Urteil des BVerfG vom 23.02.2010

BVerfG: angemessene entschädigung, anspruch auf rechtliches gehör, faires verfahren, persönliche freiheit, grundstück, beweisantrag, verkehrswert, öffentliche gewalt, vorwirkung, verfassungsbeschwerde

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2736/08 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. des Herrn M…,
2. der Frau M…,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Tobias Böhmke,
Kanzowstraße 3 A, 10439 Berlin -
gegen
a)
den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. August 2008 - BVerwG 4 A
1001.08 (4 A 1025.06) -,
b)
den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Juli 2008 - BVerwG 4 A
1025.06 (4 A 1010.04) -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Bryde,
Schluckebier
am 23. Februar 2010 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Juli 2008 - BVerwG 4 A 1025.06 (4 A 1010.04) - verletzt
die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 14 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird
aufgehoben. Die Sache wird an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.
2. Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. August 2008 - BVerwG 4 A 1001.08 (4 A 1025.06) -
wird für gegenstandslos erklärt.
3. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
4. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 145.000 € (in Worten:
einhundertfünfundvierzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft Gerichtsentscheidungen, die die im Planfeststellungsbeschluss für den Ausbau
des Verkehrsflughafens Berlin-Schönefeld festgesetzte Entschädigung bei der Übernahme eines Grundstücks zum
Gegenstand haben.
2
1. a) Die Beschwerdeführer bewohnen ein in ihrem Eigentum stehendes Hausgrundstück auf der Gemarkung von
M…, das nach ihren Angaben unmittelbar am Flughafenumgriff und im Zentrum der Einflugschneise der neuen
Startbahn Süd des geplanten Flughafens Berlin-Schönefeld liegt. Wegen der prognostizierten starken Lärmbelastung
mit einem Dauerschallpegel von 71,6 dB(A) tags und 65,6 dB(A) nachts sowie einer Überschreitungshäufigkeit des
Maximalpegels von 70 dB(A) während der Nacht von 29,3 befindet es sich innerhalb des im
Planfeststellungsbeschluss vom 13. August 2004 festgesetzten Entschädigungsgebietes „Übernahmeanspruch“.
Unter Teil A II 5.1.6 Nr. 1 heißt es dort:
3
Die Träger des Vorhabens haben auf Antrag des Eigentümers eines innerhalb des
Entschädigungsgebietes Übernahmeanspruch gelegenen Grundstücks, das am 15.05.2000 mit
Wohngebäuden bebaut oder bebaubar war, eine Entschädigung in Höhe des Verkehrswertes
gegen Übereignung des Grundstücks zu leisten. Der Verkehrswert des Grundstücks ist zum
Stichtag der Geltendmachung des Anspruchs zu ermitteln.
4
Die Beschwerdeführer erhoben im Verwaltungsverfahren Einwendungen wegen der Wertminderung ihres
Grundstücks und anschließend Klage zum Bundesverwaltungsgericht. Am 16. November 2004 beantragten sie die
Übernahme ihres Grundstücks.
5
Da gegen den Planfeststellungsbeschluss von nahezu 4.000 Personen ebenfalls Klage erhoben worden war, machte
das erstinstanzlich zuständige Bundesverwaltungsgericht von der ihm durch § 93a Abs. 1 VwGO eröffneten
Möglichkeit Gebrauch, vorab Musterverfahren durchzuführen und die übrigen Verfahren auszusetzen. Das
Klageverfahren der Beschwerdeführer wurde nicht als Musterverfahren ausgewählt und daher nach § 93a Abs. 1
VwGO ausgesetzt. Über die Musterklagen wurde vom Bundesverwaltungsgericht durch Urteile vom 16. März 2006
entschieden (vgl. insbesondere BVerwGE 125, 116). Darin wurden die Anfechtungsklagen abgewiesen; die hilfsweise
erhobenen Anträge auf Planergänzung hatten, soweit es um besseren Lärmschutz ging, teilweise Erfolg. Unter
anderem wurde der Beklagte verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über eine
weitergehendere Einschränkung des Nachtflugbetriebs zu entscheiden.
6
Nach Zustellung dieser Musterentscheidungen wurde das Verfahren der Beschwerdeführer fortgeführt. Dort machten
die Beschwerdeführer geltend, ihnen stehe aus dem Rechtsgedanken des § 74 Abs. 2 Satz 3
Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Brandenburg in der bis zum 16. Juli 2009 geltenden Fassung der
Bekanntmachung vom 9. März 2004 (VwVfGBbg 2004, GVBl I S. 78; siehe nun § 1 des
Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Brandenburg vom 7. Juli 2009 sowie § 74 VwVfG des
Bundes) in Verbindung mit dem Aufopferungsgewohnheitsrecht ein Anspruch auf angemessene Entschädigung gegen
Übernahme ihres Wohngrundstücks durch die Vorhabenträger zu. Die Höhe der Entschädigung sei entgegen der
Stichtagsregelung des Planfeststellungsbeschlusses nach dem Verkehrswert ihres Grundstücks zu einem Zeitpunkt
vor Erlass des Planfeststellungsbeschlusses am 13. August 2004 zu bemessen und müsse die bereits vor diesem
Zeitpunkt eingetretene erhebliche Wertminderung berücksichtigen, die ursächlich auf den geplanten Flughafenausbau
zurückzuführen sei. Aufgrund der Nähe zum geplanten Flughafen habe sich der Verkehrswert ihres Grundstücks
zwischen dem Jahr 1996 und dem November des Jahres 2004 um 50 bis 60 % gemindert. Hierüber solle ein
Sachverständigengutachten erhoben werden. In dieser Situation liege eine situationsbedingte Sonderentwicklung, die
ihren Fall von den Fällen, die durch die Musterurteile vom 16. März 2006 entschieden worden seien, in tatsächlicher
Hinsicht wesentlich unterscheide. Nach Aufnahme des Flugbetriebs auf der neuen Südbahn werde ihr Grundstück in
schwerer und unerträglicher Weise von Immissionen betroffen sein, so dass eine Wohnnutzung ausscheide.
