Urteil des BVerfG vom 22.03.2018

Erfolglose Verzögerungsbeschwerde, da Zurückstellung einer Verfassungsbeschwerde wegen vorrangiger Behandlung von Pilotverfahren gerechtfertigt ist

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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 289/10 - Vz 10/16 -
In dem Verfahren
über
die Verzögerungsbeschwerde
des Herrn N…,
gegen
die Dauer des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 289/10
hat die Beschwerdekammer des Bundesverfassungsgerichts
durch die Richterinnen Baer,
Britz,
den Richter Müller
und die Richterin Kessal-Wulf
am 22. März 2018 beschlossen:
Die Verzögerungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
G r ü n d e :
Die
Verzögerungsbeschwerde
betrifft
die
Dauer
eines
Verfassungsbeschwerdeverfahrens, das die Beschränkung der Abzugsfähigkeit
von Beiträgen zur Rentenversicherung nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a in
Verbindung mit Abs. 3 EStG zum Gegenstand hatte.
I.
Der Beschwerdeführer erhob am 11. Februar 2010 Verfassungsbeschwerde
unmittelbar gegen einen Bescheid des Finanzamts Wunsiedel vom 19. Oktober
2007, ein Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 1. August 2007 und ein Urteil des
Bundesfinanzhofs vom 18. November 2009 sowie mittelbar gegen § 10 Abs. 1 Nr. 2
Buchstabe a in Verbindung mit Satz 2, § 10 Abs. 3 Satz 5 EStG in den seit den
Jahren 2005 (BGBl I 2004 S. 1427) und 2010 (BGBl I 2009 S. 1959) geltenden
Fassungen.
Am 9. März 2014 rügte er die Dauer des Verfahrens beim
Bundesverfassungsgericht. Das Gericht habe seine Verfassungsbeschwerde seit
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mehr als vier Jahren nicht bearbeitet. Eine derart lange Verfahrensdauer sei
unangemessen. Es habe im zuständigen Dezernat seit dem Eingang seiner
Beschwerde mehrere Richterwechsel gegeben. Dies sei ein Umstand, den er nicht
zu vertreten habe. Er habe aufgrund der mit der langen Verfahrensdauer
verbundenen ungewissen Rechtslage jedes Jahr erneut Einspruch gegen seine
Einkommensteuerbescheide einlegen müssen, was für ihn, da er in einer
Steuerkanzlei arbeite, mit einer gewissen Rufschädigung verbunden gewesen sei.
Die 1. Kammer des Zweiten Senats hat die Verfassungsbeschwerde mit
Beschluss vom 13. Juli 2016 nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Beschwerdeführer erhob am 20. Oktober 2016 Verzögerungsbeschwerde. Er
wiederholte seine Ausführungen aus der Verzögerungsrüge und verwies ergänzend
darauf, dass seine Verfassungsbeschwerde erst sechs Jahre und fünf Monate nach
ihrer Erhebung nicht zur Entscheidung angenommen worden sei. Sie habe
grundsätzliche Bedeutung gehabt und sei in der Literatur häufig als Musterverfahren
angeführt worden. Es sei nicht hinnehmbar, dass wichtige Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts derart lange auf sich warten ließen. Den Fachgerichten
würden auch nicht solche großen Zeiträume zur Verfügung stehen, um wichtige
Entscheidungen zu fällen. Er habe das lange Warten auf eine Entscheidung des
Gerichts als äußerst unangenehm empfunden.
