Urteil des BVerwG vom 23.01.2008

BVerwG: politische verfolgung, russische föderation, rechtliches gehör, staatsangehörigkeit, verweigerung, wiedereinreise, armenien, aserbaidschan, bundesamt, aufklärungspflicht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 10 B 88.07 (10 PKH 18.07)
OVG 1 LB 1/06
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Januar 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter und Prof. Dr. Kraft
beschlossen:
Der Antrag der Beigeladenen auf Bewilligung von Pro-
zesskostenhilfe wird abgelehnt.
Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzu-
lassung der Revision in dem Urteil des Schleswig-
Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 18. Januar
2007 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladenen tragen die Kosten des Beschwerde-
verfahrens je zur Hälfte.
G r ü n d e :
Den Beigeladenen kann die beantragte Prozesskostenhilfe nicht bewilligt wer-
den, weil ihre Beschwerde - wie sich aus den nachstehenden Ausführungen
ergibt - keine Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO). Die
auf sämtliche Revisionszulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte
Beschwerde ist unbegründet.
1. Die Beschwerde beanstandet allerdings zu Recht, dass das Berufungsge-
richt bei der Bestimmung des Streitgegenstands der Klage des Bundesbeauf-
tragten von den Grundsätzen abgewichen ist, die das Bundesverwaltungsge-
richt zum asylrechtlichen (flüchtlingsrechtlichen) Abschiebungsschutz entwickelt
hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat mehrfach betont, dass über den asyl-
rechtlichen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich nur
einheitlich entschieden werden kann. Dabei sind sämtliche Staaten, deren
Staatsangehörigkeit der Betroffene möglicherweise besitzt oder in denen er als
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Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, in die Prüfung einzubezie-
hen. Bei dem Anspruch auf asylrechtlichen Abschiebungsschutz handelt es
sich, auch wenn mehrere Staaten als Verfolgerstaaten in Betracht kommen,
grundsätzlich um einen unteilbaren Streitgegenstand, über den nur einheitlich
entschieden werden kann (Urteile vom 8. Februar 2005- BVerwG 1 C 29.03 -
BVerwGE 122, 376 <380 f.>, vom 12. April 2005 - BVerwG 1 C 3.04 - Buchholz
402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 2 sowie vom 2. August 2007 - BVerwG 10 C
13.07 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE be-
stimmt). Dies gilt auch im Fall einer Klage des Bundesbeauftragten gegen eine
vom Bundesamt zu § 60 Abs. 1 AufenthG getroffene Feststellung (vgl. Urteil
vom 8. Februar 2005 - BVerwG 1 C 29.03 - a.a.O. S. 383).
Entgegen der Auffassung der Beschwerde beruht die Berufungsentscheidung
aber nicht auf dieser Abweichung. Das Oberverwaltungsgericht hat die Beru-
fung des Bundesbeauftragten auch für den Fall als zulässig angesehen,
„... wenn der Rechtsstreit nicht auf die Anfechtung der Flüchtlingseigenschaft in
Bezug auf Aserbaidschan beschränkt wäre“ (BU S. 8). Es hat zudem die Sach-
prüfung am Maßstab des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht auf Aserbaidschan be-
schränkt, sondern hilfsweise auch auf Armenien und die Russische Föderation
erstreckt. Für beide Staaten hat es den für die Gewährung von asylrechtlichem
Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Bezug der
Beigeladenen zu diesen Ländern verneint. Die gegen diese Hilfsbegründung
des Berufungsurteils gerichteten Rügen greifen nicht durch; aus ihnen ergeben
sich insbesondere keine weiteren Gründe, die zur Zulassung der Revision füh-
ren könnten.
Mit der Annahme, auch bei richtiger Bestimmung des Streitgegenstands habe
der Bundesbeauftragte seine Berufung nicht ausreichend begründet, über-
spannt die Beschwerde die Anforderungen des § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO.