7
b) Die Klage der Beschwerdeführer wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 2. Juli 2008
abgewiesen (BVerwG 4 A 1025.06 <4 A 1010.04>, NVwZ 2008, S. 1113). Zur Begründung führte das
Bundesverwaltungsgericht aus, über den Antrag der Kläger, den Stichtag für die Ermittlung des Verkehrswertes
vorzuziehen, sei der Sache nach bereits im Rahmen der Musterklagen entschieden worden. Der Senat sei einstimmig
der Auffassung, dass die Sache gegenüber den Musterverfahren keine wesentlichen Besonderheiten tatsächlicher
oder rechtlicher Art aufweise.
8
aa) Dies gelte zunächst hinsichtlich der Grundlage des geltend gemachten Anspruchs. Nach § 74 Abs. 2 Satz 2
VwVfGBbg 2004 habe die Planfeststellungsbehörde den Trägern des Vorhabens Vorkehrungen oder die Errichtung
und Unterhaltung von Anlagen aufzuerlegen, die zum Wohl der Allgemeinheit oder zur Vermeidung nachteiliger
Wirkungen auf Rechte anderer erforderlich seien. Satz 3 der Vorschrift bestimme, dass der Betroffene Anspruch auf
angemessene Entschädigung in Geld habe, wenn solche Vorkehrungen oder Anlagen untunlich oder mit dem
Vorhaben unvereinbar seien. Der Entschädigungsanspruch setze voraus, dass (weitere) Schutzvorkehrungen nicht
vorgenommen werden könnten, weil sich technisch-reale Maßnahmen als unzureichend oder angesichts der Höhe
ihrer Kosten als unverhältnismäßig erwiesen oder weil sich die Beeinträchtigungen durch geeignete Maßnahmen
überhaupt nicht verhindern ließen. Der Entschädigungsanspruch sei ein Surrogat für nicht realisierbare
Schutzmaßnahmen. Hinsichtlich des Grundstücks der Beschwerdeführer sei der Beklagte zutreffend davon
ausgegangen, dass Schutzvorkehrungen untunlich seien. Es könnten nur die Innenräume gegen unzumutbare
Lärmeinwirkungen geschützt werden. Zum Wohnen gehöre jedoch auch eine angemessene Nutzung der
Außenwohnanlagen. Diesbezüglich sei eine Beschränkung der Lärmeinwirkungen auf das zumutbare Maß nicht
möglich.
9
§ 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004 schließe nicht nur eine Entschädigung für die Beeinträchtigung der
Außenbereiche, sondern je nach Art und Intensität der Fluglärmimmissionen auch einen Anspruch auf Übernahme
betroffener Grundstücke zum Verkehrswert gegen Übertragung des Eigentums ein. Die Auffassung der
Beschwerdeführer, der von ihnen geltend gemachte Anspruch falle nicht in den unmittelbaren Anwendungsbereich von
§ 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004, er sei vielmehr aus dem Rechtsgedanken der Vorschrift in Verbindung mit dem
Aufopferungsgewohnheitsrecht zu entwickeln, werde der rechtlichen Tragweite des Entschädigungsanspruchs aus
§ 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg nicht gerecht. Die Vorschriften, die den in der Folge einer luftverkehrsrechtlichen
Planfeststellung auf einem Wohngrundstück hinzunehmenden Fluglärm regelten, seien Inhalts- und
Schrankenbestimmungen nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG.
10
bb) Die Stichtagsregelung des Planfeststellungsbeschlusses, wonach sich der Anspruch auf eine „angemessene
Entschädigung“ aus § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg nach der Höhe des Verkehrswertes des Grundstücks zum
Zeitpunkt der Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs richte, sei vom Bundesverwaltungsgericht im
Musterurteil vom 16. März 2006 als rechtlich einwandfrei angesehen worden. Die dagegen erhobenen Einwände ließen
keine tatsächlichen oder rechtlichen Besonderheiten erkennen, die ein anderes Ergebnis rechtfertigten.
11
Entgegen dem Vorbringen der Beschwerdeführer verletze sie die vom Bundesverwaltungsgericht gebilligte
Stichtagsregelung für die Verkehrswertermittlung nicht in ihrem Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG.
Zurückzuweisen sei zunächst die Kritik der Beschwerdeführer, das Bundesverwaltungsgericht habe in seinem Urteil
vom 16. März 2006 zur Auslegung von § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004 den Standpunkt vertreten, der
Verkehrswert eines Übernahmegrundstücks sei zum Stichtag der Aufnahme des Betriebes des Flughafens zu
ermitteln. Der Senat habe aus dem Regelungszweck - der Surrogatfunktion - des Entschädigungsanspruchs aus § 74
Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004 abgeleitet, dass als Stichtag für die Ermittlung des Verkehrswertes frühestens der
Erlass des Planfeststellungsbeschlusses und spätestens der Zeitpunkt in Betracht komme, zu dem der Flughafen in
seiner planfestgestellten Form in Betrieb genommen werde. Danach stehe der Planfeststellungsbehörde bei der
Stichtagsregelung ein Gestaltungsspielraum zu. Bei seiner Ausfüllung habe sie die schutzwürdigen Interessen der
lärmbetroffenen Grundstückseigentümer und Anwohner einerseits und die der Vorhabenträger andererseits in einen
gerechten Ausgleich und ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Das seien verfassungsrechtliche Vorgaben, welche
die Planfeststellungsbehörde bei der Auslegung und Anwendung eigentumsbestimmender Normen nicht außer Acht
lassen dürfe. Die Stichtagsregelung genüge diesen Anforderungen. Sie knüpfe nicht an die Inbetriebnahme des
Flughafens an, sondern zugunsten der betroffenen Grundeigentümer an den Zeitpunkt der Geltendmachung des
Entschädigungsanspruchs nach Erlass des Planfeststellungsbeschlusses.