Die Berichterstatterin hat am 16. Februar 2017 eine Stellungnahme gemäß § 97d
Abs. 1 BVerfGG abgegeben, in der sie ausführt, bei ihrer Übernahme der
Zuständigkeit als Berichterstatterin für Verfahren aus dem Bereich des
Einkommensteuerrechts im Dezember 2011 seien aus den Jahren 2010 und 2011
sowohl mehrere Verfassungsbeschwerden gegen die neue Besteuerung von
Renten und anderen Alterseinkünften als auch mehrere Verfassungsbeschwerden
anhängig gewesen, mit denen - wie vom Beschwerdeführer - eine unzureichende
steuerliche Entlastung der Vorsorgeaufwendungen nach der Übergangsregelung
und auch nach der endgültigen Rechtslage gerügt worden sei. Nach dem
vorrangigen
Abschluss
älterer
übernommener
Senatsverfahren
zum
Ehegattensplitting habe sie entschieden, zunächst die Verfahren zur Besteuerung
der Alterseinkünfte zum Abschluss zu bringen, da die Beschwerdeführer in diesen
Verfahren teilweise bereits vor 2005 das Rentenalter erreicht hätten und deshalb
ersichtlich auf eine schnellere Entscheidung angewiesen gewesen seien. Die
Leitverfahren 2 BvR 1066/10, 2 BvR 1961/10 und 2 BvR 2683/11 seien durch
Beschlüsse vom 29. und 30. September 2015 mit umfangreicher Begründung
entschieden worden. Von den Verfahren betreffend die Besteuerung der
Vorsorgeaufwendungen habe sie als Leitverfahren die Verfahren 2 BvR 290/10 und
2 BvR 323/10 unter anderem deshalb ausgewählt, weil darin über die vom
Beschwerdeführer aufgeworfenen Fragen hinaus weitere Rechtsfragen im
Zusammenhang mit dem Alterseinkünftegesetz zu entscheiden gewesen seien.
Eine Entscheidung in diesen beiden Verfahren sei durch Beschlüsse vom 14. Juni
2016 wiederum mit umfangreicher Begründung getroffen worden. Anschließend sei
das Verfahren des Beschwerdeführers durch Beschluss vom 13. Juli 2016 unter
Hinweis auf die Begründung im Verfahren 2 BvR 290/10 abgeschlossen worden.
II.
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Die zulässige Verzögerungsbeschwerde ist unbegründet.
1. Nach § 97a Abs. 1 Satz 1 BVerfGG wird angemessen entschädigt, wer infolge
unangemessener Dauer eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht als
Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die Angemessenheit der
Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles unter
Berücksichtigung der Aufgaben und der Stellung des Bundesverfassungsgerichts
(§ 97a Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der
verfassungsrechtlich garantierte Rechtsschutz nur dann im Sinne von Art. 19 Abs. 4
und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG wirksam, wenn er innerhalb
angemessener Zeit gewährt wird (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; 60, 253 <269>; 93,
1 <13>; BVerfG, Beschluss der Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC
26/14 - Vz 1/16 -, juris, Rn. 17). Dem Grundgesetz lassen sich allerdings keine
allgemein gültigen Zeitvorgaben dafür entnehmen, wann von einer überlangen, die
effektive Rechtsgewährung verhindernden und damit unangemessenen
Verfahrensdauer auszugehen ist; dies ist vielmehr eine Frage der Abwägung im
Einzelfall (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des
Ersten Senats vom 20. September 2007 - 1 BvR 775/05 -, NJW 2008, S. 503;
Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Dezember 2010 - 1 BvR
404/10 -, juris, Rn. 11; Beschluss der Beschwerdekammer vom 30. August 2016
- 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -, juris, Rn. 18). Bei dieser Abwägung müssen
insbesondere die Natur des Verfahrens, die Bedeutung der Sache und die
Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit der
Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere von
ihnen zu verantwortende Verfahrensverzögerungen, sowie die gerichtlich nur
begrenzt zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen,
berücksichtigt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der Beschwerdekammer vom 20.
August 2015 - 1 BvR 2781/13 - Vz 11/14 -, NJW 2015, S. 3361 <3362 Rn. 29>;
Beschluss der Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -
, juris, Rn. 18). Dagegen kann sich der Staat nicht auf solche Umstände berufen, die
in seinem Verantwortungsbereich liegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer
des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 - 1 BvR 901/03 -, NVwZ 2004, S. 334
<335>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. September 2009
- 1 BvR 1304/09 -, NZS 2010, S. 381 <382>; Beschluss der 3. Kammer des Ersten
Senats vom 14. Dezember 2010 - 1 BvR 404/10 -, juris, Rn. 11; Beschluss der
Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -, juris, Rn. 18).