Danach muss die Berufungsbegründung einen bestimmten Antrag enthalten
und hinreichend deutlich darlegen, warum das verwaltungsgerichtliche Urteil
aus der Sicht des Berufungsklägers keinen Bestand haben kann. Die Beru-
fungsgründe können auch durch Bezugnahme auf das Zulassungsvorbringen
dargelegt werden, wenn dieses den genannten Anforderungen entspricht (vgl.
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Urteil vom 30. Juni 1998 - BVerwG 9 C 6.98 - BVerwGE 107, 117 <120 f.>).
Das war hier der Fall.
Die Gehörsrüge, die an der Ablehnung der in der mündlichen Verhandlung ge-
stellten Beweisanträge zu den vorgetragenen Verfolgungsgründen in der Rus-
sischen Föderation anknüpft (Beschwerdebegründung S. 18), greift ebenfalls
nicht durch. Die von der Beschwerde wiedergegebenen Gründe des Beru-
fungsgerichts für die Ablehnung der Beweisanträge, die Verhältnisse in Arme-
nien und der Russischen Föderation seien für die Berufungsentscheidung un-
erheblich, tragen das angefochtene Urteil auch hinsichtlich der Hilfsbegrün-
dung. Die Ausführungen der Beschwerde, was bei anderweitiger Begründung
der Ablehnung der Beweisanträge durch das Berufungsgericht noch vorgetra-
gen worden wäre, verhelfen der Gehörsrüge nicht zum Erfolg. Dem dann ge-
stellten Beweisantrag (Beschwerdebegründung S. 18),
„die Verweigerung einer Wiedereinreise für Staatenlose
(bzw. unmittelbar aus der Russischen Föderation in die
Bundesrepublik Deutschland )
knüpfe jedenfalls dann an das Merkmal der vermuteten
politischen Gegnerschaft an, wenn diese Personen zuvor
staatlich oder von nichtstaatlichen Gruppen in Anknüpfung
an ein politisches Merkmal erhebliche Rechtsgutsbeein-
trächtigungen und/oder Gefahren für Leib, Leben oder
Freiheit erlitten haben,“
wäre vom Berufungsgericht nicht nachzugehen gewesen. Dieser Antrag zielt
auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis, weil die Beschwerde für ihre
Annahme, die Verweigerung der Wiedereinreise in die Russische Föderation
sei jedenfalls im Falle erlittener Vorverfolgung politisch motiviert, jeden greifba-
ren Anhaltspunkt schuldig bleibt. Damit fehlt es an einer hinreichenden Sub-
stantiierung ihres Vortrags zu der genannten Beweistatsache, denn eine
- insbesondere an einer Verfolgung durch nichtstaatliche Gruppen anknüpfen-
de - Differenzierung seitens der russischen Behörden erscheint ohne jeden tat-
sächlichen Anhalt hierfür „aus der Luft gegriffen“ (zum Ausforschungsbeweis
vgl. Beschluss vom 27. März 2000 - BVerwG 9 B 518.99 - Buchholz 310 § 98
VwGO Nr. 60).
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Auch die in diesem Zusammenhang erhobenen „Gehörs- und Aufklärungsrü-
gen“ (Beschwerdebegründung S. 19) bleiben ohne Erfolg. Aus den Ausführun-
gen der Beschwerde ergibt sich nicht, warum sich dem Berufungsgericht eine
Beweisaufnahme zu dem genannten Beweisthema von Amts wegen gemäß
§ 86 Abs. 1 VwGO hätte aufdrängen müssen. Mit ihrem Vorbringen und den
Angriffen auf die dazu ergangene Rechtsprechung des Berufungsgerichts
(OVG Schleswig, Urteil vom 8. Dezember 2005 - 1 LB 202/01) rügt die Be-
schwerde in Wahrheit die sachliche Würdigung des Berufungsgerichts ohne
eine Verletzung der Aufklärungspflicht oder des Anspruchs der Beschwerdefüh-
rer auf rechtliches Gehör in einer den Darlegungsanforderungen des § 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise aufzuzeigen; damit kann sie die
Zulassung der Revision nicht erreichen.