12
Eine Vorverlegung des Stichtags in der von den Beschwerdeführern geforderten Weise sei aus Gründen des
Eigentumsschutzes nicht geboten. Vor Abschluss des Planfeststellungsverfahrens lasse sich noch nicht sicher
abschätzen, ob das Vorhaben überhaupt so wie geplant und mit allen Konsequenzen, die sich aus der planerischen
Konzeption ergeben, in die Tat umgesetzt werden könne und solle.
13
Dem Beweisantrag der Beschwerdeführer, zu ihrer Behauptung einer 50%igen Minderung des Verkehrswertes des
streitbefangenen Grundstücks zwischen 1996 und dem 16. November 2004 Beweis durch Einholung eines
Verkehrswertgutachtens eines Sachverständigen zu erheben, könne nicht stattgegeben werden. Nach der aus den
vorstehenden Gründen nicht zu beanstandenden Stichtagsregelung sei der Verkehrswert des Grundstücks vor Erlass
des Planfeststellungsbeschlusses vom 13. August 2004 für die Höhe der nach § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004
zu leistenden Entschädigung nicht maßgeblich. Tatsachen, die nach der materiellrechtlichen Auffassung eines
Tatrichters nicht entscheidungserheblich seien, bedürften keines Sachverständigenbeweises.
14
c) Die Beschwerdeführer erhoben daraufhin Anhörungsrüge, die durch Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts
vom 19. August 2008 zurückgewiesen wurde (BVerwG 4 A 1001.08 <4 A 1025.06>, juris).
15
2. Die Beschwerdeführer haben am 13. August 2008 gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 2.
Juli 2008 Verfassungsbeschwerde erhoben. Am 6. Oktober 2008 haben sie den Anhörungsrügebeschluss vom
19. August 2008 in die Verfassungsbeschwerde einbezogen. Sie rügen die Verletzung von Art. 14 Abs. 1, Art. 3 Abs.
1, Art. 103 Abs. 1 sowie Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
16
Zur Begründung der Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG bringen sie vor, die Rechtsauffassung des
Bundesverwaltungsgerichts sei mit der Bestands- und Wertgarantie des Art. 14 GG nicht in Einklang zu bringen. Ihr
Grundstück sei aufgrund der planfestgestellten Start- und Landebahn zu Wohnzwecken nicht mehr nutzbar. Es werde
vollständig entwertet. Die Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts habe zur Folge, dass sie eine
Wertminderung von 50 % selbst tragen müssten. Dies sei ein Sonderopfer. Sie seien nicht in der Lage, mit der
Entschädigung an anderer Stelle vergleichbares Wohneigentum zu erwerben.
17
Die angegriffene Entscheidung verletze auch Art. 3 Abs. 1 GG. Sie behandele wesentlich Gleiches ungleich. Würde
ihr Grundstück der Enteignung unterliegen, erhielten sie auf der Grundlage der Vorwirkungsrechtsprechung des
Bundesgerichtshofs eine angemessene Entschädigung.
18
Die Entscheidungen verletzten auch Art. 103 Abs. 1 GG. Ergänzend zu den Ausführungen im
Anhörungsrügeverfahren sei vorzutragen, dass bei der Auslegung von § 93a Abs. 2 VwGO grundrechtlich geschützte
Positionen eine Rolle spielten. Daher hätte eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden müssen. Das
Bundesverwaltungsgericht bleibe hinter der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Aufopferungsanspruch
zurück. Zudem sei der Sachverhalt nicht geklärt gewesen. Weiter hätte entsprechend § 86 Abs. 2 VwGO vorab über
den Beweisantrag entschieden werden müssen. Schließlich bleibe es dabei, dass das Bundesverwaltungsgericht ihr
zentrales Argument verdreht habe. Der vom Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesene Standpunkt habe sich an der
betreffenden Stelle des Schriftsatzes nicht gefunden.
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3. Die Gerichtsakten des Ausgangsverfahrens und Teile der Verwaltungsakten sind beigezogen worden.
20
4. Der Bundesregierung, den Beteiligten des Ausgangsverfahrens sowie dem Präsidenten des Bundesgerichtshofs
ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Die Bundesregierung hat auf eine Stellungnahme verzichtet.
21
a) Die im Ausgangsverfahren beigeladene Flughafengesellschaft hat durch ihren Prozessbevollmächtigten im
Wesentlichen wie folgt Stellung genommen: Das Bundesverwaltungsgericht habe in der angegriffenen Entscheidung
bei der Anwendung des § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004 die sich aus Art. 14 Abs. 1 GG ergebenden Vorgaben
nicht grundsätzlich verkannt. Gegen die konkrete Bestimmung des Wertermittlungsstichtags als Tag der
Antragstellung bestünden verfassungsrechtlich keine durchgreifenden Bedenken.
22
Die vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätze der Vorwirkung einer nachfolgenden Enteignung seien auf den
hier vorliegenden Fall der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung nicht anzuwenden. Durch die
Fluglärmimmissionen werde lediglich die Wohnnutzung des Grundstücks unzumutbar. Dem Eigentümer verbleibe jede
andere lärmunempfindliche Möglichkeit zur Nutzung seines Grundstücks, etwa eine gewerbliche. Würde der Inhaber
eines Übernahmeanspruchs mit dem Enteignungsbetroffenen gleichgestellt, würde die entschädigungslos
hinzunehmende Sozialbindung leer laufen.