Ferner haben die Gerichte auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu
berücksichtigen und sich mit zunehmender Dauer nachhaltig um eine
Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen (vgl. BVerfG, Beschluss der
1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, NJW 2001,
S. 214 <215>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. September
2009 - 1 BvR 1304/09 -, NZS 2010, S. 381 <382>; Beschluss der 2. Kammer des
Ersten Senats vom 7. Juni 2011 - 1 BvR 194/11 -, NVwZ-RR 2011, S. 625 <626>;
Beschluss der Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -
, juris, Rn. 18).
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In vergleichbarer Weise verpflichtet Art. 6 Abs. 1 EMRK nach der Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Konventionsstaaten dazu,
ihr Gerichtswesen so einzurichten, dass die Rechtssachen innerhalb
angemessener Frist entschieden werden können (EGMR, Urteil vom 27. Juli 2000,
Nr. 33379/96, Klein ./. Deutschland, Z. 42, NJW 2001, S. 213; BVerfG, Beschluss
der Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -, juris,
Rn. 19). Darüber, ob die Dauer eines Verfahrens angemessen ist, muss unter
Berücksichtigung der Schwierigkeit des Falles, des Verhaltens des
Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden und Gerichte sowie der
Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer entschieden werden
(EGMR, Urteil vom 2. September 2010, Nr. 46344/06, Rumpf ./. Deutschland, Z. 41,
NJW 2010, S. 3355 <3356>; Urteil vom 21. Oktober 2010, Nr. 43155/08, Grumann
./. Deutschland, Z. 26, NJW 2011, S. 1055 <1056>; BVerfG, Beschluss der
Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -, juris, Rn. 19).
b) Diese für fachgerichtliche Verfahren entwickelten Regeln gelten dem Grundsatz
nach auch für das Bundesverfassungsgericht, das nach Art. 92 GG Teil der
rechtsprechenden Gewalt ist (vgl. BVerfGK 20, 65 <71, 72 ff.>; BVerfG, Beschluss
der Beschwerdekammer vom 20. August 2015 - 1 BvR 2781/13 - Vz 11/14 -, NJW
2015, S. 3361 <3363 Rn. 31>; Beschluss der Beschwerdekammer vom 8.
Dezember 2015 - 1 BvR 99/11 - Vz 1/15 -, DVBl 2016, S. 244 <245>; Beschluss der
Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -, juris, Rn. 20).
Allerdings werden sie gemäß § 97a Abs. 1 Satz 2 BVerfGG durch die Aufgaben und
die Stellung des Bundesverfassungsgerichts mit den daraus folgenden
organisatorischen und verfahrensmäßigen Besonderheiten modifiziert (BVerfG,
Beschluss der Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -
, juris, Rn. 20; vgl. BTDrucks 17/3802, S. 26).
aa) In organisatorischer Hinsicht ist beim Bundesverfassungsgericht, anders als
bei den Fachgerichten, eine Kapazitätsausweitung zur Verkürzung der
Verfahrensdauer als Reaktion auf gesteigerte Eingangszahlen grundsätzlich nicht
möglich, da die Struktur des Gerichts durch seine Funktion bedingt und durch die
Verfassung und das Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgegeben ist (BVerfG,
Beschluss der Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -
, juris, Rn. 21; vgl. BTDrucks 17/3802, S. 26).
bb) Verfahrensmäßige Besonderheiten ergeben sich weiter aus der Aufgabe der
verbindlichen Auslegung der Verfassung (vgl. § 31 BVerfGG), die grundsätzlich in
jedem verfassungsgerichtlichen Verfahren eine besonders tiefgehende und
abwägende Prüfung erfordert. Diese setzt einer Verfahrensbeschleunigung ebenfalls
Grenzen (BVerfG, Beschluss der Beschwerdekammer vom 30. August 2016
- 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -, juris, Rn. 22; vgl. BTDrucks 17/3802, S. 26).
