhaben auf den Nachbargrundstü-
cken genehmigt hat. Weitere Rügen, mit denen die Zulassung der Revision er-
reicht werden soll, sind nach Ablauf der Frist für die Begründung der Be-
schwerde ausgeschlossen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und die Streitwertfest-
setzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Gatz
Petz
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