23
b) Für das im Ausgangsverfahren beklagte Land Brandenburg hat der Prozessbevollmächtigte vorgetragen, die
Planfeststellungsbehörde habe die Vorgaben des Art. 14 Abs. 1GG nicht grundsätzlich verkannt. Das
Bundesverwaltungsgericht habe zu Recht die Grundsätze der enteignungsrechtlichen Vorwirkung nicht angewandt.
Wie bei Lärmeinwirkungen, die von einer Straße ausgingen, sei der Zeitpunkt maßgeblich, in dem die
Lärmeinwirkungen die Enteignungsschwelle überschritten. Dies sei beim Flughafen Berlin-Schönefeld erst nach
Inbetriebnahme des Flughafens gegeben.
24
Eine Wertminderung von 20 %, wie sie von der Planfeststellungsbehörde für die betroffenen Gemeinden
angenommen worden sei, sei verfassungsrechtlich hinnehmbar. Die fehlende Entschädigungspflicht einer solchen
Minderung sei Bestandteil der planungsrechtlichen Abwägung gewesen und dort von der Planfeststellungsbehörde
behandelt und vom Bundesverwaltungsgericht überprüft worden. Hiergegen hätten sich die Beschwerdeführer jedoch
nicht gewandt. Die von ihnen angegriffene Stichtagsregelung sei nicht ursächlich für die Wertminderung. Die
Verfassungsbeschwerde verkenne, dass die angegriffene Regelung die Privatnützigkeit und die grundsätzliche
Verfügungsbefugnis des Eigentümers über das Grundstück unberührt lasse. Der Übernahmeanspruch sei ein Recht
der Beschwerdeführer, das sie nicht ausüben müssten. Wenn sie von dem Übernahmeanspruch keinen Gebrauch
machten, könnten die Beschwerdeführer passiven Schallschutz sowie eine Entschädigung für den Außenwohnbereich
erhalten. Die private Verfügungsbefugnis und Privatnützigkeit werde durch die Lärmbelastung nicht ausgeschlossen.
Das Grundstück könne zu anderen Zwecken genutzt werden, etwa als Büro. Abgesehen davon könne der Wert des
Grundstücks auch aufgrund einer Nachfrage nach gewerblich nutzbaren Grundstücken wegen der Flughafennähe
steigen. Daher sei es angemessen, die Entschädigung nach dem Verkehrswert im Zeitpunkt des
Übernahmeverlangens zu bestimmen.
25
c) Für den Präsidenten des Bundesgerichtshofs hat der Vizepräsident und Vorsitzende des für Fragen des
Enteignungs- und Entschädigungsrechts allein zuständigen III. Zivilsenats wie folgt Stellung genommen: Allgemein
sei zur „Vorwirkungsrechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs zu bemerken, dass bei der förmlichen Enteignung eines
Grundstücks, der häufig ein (bestands- bzw. rechtskräftig gewordenes) Planfeststellungsverfahren zugrunde liege, bei
der Bemessung der Enteignungsentschädigung der Zeitpunkt der Qualitätsbestimmung (Bauland, Bauerwartungsland,
Ackerland etc.) und der Zeitpunkt der Preisbemessung zu unterscheiden seien. Der Qualitätsstichtag sei dabei
grundsätzlich der Erlass des Enteignungsbeschlusses, da hierdurch der Zugriff auf das Grundstück erfolge und somit
darüber entschieden werde, was dem Betroffenen genommen werde und wofür er zu entschädigen sei (vgl. etwa § 93
Abs. 4 BauGB).
26
Für die Ermittlung des Qualitätsstichtags könne jedoch, um eine möglichst „marktgerechte“ Entschädigung zu
erzielen, auch ein früherer Zeitpunkt maßgeblich sein, insbesondere wenn ein Grundstück Gegenstand eines sich über
längere Zeit hinziehenden „Enteignungsprozesses“ sei. In solchen Fällen könnten an die Stelle des
Enteignungsbeschlusses andere Maßnahmen treten, wie Bauverbote, Veränderungssperren, verbindliche oder (sogar)
vorbereitende Planungen. Entscheidend sei dabei jeweils, dass sich aufgrund der Umstände des konkreten
Entschädigungsfalles feststellen lasse, dass mit dem Ergreifen dieser Maßnahme eine Weiterentwicklung des
Objekts, insbesondere der Qualität des Grundstücks, verhindert worden, also das Grundstück endgültig von jeder
konjunkturellen Weiterentwicklung ausgeschlossen worden sei. Voraussetzung dabei sei, dass die Maßnahme mit der
späteren Entziehung des Eigentums in ursächlichem Zusammenhang stehe, hinreichend bestimmt sei und die spätere
verbindliche Planung, die dann zur Enteignung führe, mit Sicherheit erwarten lasse. Ob (und ab wann) die
Voraussetzungen für eine Vorwirkung im Einzelfall gegeben seien, sei weitgehend eine Frage tatrichterlicher
Würdigung (vgl. BGHZ 141, 319 <321>; Urteil vom 19. Juli 2007 - III ZR 305/06 -, ZfBR 2007, S. 788). In seiner
jüngsten Entscheidung zu diesem Problemkreis habe der III. Zivilsenat die tatrichterliche Würdigung des
Berufungsgerichts nicht beanstandet, das in der Bekanntgabe der Linienführung einer Bundesfernstraße nach § 16
Abs. 1 FStrG die maßgebliche „Vorwirkungsmaßnahme“ für ein in der Trasse der künftigen Bundesautobahn liegendes
Grundstück gesehen hatte (vgl. Beschluss vom 27. Mai 2009 - III ZR 285/08 -, juris). Dem vergleichbar habe der
Senat etwa auch die Würdigung eines Berufungsgerichts hingenommen, die Ausweisung einer Bundesfernstraße im
Flächennutzungsplan vor der Planfeststellung erfülle die Voraussetzungen der Vorwirkung (vgl. Urteil vom 26. Januar
1978 - III ZR 184/75 -, DVBl 1978, S. 378 <379>).