cc) Schließlich kann die Rolle des Bundesverfassungsgerichts es gebieten, bei der
Bearbeitung der Verfahren in stärkerem Maße als in der Fachgerichtsbarkeit andere
Umstände zu berücksichtigen als nur die chronologische Reihenfolge der
Eintragung in das Gerichtsregister, wenn Verfahren für das Gemeinwesen von
besonderer Bedeutung sind oder ihre Entscheidung von dem Ergebnis eines
sogenannten Pilotverfahrens abhängig ist (vgl. BTDrucks 17/3802, S. 26; siehe
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auch BVerfGK 19, 110 <121>; 20, 65 <73>; BVerfG, Beschluss der
Beschwerdekammer vom 20. August 2015 - 1 BvR 2781/13 - Vz 11/14 -, NJW
2015, S. 3361 <3363 Rn. 31>; Beschluss der Beschwerdekammer vom 30. August
2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -, juris, Rn. 23; EGMR, Urteil vom 25. Februar 2000,
Nr. 29357/95, Gast und Popp ./. Deutschland, Z. 75, NJW 2001, S. 211 <212>;
Urteil vom 8. Januar 2004, Nr. 47169/99, Voggenreiter ./. Deutschland, Z. 49, NJW
2005, S. 41 <43>; Urteil vom 6. November 2008, Nr. 58911/00, Leela Förderkreis
e.V. u.a. ./. Deutschland, Z. 63, NVwZ 2010, S. 177 <178>; Urteil vom 4. September
2014, Nr. 68919/10, Peter ./. Deutschland, Z. 40, NJW 2015, S. 3359 <3360>).
dd) Den organisatorischen und verfahrensmäßigen Besonderheiten des
verfassungsgerichtlichen Verfahrens trägt die Vorschrift des § 97b Abs. 1 Satz 4
BVerfGG Rechnung, nach der die Verzögerungsrüge frühestens zwölf Monate nach
Eingang des Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht erhoben werden kann.
Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass beim Bundesverfassungsgericht jedenfalls
eine Verfahrensdauer von einem Jahr keinesfalls als unangemessen anzusehen ist
(BVerfG, Beschluss der Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 -
Vz 1/16 -, juris, Rn. 24; vgl. BTDrucks 17/3802, S. 27).
ee) Auch eine längere Verfahrensdauer ist für sich gesehen nicht ohne Weiteres
unangemessen; hierfür bedarf es jedoch in der Regel besonderer Gründe (vgl.
BVerfG, Beschluss der Beschwerdekammer vom 20. August 2015 - 1 BvR 2781/13
- Vz 11/14 -, NJW 2015, S. 3361 <3363 Rn. 35>; Beschluss der
Beschwerdekammer vom 8. Dezember 2015 - 1 BvR 99/11 - Vz 1/15 -, DVBl 2016,
S. 244 <245>; Beschluss der Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC
26/14 - Vz 1/16 -, juris, Rn. 25). Denn der Gesetzgeber hat bei der Ausarbeitung des
Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011 (BGBl I S. 2302) auf
eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
unangemessen lang im Sinne von § 97a Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist, verzichtet, und
stattdessen maßgeblich auf die Umstände des Einzelfalles unter Berücksichtigung
der sich aus den Aufgaben und der Stellung des Bundesverfassungsgerichts
ergebenden
Besonderheiten
abgestellt
(BVerfG,
Beschluss
der
Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -, juris, Rn. 25;
vgl. BTDrucks 17/3802, S. 26). Auf die Frage, ob eine frühere Erledigung des
Verfahrens möglich gewesen wäre, kommt es nicht an. Bei der Entscheidung
darüber, welches Verfahren aufgrund welcher Maßstäbe als vordringlich
einzuschätzen ist, besteht zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der
Verfassungsrechtsprechung ein erheblicher Spielraum. Eine Überschreitung dieses
Spielraums ist nur anzunehmen, soweit sich nach den maßgeblichen Kriterien
aufdrängt, dass dem Verfahren hätte Vorrang eingeräumt werden müssen (vgl.
