Urteil des BVerwG vom 04.08.2005

BVerwG: rechtliches gehör, begründungspflicht, ausnahme, ergänzung, bestandteil, erfüllung, verfahrensbeteiligter

Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Beamtendisziplinarrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
GG
Art. 103 Abs. 1
BDG
§ 3
VwGO
§ 108 Abs. 1 Satz 2, § 130 b Satz 2
Stichworte:
Angabe der leitenden Gründe; Bezugnahme auf Gründe der angefochtenen
Entscheidung; rechtliches Gehör.
Leitsätze:
Stellt ein Beteiligter die tatsächliche oder rechtliche Würdigung des erstinstanzlichen
Gerichts, auf die dessen Entscheidung gestützt ist, substantiiert in Frage, so muss
das Berufungsgericht darauf in den Gründen seiner Entscheidung inhaltlich eingehen
(Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 VwGO).
Insoweit kommt eine Bezugnahme auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung
gemäß § 130 b Satz 2 VwGO nicht in Betracht.
Beschluss des 2. Senats vom 4. August 2005 - BVerwG 2 B 5.05
I. VG Schleswig vom 01.03.2004 - Az.: VG 22 A 2/02 -
II. OVG Schleswig vom 23.11.2004 - Az.: OVG 16 LB 1/04 -
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 5.05
OVG 16 LB 1/04
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. August 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht A l b e r s
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht G r o e p p e r und Dr. H e i t z
beschlossen:
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Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen
Oberverwaltungsgerichts vom 23. November 2004 wird
aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische
Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit
gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 69 BDG zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Die
Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil die
Berufungsentscheidung den Begründungsanforderungen gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2
VwGO, § 3 BDG nicht genügt.
Nach dieser Vorschrift, die gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch für das
Berufungsverfahren gilt, sind in dem Urteil die Gründe anzugeben, die für die
richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Dies bedeutet, dass die
Entscheidungsgründe eine tatsächliche und rechtliche Würdigung des Streitstoffes
enthalten müssen. Das Gericht muss - unter Berücksichtigung des darauf bezogenen
Vortrags der Verfahrensbeteiligten - nachvollziehbar darlegen, auf welche
tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte es seine Entscheidung stützt (Urteile
vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <209> und vom 31. Juli
2002 - BVerwG 8 C 37.01 - Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 35 S. 110;
Beschluss vom 18. Juli 2001 - BVerwG 1 B 118.01 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1
VwGO Nr. 18).
Will das Berufungsgericht den Erwägungen der Vorinstanz vollständig oder in
bestimmten Punkten folgen, so kann es seiner Begründungspflicht dadurch
nachkommen, dass es die Berufung gemäß § 130 b Satz 2 VwGO, § 3 BDG aus den
Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung zurückweist. Dabei sind die in Bezug
genommenen Gründe genau zu bezeichnen. Unter dieser Voraussetzung werden sie
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Bestandteil der Begründung des Berufungsurteils (Beschlüsse vom 25. Februar 1992
- BVerwG 1 B 29.92 - Buchholz 310 § 130 b VwGO Nr. 2 und vom 17. Dezember
1997 - BVerwG 2 B 103.97 - juris).
Die Erfüllung der Begründungspflicht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO durch
Bezugnahme gemäß § 130 b Satz 2 VwGO kommt naturgemäß hinsichtlich
desjenigen Vortrags nicht in Betracht, den ein Verfahrensbeteiligter neu in das
Berufungsverfahren einführt. Stellt ein Beteiligter die entscheidungserhebliche
tatsächliche oder rechtliche Würdigung des erstinstanzlichen Gerichts substantiiert in
Frage, so fordert das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103
Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO, dass das Berufungsgericht darauf inhaltlich eingeht
(Beschlüsse vom 20. Juli 1979 - BVerwG 7 CB 21.79 - NJW 1980, 953 <954> und
vom 9. Dezember 1980 - BVerwG 7 B 238.80 - Buchholz 312 EntlG Nr. 17; BFH,
Urteile vom 29. Juli 1992 - II R 14/92 - BFHE 169, 1 <3> und vom 23. April 1998
- IV R 30/97 - NVwZ-RR 1999, 151 <152>).