27
Im Gesamtzusammenhang mit dieser Rechtsprechung seien auch die Senatsurteile zu sehen, in denen die
Auslegung der Pläne in einem Planfeststellungsverfahren als maßgeblicher Zeitpunkt für die Ermittlung des
Grundstückszustands in Rede gestanden habe (vgl. BGHZ 98, 341; BGH, Urteil vom 10. März 1977 - III ZR 195/74 -,
WM 1977, 624; weiter: BGHZ 87, 66 und BGH, Urteil vom 3. März 1983 - III ZR 94/81 -, VBlBW 1984, S. 33). In
diesen Fällen habe der Senat entweder die Auffassung der Vorinstanzen gebilligt, die Planauslegung sei der
maßgebliche „Vorwirkungszeitpunkt“, oder aber diese Maßnahmen als möglichen „Vorwirkungszeitpunkt“
angesprochen. Dementsprechend könne diese Rechtsprechung nicht dahin (über-)interpretiert werden, in förmlichen
Enteignungsverfahren, denen ein Planfeststellungsverfahren vorausgehe, sei typischerweise oder auch nur
vorzugsweise die Planauslegung der für die Qualitätsbemessung maßgebliche Akt.
28
Was das Haftungsinstitut des enteignenden Eingriffs angehe, so sei hierzu allgemein zu bemerken: Dieses
Rechtsinstitut sei in der Rechtsprechung des III. Zivilsenats seit langem anerkannt; es finde seine Grundlage im
allgemeinen Aufopferungsgedanken der §§ 74, 75 EinlALR. Ansprüche danach kämen nur in Betracht, wenn an sich
rechtmäßige hoheitliche Maßnahmen bei einem Betroffenen zu - meist atypischen und unvorhergesehenen -
Nachteilen führten, die er aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen hinnehmen müsse, die aber die Schwelle des
enteignungsrechtlich Zumutbaren überstiegen.
29
Aufgrund eines enteignenden Eingriffs stehe dem Betroffenen eine Entschädigung zu, deren Höhe sich nach den
allgemeinen Grundsätzen für die Bemessung einer Enteignungsentschädigung richte. Demnach bestimme sich etwa
der (Qualitäts-)Stichtag für die Bemessung der Entschädigung für die Wertminderung eines Grundstücks durch
Verkehrslärm grundsätzlich nach dem Zeitpunkt des Eingriffs. Das sei bei Lärmimmissionen der Zeitpunkt, in dem die
Lärmeinwirkungen die Enteignungsschwelle überstiegen (vgl. BGHZ 97, 361 <370 f.>; 129, 124 <136>).
30
Der Senat habe - soweit ersichtlich - noch nicht zu der Frage Stellung genommen, ob die Grundsätze der Vorwirkung
auch bei der Ermittlung der Entschädigung wegen eines enteignenden Eingriffs infolge von Lärmeinwirkungen
Anwendung fänden. Dies dürfte allerdings vor dem Hintergrund, dass diese Grundsätze zu den allgemeinen
entschädigungsrechtlichen Grundsätzen gehören, zu bejahen sein.
31
Freilich sei diese Frage, insbesondere im vorliegenden Zusammenhang, eher theoretischer Natur. Bei atypischen
und unvorhergesehenen Nachteilen oder Eingriffen werde der Grundstücksverkehr meist keinen Anlass sehen oder
erst gar keine Gelegenheit haben, vor dem „Eingriff“ auf die damit verbundenen Nachteile zu reagieren (also kein
„vorzeitiger“ Ausschluss von der konjunkturellen Entwicklung feststellbar).
32
Zudem beträfen die Senatsentscheidungen, die sich mit Ansprüchen aus enteignendem Eingriff von
Lärmgeschädigten verhielten, Fälle, in denen das öffentliche Unternehmen, das zu diesen Immissionen geführt habe,
nicht auf einem Planfeststellungsbeschluss beruht habe. Sei dies aber - wie hier - der Fall, so sei es grundsätzlich
(allein) Sache des Fachplanungsrechts und der auf seiner Grundlage ergehenden Planfeststellungsbeschlüsse, den
Konflikt zu bewältigen. Dabei sei zu beachten, dass bei unvorhersehbaren Nachteilen die Möglichkeit einer
Planergänzung bestehe (vgl. § 75 Abs. 2 VwVfG). Vor diesem Hintergrund habe der III. Zivilsenat mit Urteil vom 21.
Januar 1999 (vgl. BGHZ 140, 285) entschieden, dass es dem Anlieger einer „planfestgestellten“ Straße verwehrt sei,
unter dem Gesichtspunkt des enteignenden Eingriffs einen Geldausgleich für im Planfeststellungsbeschluss nicht
vorgesehene Schallschutzeinrichtungen zu verlangen.
II.
33
Die Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, soweit mit ihr eine Verletzung von Art. 14 Abs. 1
GG geltend gemacht wird. Das genannte Grundrecht wird durch den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom
2. Juli 2008 verletzt. Der Beschluss ist aufzuheben und die Sache an das Bundesverwaltungsgericht
zurückzuverweisen. Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts über die Anhörungsrüge vom 19. August 2008 ist
für gegenstandslos zu erklären.
34
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist im genannten Umfang zur Durchsetzung der Rechte der
Beschwerdeführer
angezeigt.