BVerfG, Beschluss der Beschwerdekammer vom 20. August 2015 - 1 BvR 2781/13
- Vz 11/14 -, NJW 2015, S. 3361 <3365>; Beschluss der Beschwerdekammer vom
30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -, juris, Rn. 26). Bestimmt das Gericht ein
vorrangig zu betreibendes Pilotverfahren, in dem es Stellungnahmen einholt und
gegebenenfalls eine mündliche Verhandlung durchführt, muss es sich nicht
notwendig um das als erstes eingegangene aus der Menge der ähnlich gelagerten
Verfahren handeln, sondern um das für eine umfassende Entscheidung am
geeignetsten erscheinende (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten
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Senats vom 11. Oktober 2011 - 2 BvR 1010/10 und 2 BvR 1219/10 -, juris, Rn. 32;
Beschluss der Beschwerdekammer vom 1. Oktober 2012 - 1 BvR 170/06 - Vz
1/12 -, juris, Rn. 33). Dabei ist die Angemessenheit dieser Bestimmung aus der ex-
ante-Sicht insbesondere danach zu beurteilen, ob vernünftigerweise erwartet
werden konnte, dass die Auswahl des zu betreibenden Pilotverfahrens und die
Zurückstellung anderer Verfahren der effektiven Erfüllung der Aufgaben des
Bundesverfassungsgerichts unter Berücksichtigung der wohlverstandenen
Interessen
der
jeweils
Beteiligten
dient
(BVerfG,
Beschluss
der
Beschwerdekammer vom 1. Oktober 2012 - 1 BvR 170/06 - Vz 1/12 -, juris, Rn. 33;
vgl. auch Beschlüsse der Beschwerdekammer vom 20. August 2015 - 1 BvR
2781/13 - Vz 11/14 -, juris, Rn. 31 und vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz
1/16 -, juris, Rn. 23).
c) Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt in seiner
Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK an, dass die Verpflichtung, Gerichte so
einzurichten, dass sie Rechtssachen innerhalb angemessener Fristen entscheiden
können, für ein Verfassungsgericht nicht in derselben Weise wie für ein Fachgericht
ausgelegt werden kann. Zwar kann nach dieser Rechtsprechung ein ständiger
Rückstand infolge chronischer Überlastung auch beim Bundesverfassungsgericht
eine überlange Verfahrensdauer nicht rechtfertigen (EGMR, Urteil vom
25. Februar 2000, Nr. 29357/95, Gast und Popp ./. Deutschland, Z. 78, NJW 2001,
S. 211 <212>; Urteil vom 27. Juli 2000, Nr. 33379/96, Klein ./. Deutschland, Z. 29
und 43, NJW 2001, S. 213 <213, 214>; BVerfG, Beschluss der
Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -, juris,
Rn. 27 f.). Indes erfordert es die Rolle eines Verfassungsgerichts, auch andere
Überlegungen zu berücksichtigen als die Zeitfolge, in der Fälle registriert werden,
zum Beispiel die Art der Sache und ihre politische und soziale Bedeutung (EGMR,
Urteil vom 25. Februar 2000, Nr. 29357/95, Gast und Popp ./. Deutschland, Z. 75,
NJW 2001, S. 211 <212>; Urteil vom 8. Januar 2004, Nr. 47169/99, Voggenreiter ./.
Deutschland, Z. 49 und 52, NJW 2005, S. 41 <43>; Urteil vom 6. November 2008,
Nr. 58911/00, Leela Förderkreis e.V. u.a. ./. Deutschland, Z. 63, NVwZ 2010, S. 177
<178>; Urteil vom 22. Januar 2009, Nr. 45749/06 und 51115/06, Kaemena und
Thöneböhn ./. Deutschland, Z. 64, StV 2009, S. 561 <562>; Urteil vom 4. September
2014, Nr. 68919/10, Peter ./. Deutschland, Z. 43, NJW 2015, S. 3359 <3360>;
BVerfG, Beschluss der Beschwerdekammer vom 30. August 2016 - 2 BvC 26/14 -
Vz 1/16 -, juris, Rn. 28).