Die hilfsweise aufgeworfene Grundsatzfrage,
ob Staatenlose, die aufgrund politischer Verfolgung das
bisherige Land des gewöhnlichen Aufenthalts verlassen
haben, zu diesem Land eine Schutzbedürftigkeit im Sinne
politischen Verfolgungsschutzes nach § 60 Abs. 1 Auf-
enthG haben, wenn ... die Wiedereinreiseverweigerung
- als solche - nicht für sich genommen auf ein politisches
Merkmal zielt, jedoch der Mechanismus der Wiedereinrei-
severweigerung ... deshalb greift, weil der betreffende
Staatenlose vom Land des gewöhnlichen Aufenthalts
durch dort erlittene politische Verfolgung zum Verlassen
und zur Flucht gezwungen wurde,
bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Sie ist aufgrund der Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts ohne weiteres zu verneinen. Die im
Zentrum der Prüfung des § 60 Abs. 1 AufenthG stehende Verfolgungsprognose
setzt einen Staat voraus, in den der Betreffende in rechtlich zulässiger Weise
zurückkehren könnte. Das ist bei einem Staatenlosen das Land des gewöhnli-
chen Aufenthalts. Löst dieser Staat durch Verweigerung der Wiedereinreise
aus im asylrechtlichen Sinne nichtpolitischen Gründen die ihn mit einem Staa-
tenlosen verbindenden Beziehungen, hört er auf, für diesen das Land des ge-
wöhnlichen Aufenthalts zu sein und steht ihm in gleicher Weise gegenüber wie
jeder andere auswärtige Staat. Die Frage, ob dem Staatenlosen auf seinem
Territorium politische Verfolgung droht, wird mit Blick auf die Flüchtlingsaner-
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kennung gegenstandslos (vgl. Urteile vom 15. Oktober 1985 - BVerwG 9 C
30.85 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 39 S. 122 <124 f.>, vom 24. Oktober
1995 - BVerwG 9 C 3.95 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 180 S. 61 <65>
und vom 22. Februar 2005 - BVerwG 1 C 17.03 - BVerwGE 123, 18 <22 f.>).
Demzufolge ist das Motiv des Staatenlosen für das Verlassen dieses Landes im
Hinblick auf den Prüfungsmaßstab des § 60 Abs. 1 AufenthG unerheblich.
2. Die Beschwerde rügt, das Berufungsgericht sei unter Verletzung des rechtli-
chen Gehörs sowie Verstoßes gegen die Aufklärungspflicht davon ausgegan-
gen, dass der Beigeladene zu 2 staatenlos sei (Beschwerdebegründung S. 25).
Dieser leite vielmehr seine aserbaidschanische Staatsangehörigkeit von seiner
Mutter ab und habe sich nicht „immer als staatenlos geriert“. Mit diesem Vor-
bringen werden die gerügten Verfahrensfehler schon deshalb nicht hinreichend
bezeichnet, weil die Beigeladenen selbst im Berufungszulassungsverfahren
vorgetragen haben, sie seien staatenlos (Schriftsatz ihres Bevollmächtigten
vom 19. Oktober 2005 S. 5 = VG Bd. II Bl. 301); von diesem Vortrag sind sie im
Berufungsverfahren auch nicht abgerückt. Im Übrigen wendet sich die Be-
schwerde im Gewande der Gehörs- und Aufklärungsrüge gegen die tatsächli-
che Würdigung des Berufungsgerichts; damit vermag sie die Zulassung der
Revision nicht zu erreichen.