Die
hier
maßgeblichen
verfassungsrechtlichen
Fragen
sind
vom
Bundesverfassungsgericht im Grundsatz bereits entschieden. Die Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG durch den
Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Juli 2008 ist offensichtlich (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
Die geltend gemachte Verletzung von Art. 103 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG kann
dagegen nicht festgestellt werden. Die des Weiteren geltend gemachte Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG kann wegen
der festgestellten Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG dahinstehen.
35
1. Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Juli 2008, mit dem die Klage der Beschwerdeführer auf
Aufhebung der Stichtagsregelung des Planfeststellungsbeschlusses für die Entschädigung im Rahmen des
Übernahmeanspruchs und Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung abgewiesen wurde, verletzt Art. 14 Abs. 1
GG.
36
Dabei ist zu beachten, dass sich die Beschwerdeführer nicht gegen den vom Bundesverwaltungsgericht für
maßgeblich befundenen § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004 selbst, sondern gegen dessen Anwendung wenden. Die
Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlich unbedenklicher Regelungen unter Würdigung eines konkreten
Sachverhalts obliegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in erster Linie den dafür
zuständigen Fachgerichten. Deren Beurteilung ist vom Bundesverfassungsgericht nur begrenzt darauf nachzuprüfen,
ob die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der
Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und die in ihrer Bedeutung
für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 53, 30 <61>).
37
Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts leidet an einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der
Bedeutung des Art. 14 Abs. 1 GG.
38
a) Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG soll dem Träger des Grundrechts einen Freiheitsraum im
vermögensrechtlichen Bereich sichern und ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens ermöglichen.
Sie schützt den konkreten Bestand an vermögenswerten Gütern vor ungerechtfertigten Eingriffen durch die öffentliche
Gewalt. Eine allgemeine Wertgarantie vermögenswerter Rechtspositionen folgt aus Art. 14 Abs. 1 GG nicht. Die
Eigentumsgarantie erfasst nur Rechtspositionen, die einem Rechtssubjekt bereits zustehen, nicht aber in der Zukunft
liegende Chancen und Verdienstmöglichkeiten (vgl. BVerfGE 105, 252 <277>).
39
aa) Vorschriften, die den in der Folge einer luftverkehrsrechtlichen Planfeststellung auf einem Wohngrundstück
hinzunehmenden Fluglärm regeln, sind Inhalts- und Schrankenbestimmungen nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Als
solche müssen sie der verfassungsrechtlich garantierten Eigentumsstellung und dem Gebot einer sozialgerechten
Eigentumsordnung in gleicher Weise Rechnung tragen. Die schutzwürdigen Interessen der Beteiligten sind dabei in
einen gerechten Ausgleich und ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen (vgl. BVerfGE 79, 174 <191 ff., 198> in
Bezug auf Straßenverkehrslärm). Der Gesetzgeber muss sich dabei im Einklang mit allen anderen
Verfassungsnormen halten; insbesondere ist er an den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und
den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebunden. Das Wohl der Allgemeinheit ist nicht nur Grund, sondern auch
Grenze für die dem Eigentum aufzuerlegenden Belastungen. Einschränkungen der Eigentümerbefugnisse dürfen nicht
weitergehen, als der Schutzzweck reicht, dem die Regelung dient. Der Kernbereich der Eigentumsgarantie darf dabei
nicht ausgehöhlt werden. Zu diesem gehört sowohl die Privatnützigkeit, also die Zuordnung des Eigentumsobjekts zu
einem Rechtsträger, dem es als Grundlage privater Initiative von Nutzen sein soll, als auch die grundsätzliche
Verfügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand (vgl. BVerfGE 100, 226 <240 f.>; 102, 1 <16 f.>). Der
Regelungsbefugnis des Gesetzgebers sind unterschiedliche Schranken gezogen. Soweit das Eigentum die
persönliche Freiheit des Einzelnen im vermögensrechtlichen Bereich sichert, genießt es einen besonders
ausgeprägten Schutz (vgl. BVerfGE 42, 263 <294>; 50, 290 <340>; 70, 191 <201>; 95, 64 <84>).
40
Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Grundstück den wesentlichen Teil des Vermögens des Pflichtigen bildet und
die Grundlage seiner privaten Lebensführung einschließlich seiner Familie darstellt. In solchen Fällen tritt die Aufgabe
der Eigentumsgarantie, dem Träger des Grundrechts einen Freiraum im vermögensrechtlichen Bereich zu sichern und
ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen, in den Vordergrund (vgl. BVerfGE 102, 1
<21>). Demgegenüber ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers umso größer, je stärker der soziale Bezug des
Eigentumsobjekts ist; hierfür sind dessen Eigenart und Funktion von entscheidender Bedeutung (vgl. BVerfGE 53,
257 <292>; 100, 226 <241>; 102, 1 <17>).
41
Es ist dem Gesetzgeber grundsätzlich nicht verwehrt, eigentumsbeschränkende Maßnahmen, die er im öffentlichen
Interesse für geboten hält, auch in Härtefällen durchzusetzen, wenn er durch kompensatorische Vorkehrungen
unverhältnismäßige oder gleichheitswidrige Belastungen des Eigentümers vermeidet und schutzwürdigem Vertrauen
angemessen Rechnung trägt. Durch einen solchen Ausgleich kann in bestimmten Fallgruppen die
verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer sonst unverhältnismäßigen oder gleichheitswidrigen Inhalts- und
Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG herbeigeführt werden (vgl. BVerfGE 100, 226 <244>
unter Bezugnahme auf BVerfGE 58, 137 <149 f.>; 79, 174 <192>). Ausgleichsregelungen sind freilich nicht generell
ein verfassungsrechtlich zulässiges Mittel, unverhältnismäßige Eigentumsbeschränkungen mit Art. 14 Abs. 1 GG in
Einklang zu bringen. Normen, die Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmen, müssen grundsätzlich auch ohne
Ausgleichsregelungen die Substanz des Eigentums wahren und dem Gleichheitsgebot entsprechen. Wo
ausnahmsweise die Anwendung des Gesetzes zu einer unzumutbaren Belastung des Eigentümers führt, können
Ausgleichsregelungen aber zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit und zum Ausgleich gleichheitswidriger Sonderopfer
in Betracht kommen (vgl. BVerfGE 100, 226 <244>).