2. Nach diesen Maßstäben ist die Dauer des Verfahrens des Beschwerdeführers
von sechs Jahren und fünf Monaten unter Beachtung der Besonderheiten des
konkreten Falls nicht als unangemessen lang zu beanstanden.
a) Es begegnet keinen Bedenken, dass die Berichterstatterin entschieden hat, die
Bearbeitung der in Rede stehenden Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf die von
ihr ausgewählten Pilotverfahren 2 BvR 290/10 und 2 BvR 323/10 zurückzustellen.
Diese Pilotverfahren wiesen über die vom Beschwerdeführer aufgeworfenen
Rechtsfragen noch weitere Probleme im Zusammenhang mit dem
Alterseinkünftegesetz auf. Das Verfahren des Beschwerdeführers wurde innerhalb
eines Monats nach Beendigung der Pilotverfahren abgeschlossen. Angesichts der
rechtlichen Zusammenhänge zwischen den Verfahren sowie der zeitnahen
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Erledigung nach Beendigung der Pilotverfahren kann allein wegen der
Zurückstellung der Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers nicht von einer
unangemessenen Dauer des Verfahrens im Sinne des § 97a Abs. 1 BVerfGG
ausgegangen werden.
b) Auch die Verfahrensdauer der Pilotverfahren von sechs Jahren und vier
Monaten erscheint im Ergebnis nicht unangemessen. Besondere Gründe, die nach
den dargelegten Maßstäben zur Unangemessenheit einer längeren Verfahrensdauer
führen können, bestehen vorliegend nicht. Zwar können die bei der Bearbeitung und
Erledigung der im zuständigen Dezernat anhängigen Verfahren durch
Richterwechsel verursachten zeitlichen Verzögerungen die ungewöhnlich lange
Verfahrensdauer allein nicht rechtfertigen. Diese liegen im Verantwortungsbereich
des Staates und können daher im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung
- wie ausgeführt - nicht zur Begründung der Angemessenheit der Verfahrensdauer
herangezogen werden. Jedoch sprechen die besonderen Umstände im Dezernat
der Berichterstatterin gegen eine Unangemessenheit der Dauer des in Rede
stehenden Verfahrens. Dort waren im Dezember 2011 mehrere das
Einkommensteuerrecht betreffende Verfassungsbeschwerden anhängig, die sich in
einem hohen Maß als arbeitsintensiv erwiesen haben. Die zeitliche Abfolge ihrer
Bearbeitung ist nicht zu beanstanden.
aa) Die 1. Kammer des Zweiten Senats, der die Berichterstatterin zu diesem
Zeitpunkt angehörte, hat mit Beschlüssen vom 29. September 2015 (2 BvR
2683/11, juris) und 30. September 2015 (2 BvR 1066/10, juris; 2 BvR 1961/10, juris)
drei Fälle entschieden, die die Besteuerung von Renteneinkünften betrafen.
(1) Zur Entscheidung des Verfahrens 2 BvR 2683/11 hatte die Kammer
insbesondere zu klären, ob die Vorschriften des Alterseinkünftegesetzes zu einer
sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung der Alterseinkünfte von
Selbständigen im Verhältnis zu nichtselbständig Tätigen führen. Die Kammer hatte
ferner darüber zu entscheiden, ob die angegriffene gesetzliche Regelung eine
verfassungswidrige Doppelbesteuerung zur Folge hatte und ob der mit dem Gesetz
vollzogene Übergang zur nachgelagerten Besteuerung von Renteneinkünften gegen
das Rückwirkungsverbot verstieß.