Der Beklagte hat in der Beschwerdebegründung dargelegt, dass er sich mit seiner
Berufung gegen die rechtlichen Würdigungen des Verwaltungsgerichts gewandt hat,
die der durch Urteil vom 1. März 2004 ausgesprochenen Zurückstufung zugrunde
liegen. Das Verwaltungsgericht hat nicht nur den gravierenden Vorfall in der
Waffenkammer der BGS-Inspektion L. am 17. oder 20. Januar 2000, sondern auch
die weiteren dem Beklagten zur Last gelegten Handlungen als
Dienstpflichtverletzungen in Gestalt sexuell bestimmter körperlicher Berührungen
oder Bemerkungen sexuellen Inhalts gewertet. Hinsichtlich dieser weiteren Vorwürfe
hat der Beklagte in der Berufungsbegründung jeweils näher ausgeführt, aus welchen
Gründen er die Erwägungen des Verwaltungsgerichts für fehlerhaft hält.
Da der Berufungsvortrag zu entscheidungserheblichen Gesichtspunkten Stellung
nimmt, war das Oberverwaltungsgericht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO
verpflichtet, auf die Argumente des Beklagten in den Gründen der
Berufungsentscheidung inhaltlich einzugehen. Stattdessen hat sich das
Oberverwaltungsgericht auf den Hinweis beschränkt, die zutreffenden
Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils bedürften auch hinsichtlich der
Würdigung des festgestellten Sachverhalts keiner Ergänzung. Diese Bezugnahme
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gemäß § 130 b Satz 2 VwGO genügt den sich aus § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO
ergebenden Begründungsanforderungen schon deshalb nicht, weil das
Verwaltungsgericht die zur Begründung der Berufung vorgebrachten Argumente des
Beklagten nicht hat abhandeln können. Die Berufungsbegründung knüpft ersichtlich
an die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils an und setzt sich - mit
Ausnahme des Vorfalls in der Waffenkammer - mit der rechtlichen Einordnung der
dem Beklagten zur Last gelegten Handlungen durch das Verwaltungsgericht
auseinander. Daher hätte das Oberverwaltungsgericht in den Gründen der
Berufungsentscheidung knapp erläutern müssen, aus welchen Gründen es die
Argumente des Beklagten nicht für überzeugend gehalten hat. Dies gilt umso mehr,
als das Oberverwaltungsgericht über die Berufung ohne mündliche Verhandlung
entschieden hat. Auf dem Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO beruht die
Berufungsentscheidung (§ 138 Nr. 6 VwGO, § 3 BDG).
Dagegen genügen die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts, wonach ein
Maßnahmeverbot gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 2 BDG nicht eingreift, den
Begründungsanforderungen gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Insoweit hat der
Beklagte auch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht gemäß § 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO, § 69 BDG dargelegt. Die Beschwerdebegründung wirft keine
rechtsgrundsätzliche Frage zum Bedeutungsgehalt des § 14 Abs. 1 Nr. 2 BDG auf,
sondern beanstandet in der Art einer Revisionsbegründung die tatsächliche und
rechtliche Würdigung des Oberverwaltungsgerichts.
Im weiteren Verfahren wird sich das Oberverwaltungsgericht mit der
rechtsgrundsätzlichen Frage zu befassen haben, ob über die Berufung des
Beklagten gemäß § 130 a VwGO entschieden werden kann. Gemäß § 3 BDG ist
diese Vorschrift in Disziplinarklageverfahren dann nicht anwendbar, wenn die
Voraussetzungen für eine Entscheidung über eine zulässige Berufung ohne
mündliche Verhandlung durch Beschluss durch § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG i.V.m. § 59
Abs. 1 BDG abschließend geregelt sein sollten.
Albers Groepper Dr. Heitz