42
Die Verfassungsmäßigkeit einer Ausgleichsregelung setzt zunächst voraus, dass sie auf einer gesetzlichen
Grundlage beruht. Darüber hinaus sind Ausgleichsregelungen unzulänglich, wenn sie sich darauf beschränken, dem
Betroffenen einen Ausgleich in Geld zuzubilligen. Die Bestandsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt, dass
in erster Linie Vorkehrungen getroffen werden, die eine unverhältnismäßige Belastung des Eigentums so weit wie
möglich vermeiden. Als Instrumente stehen hierfür Übergangsregelungen, Ausnahme- und Befreiungsvorschriften
sowie der Einsatz sonstiger administrativer und technischer Vorkehrungen zur Verfügung. Ist ein solcher Ausgleich
des gleichheitswidrigen Sonderopfers im Einzelfall nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich, kann für
diesen Fall ein finanzieller Ausgleich in Betracht kommen oder es kann geboten sein, dem Eigentümer einen
Anspruch auf Übernahme durch die öffentliche Hand zum Verkehrswert einzuräumen (vgl. BVerfGE 100, 226
<245 f.>).
43
bb) Der Höhe nach orientiert sich die Ausgleichsleistung grundsätzlich am Wert des abverlangten Guts. Während
jedoch bei ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmungen zugunsten Privater die grundrechtlich relevante
Einbuße vollständig zu kompensieren ist, muss der Ausgleichsanspruch bei Inhaltsbeschränkungen und
Entziehungen des Eigentums zum Wohl der Allgemeinheit nicht notwendig den Verkehrswert abdecken (vgl. BVerfGE
100, 289 <303 ff.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Januar 2005 - 1 BvR 290/01 -,
NJW-RR 2005, S. 741 <742 f.>). Da der Ausgleichsanspruch nur der Kompensation eines gleichheitswidrigen
Sonderopfers dient (vgl. BVerfGE 100, 226 <244>), muss er grundsätzlich auch nur diejenige Belastung ausgleichen,
die die von der Sozialgebundenheit gerechtfertigte Belastung des Eigentums übersteigt.
44
Auch wenn eine verfassungswidrige Inhaltsbestimmung des Eigentums nicht zugleich eine Enteignung nach Art. 14
Abs. 3 GG darstellt und wegen des unterschiedlichen Regelungsgehalts von Inhaltsbestimmung und Enteignung nicht
in eine solche umgedeutet werden kann (vgl. BVerfGE 58, 300 <320>; 79, 174 <192>), ist das in Art. 14 Abs. 3 GG
zum Ausdruck kommende Gewicht des Eigentumsschutzes bei der nach Art. 14 Abs. 1 GG vorzunehmenden
Abwägung zu beachten (vgl. BVerfGE 83, 201 <212 f.>). Nach Art. 14 Abs. 3 GG ist die Entschädigung unter
gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Das Abwägungsgebot
ermöglicht es dem Gesetzgeber, auf situationsbedingte Besonderheiten des Sachverhalts und die Zeitumstände
Rücksicht zu nehmen und damit zu einer im Zeitpunkt der Enteignung gerechten Entschädigung zu kommen. Eine
starre, allein am Marktwert orientierte Entschädigung ist somit dem Grundgesetz fremd. Es trifft auch nicht zu, dass
den Enteigneten durch die Entschädigung stets das „volle Äquivalent für das Genommene gegeben werden muss“.
Der Gesetzgeber kann je nach den Umständen vollen Ersatz, aber auch eine darunter liegende Entschädigung
bestimmen (vgl. BVerfGE 24, 367 <420 f.>; 46, 268 <285>).
45
Erweist sich jedoch der Wert des entzogenen Gutes in seiner vollen Höhe als das Äquivalent eigener Leistung des
Berechtigten, so ist dessen Interesse an einem vollen Wertausgleich im Allgemeinen so gewichtig, dass das
Allgemeininteresse an einer möglichst niedrigen Entschädigung zurückzutreten hat. Neben dem Gedanken der
„Leistungsäquivalenz“ stellt der Grundsatz des „Sozialbindungsabzugs“ ein weiteres mögliches verfassungslegitimes
Kriterium der Entschädigungsreduktion dar. Die starre Fixierung auf die Verkehrswertentschädigung beruht auf der
Unterstellung des „Alles-oder-Nichts-Prinzips“, das dem Regelungssystem des Art. 14 GG nicht gerecht wird. Sie
übersieht, dass Wertminderungen bis zu einem gewissen Grade von Eigentümern als entschädigungsfreie
Sozialbindung hingenommen werden müssen. Daher kann eine Enteignungsentschädigung als „gerecht“ im Sinne von
Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG angesehen werden, die jene möglichen oder fiktiven Wertreduzierungen durch
entschädigungsfreie Sozialbindungen in Anrechnung bringt.
46
cc) Diese Vorgaben sind auch bei der Gesetzesanwendung durch die Verwaltung zu berücksichtigen, insbesondere
wenn die Verwaltung einen Spielraum bei der Anwendung eigentumsbestimmender Normen hat (vgl. BVerfGE 53, 352
<357 f.>; 68, 361 <372>). Auch ein luftverkehrsrechtlicher Planfeststellungsbeschluss sowie die diesen
kontrollierende Gerichtsentscheidung sind an den Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen
(vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Februar 2008 - 1 BvR 2722/06 -, juris Rn. 54).