(2) Zur Entscheidung des Verfahrens 2 BvR 1066/10 hatte sich die Kammer damit
auseinanderzusetzen, ob die betroffenen Regelungen des Alterseinkünftegesetzes
zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung der Alterseinkünfte des
dortigen Beschwerdeführers im Verhältnis zu Pflichtversicherten oder den
Beziehern einer privaten Rente oder zu einer Verletzung der Eigentumsgarantie
führen würden. Sie ging zudem den Rechtsfragen nach, ob in der diesem Verfahren
zugrundeliegenden Konstellation der mit dem Alterseinkünftegesetz vollzogene
Übergang zur nachgelagerten Besteuerung unter den Gesichtspunkten des Verbots
der doppelten Besteuerung, des rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutzes und
des Rückwirkungsverbots zu beanstanden sei.
(3) Im Verfahren 2 BvR 1961/10 hatte die Kammer zu klären, ob die
Nichteinbeziehung fiktiver Beiträge eines Beamten zu seiner Altersversorgung in die
Höchstbeitragsberechnung des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a Doppelbuchstabe bb
Satz 2 EStG gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt und die Ungleichbehandlung der
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Rente des Beschwerdeführers aus der Ärzteversorgung mit solchen privater
Rentenversicherungen sachlich gerechtfertigt ist. Zudem setzte sich die Kammer
- wie in den vorstehend geschilderten Fällen - mit dem Verbot der
Doppelbesteuerung auseinander.
bb) Mit Beschlüssen vom 14. Juni 2016 (2 BvR 290/10, juris; 2 BvR 323/10, juris)
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats über zwei Verfassungsbeschwerden
entschieden, die die steuermindernde Geltendmachung des Arbeitnehmeranteils zur
gesetzlichen Rentenversicherung zum Gegenstand hatten.
(1) Im Verfahren 2 BvR 290/10 hatte sich die Kammer mit der Frage zu befassen,
ob die Regelung des § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a in Verbindung mit Abs. 3 EStG
mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar ist. Dabei prüfte sie zunächst,
ob der Gesetzgeber Altersvorsorgeaufwendungen überhaupt als Sonderausgaben
qualifizieren darf oder ob er diese nicht als vorweggenommene Werbungskosten
behandeln muss. Zudem stand zur Überprüfung, ob die vorgesehene höhenmäßige
Beschränkung des Sonderausgabenabzugs für Altersvorsorgeaufwendungen
gemäß § 10 Abs. 3 Sätze 1 und 2 EStG verfassungsrechtlich zu beanstanden ist.
Weiterhin musste die Kammer klären, ob nach Maßgabe des Verbots der
Doppelbesteuerung die höhenmäßige Beschränkung des Sonderausgabenabzugs
für Altersvorsorgeaufwendungen schon in der Vorsorgephase verfassungsrechtlich
gerügt werden kann, wenn der Gesetzgeber in der endgültigen Ausgestaltung des
Alterseinkünftegesetzes zugleich den Besteuerungsanteil für Renten im Sinne von
§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa EStG auf 100 % festgesetzt hat.
Ferner galt es die Rechtsfrage zu entscheiden, ob die beschränkte Abziehbarkeit
der Altersvorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 3 Sätze 1 und 2 EStG gegen das
aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG abzuleitende subjektive
Nettoprinzip (Gebot der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums)
verstößt. Im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Überprüfung der
Übergangsregelung des § 10 Abs. 3 Sätze 4 bis 6 EStG befasste sich die Kammer
damit, ob Ungleichbehandlungen, die mit der unvollständigen Abstimmung des
Umfangs der abziehbaren Altersvorsorgeaufwendungen mit dem voraussichtlichen
Besteuerungsanteil der künftigen Rentenzuflüsse entstehen, für die Übergangszeit
- bis zur Grenze einer verbotenen Doppelbesteuerung - verfassungsrechtlich
hinnehmbar sind. Weiterhin überprüfte das Bundesverfassungsgericht, ob die
gesetzliche Neuregelung zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung im
Verhältnis zu Beamten oder Selbständigen führt.