3. Die Beschwerde erachtet die Ablehnung des Zwischenfeststellungsantrags
(Hilfsantrag zu 3) als verfahrensfehlerhaft (Beschwerdebegründung S. 31). Den
Antrag der Beigeladenen, hilfsweise festzustellen, dass sie die Staatsangehö-
rigkeit der Republik Armeniens, der Russischen Föderation sowie Aserbai-
dschans nicht besitzen, hat das Berufungsgericht als unzulässig abgelehnt. Es
hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass im Verhältnis zum Bundesamt ein
Feststellungsinteresse schon im Ansatz nicht erkennbar sei und die am Pro-
zess unbeteiligten Ausländerbehörden nicht gemäß § 4 AsylVfG an eine ent-
sprechende Feststellung gebunden seien. Die dagegen erhobenen Verfahrens-
rügen sowie die daran anknüpfende Grundsatzrüge führen nicht zur Zulassung
der Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 und 1 VwGO, weil das Berufungsgericht
die Zwischenfeststellungsklage im Ergebnis zu recht als unzulässig angesehen
hat (§ 144 Abs. 4 VwGO analog).
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Ein Zwischenfeststellungsantrag, dessen Zulässigkeit sich gemäß § 173 VwGO
nach der im Verwaltungsprozess entsprechend anzuwendenden Vorschrift des
§ 256 Abs. 2 ZPO bestimmt, kann nur auf Klärung eines für die Entscheidung
vorgreiflichen Rechtsverhältnisses gerichtet werden (Urteil vom 6. September
1988 - BVerwG 4 C 5.86 - Buchholz 445.5 § 8 WaStrG Nr. 9 S. 1 <7>). Das
(Nicht-)Bestehen einer ausländischen Staatsangehörigkeit ist aber als Vorfrage
in asyl- und ausländerrechtlichen Verwaltungsstreitverfahren vor deutschen
Gerichten kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis, sondern eine Tatfrage.
Das gilt auch dann, wenn das Verwaltungsgericht keine Auskunft über den Sta-
tus des Beteiligten von den ausländischen Behörden einholt, sondern sich sei-
ne Überzeugung unter Zugrundelegung des maßgebenden ausländischen
Rechts sowie der ausländischen Rechtspraxis (§ 173 VwGO i.V.m. § 293 ZPO)
selbst bildet, denn Inhalt und Anwendung ausländischen Rechts sind dem Be-
reich der Tatsachenfeststellung zuzuordnen (Beschluss vom 7. September
1998 - BVerwG 8 B 118.98 - Buchholz 428 § 2 VermG Nr. 40 S. 57 <59>; vgl.
auch Beschlüsse vom 21. Juli 1988 - BVerwG 1 B 44.88 - Buchholz 130 § 8
RuStAG Nr. 32 S. 4 <7 ff.> und vom 8. Mai 1996 - BVerwG 1 B 68.95 -
Buchholz 130 § 8 RuStAG Nr. 48). Nachdem der Hilfsantrag zu 3. bereits aus
diesem Grund unzulässig war, bedarf es keines Eingehens auf die Frage, ob
eine Zwischenfeststellungsklage überhaupt von einem Beigeladenen erhoben
werden kann (ablehnend Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 43 Rn. 33
sowie Redeker/v.Oertzen, VwGO, 14. Aufl. 2004, § 43 Rn. 30).
4. Im Hinblick auf die Ablehnung des 4. Hilfsantrags fehlt es bereits an der hin-
reichenden Darlegung der Gehörs- und der Aufklärungsrüge. Mit ihrem Vor-
bringen wendet sich die Beschwerde in Wahrheit gegen die Würdigung des
Berufungsgerichts, das die Notwendigkeit vorbeugenden Rechtsschutzes zu-
treffend verneint hat.
5. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung der Entscheidung ab (§ 133
Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und 3, § 159 Satz 1 VwGO
i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht
erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Satz 1 RVG.
Dr. Mallmann
Richter
Prof. Dr. Kraft
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