(2) Auch zur Entscheidung des Verfahrens 2 BvR 323/10 hatte sich die Kammer
mit der Verfassungsmäßigkeit der Qualifizierung von Altersvorsorgeaufwendungen
als Sonderausgaben anstatt als vorweggenommene Werbungskosten, der
höhenmäßigen
Beschränkung
des
Sonderausgabenabzugs
für
Altersvorsorgeaufwendungen und der Übergangsregelung des § 10 Abs. 3 Sätze 4
bis 6 EStG zu befassen. Darüber hinaus unterzog es die Regelung des § 39a Abs. 1
EStG
einer
verfassungsrechtlichen
Überprüfung,
wonach
für
Altersvorsorgeaufwendungen kein Freibetrag auf der Lohnsteuerkarte eingetragen
werden kann.
cc) Aufgrund der besonderen persönlichen Betroffenheit der Beschwerdeführer in
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den die Besteuerung von Renteneinkünften betreffenden Verfahren 2 BvR 2683/11,
2 BvR 1066/10 und 2 BvR 1961/10 ist es nicht zu beanstanden, dass die
Berichterstatterin zunächst diesen Verfahrenskomplex zum Abschluss gebracht
hat. Denn diese Beschwerdeführer hatten bereits das Rentenalter erreicht. Sie
waren daher - wie zahlreiche andere Rentenempfänger, die nicht selbst gegen die
Besteuerung ihrer Alterseinkünfte vorgingen - viel stärker von der gesetzlichen
Neuregelung betroffen als diejenigen, bei denen nur die Abzugsfähigkeit von
Altersvorsorgeaufwendungen in Streit stand. Es sprachen daher gute Gründe dafür,
zunächst die damit zusammenhängenden verfassungsrechtlichen Fragen zu klären.
Denn die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Hüter der Verfassung kann es
gebieten, zunächst solche Verfahren zu bearbeiten, die für das Gemeinwesen von
besonderer Bedeutung sind (vgl. BVerfG, Beschluss der Beschwerdekammer vom
30. August 2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -, juris, Rn. 23 m.w.N.).
c) Der gesamte Komplex der Besteuerung von Alterseinkünften hatte zudem eine
herausragende gesellschaftliche Bedeutung, weil davon ein Großteil der in
Deutschland lebenden und Steuern zahlenden Menschen betroffen war oder
betroffen sein wird. Daher erscheinen gerade für die in diesem Zusammenhang zu
klärenden komplexen Rechtsfragen längere Bearbeitungszeiten unvermeidbar und
im Hinblick auf die besondere Bedeutung von Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts auch grundsätzlich hinnehmbar. Dies gilt auch mit Blick
auf die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts zur verbindlichen Auslegung des
Grundgesetzes (vgl. § 31 BVerfGG), die in der Regel in jedem
verfassungsgerichtlichen Verfahren eine besonders tiefgehende und abwägende
Prüfung erfordert (vgl. BVerfG, Beschluss der Beschwerdekammer vom 30. August
2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 -, juris, Rn. 22).
d) Zu berücksichtigen ist ferner, dass - wie bereits dargelegt - beim
Bundesverfassungsgericht,
anders
als
bei
den
Fachgerichten,
eine
Kapazitätsausweitung zur Verkürzung der Verfahrensdauer als Reaktion auf
gesteigerte Eingangszahlen grundsätzlich nicht möglich ist. Der hohen Belastung
des Dezernats der Berichterstatterin mit umfangreichen und arbeitsaufwendigen
steuerrechtlichen Verfahren konnte daher auch nicht kurzfristig durch eine
personelle Aufstockung des Bundesverfassungsgerichts mit weiteren Richtern
begegnet werden. Vor diesem Hintergrund und aufgrund des Umstands, dass sich
die Bearbeitung der im zuständigen Dezernat anhängigen Verfahren als besonders
zeitaufwändig erwiesen hat, erscheint die Dauer der Bearbeitung der Pilotverfahren
noch angemessen.
Baer
Britz
Müller
Kessal-Wulf