Dabei ist vorliegend davon auszugehen, dass die durch den Planfeststellungsbeschluss bewirkte Inhalts- und
Schrankenbestimmung dem Wohl der Allgemeinheit dient. Denn der geplante Flughafen ist dem allgemeinen Verkehr
gewidmet.
47
b) Bei Anwendung dieser Maßstäbe hält die angegriffene Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht
stand. Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Juli 2008 verletzt das in Art. 14 Abs. 1 GG verankerte
Verhältnismäßigkeitsprinzip, weil er die Interessen der Beschwerdeführer und die Gemeinwohlinteressen fehlerhaft
gewichtet und daher in keinen angemessenen Ausgleich gebracht hat.
48
aa) Zwar schützt Art. 14 Abs. 1 GG das Grundeigentum der Anwohner des geplanten Flughafens nicht vor jedem
Wertverlust durch Planungen. Eine Minderung der Wirtschaftlichkeit ist grundsätzlich ebenso hinzunehmen wie eine
Verschlechterung der Verwertungsaussichten (vgl. BVerfGE 38, 348 <371>; 39, 210 <237>; 105, 252 <277 f.>).
Jedoch übersieht der angegriffene Beschluss, dass der Eigentumsgarantie bei der Bestimmung von Inhalt und
Schranken besonderes Gewicht zukommt, soweit das Eigentum die persönliche Freiheit des Einzelnen im
vermögensrechtlichen Bereich sichert (vgl. BVerfGE 42, 263 <294>; 50, 290 <340>; 70, 191 <201>; 95, 64 <84>).
Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Grundstück den wesentlichen Teil des Vermögens des Pflichtigen bildet und
die Grundlage seiner privaten Lebensführung einschließlich seiner Familie darstellt. In solchen Fällen tritt die Aufgabe
der Eigentumsgarantie, dem Träger des Grundrechts einen Freiraum im vermögensrechtlichen Bereich zu sichern und
ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen, in den Vordergrund (vgl. BVerfGE 102,
1 <21>).
49
Demgegenüber müssen die ebenfalls von Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Interessen der Vorhabensträger an der
Nutzung des Flughafens, die durch die auf § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004 gestützte Entschädigungsauflage
beschränkt werden, zurücktreten, wenn die Betroffenen aufgrund der Festlegung des Stichtags für die zu zahlende
Entschädigung nicht mehr in der Lage sind, sich ein adäquates Wohngrundstück für sich und ihre Familie leisten zu
können. Dabei mag zwar - je nach den Umständen des Einzelfalls - ein gewisser Grundstückswertverlust aufgrund
des geplanten Flughafens als Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums hinzunehmen sein. Die Beschwerdeführer
machen hier jedoch eine Verkehrswertminderung im Ausmaß von 50 bis 60 % geltend. Von diesem Ausmaß der
Verkehrswertminderung ist im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren auszugehen, weil sie so vom
Bundesverwaltungsgericht, das diesbezüglich auf eine Beweisaufnahme verzichtet hat, im angegriffenen Beschluss
unterstellt worden ist (vgl. Rn. 20 des angegriffenen Beschlusses vom 2. Juli 2008).
50
Eine solche Verkehrswertminderung würde hier die wegen der Sozialbindung der Eigentumsgarantie hinzunehmende
Verkehrswertminderung übersteigen. Den Eigentümern von im Entschädigungsgebiet „Übernahmeanspruch“ gelegenen
Grundstücken bleibt nämlich aufgrund der Unzumutbarkeit der Lärmbelastung faktisch gar nichts anderes übrig, als ihr
Eigentum aufzugeben und sich eine Ersatzwohnung zu beschaffen. Dieser Zwang zur Ersatzbeschaffung wird nicht
dadurch genommen, dass das Hausgrundstück möglicherweise zu anderen als zu Wohnzwecken noch genutzt
werden könnte. Soweit die Bevollmächtigten des Beklagten und der Beigeladenen des Ausgangsverfahrens darauf
hinweisen, die Grundstücke im Einzugsbereich des Flughafens könnten mit Blick auf eine gewerbliche Nutzung
möglicherweise eine Wertsteigerung erfahren, ändert dies - abgesehen von der Ungewissheit einer solchen
Entwicklung - nichts daran, dass eine Wohnnutzung weiter nicht zumutbar ist. Sollten die vom Übernahmeanspruch
erfassten Grundstücke aufgrund des Planfeststellungsbeschlusses eine solche Wertsteigerung erfahren, kann dies
auf andere Weise berücksichtigt werden. Im Fall der von den Beschwerdeführern geforderten Anwendung der
Grundsätze der enteignungsrechtlichen Vorwirkung käme eine solche Wertsteigerung jedenfalls nicht den
Beschwerdeführern, sondern dem Übernahmeverpflichteten zugute.
51
bb) Ob der verhältnismäßige Ausgleich zwischen dem Eigentumsgrundrecht der Beschwerdeführer und dem
allgemeinen Wohl dadurch hergestellt wird, dass - wie die Beschwerdeführer fordern - die Grundsätze der
enteignungsrechtlichen Vorwirkungen zumindest im vorliegenden Fall auf den Übernahmeanspruch aus § 74 Abs. 2
Satz 3 VwVfGBbg 2004 angewendet werden oder der erforderliche Interessenausgleich auf andere Weise
gewährleistet wird, kann vorliegend offen bleiben.
52
Jedenfalls war der vom Bundesverwaltungsgericht gebilligte Stichtag entgegen der Meinung des Bevollmächtigen
des Beklagten des Ausgangsverfahrens nicht Gegenstand des Beschlusses der 3. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 29. Juli 2009 (1 BvR 1606/08, juris). Dort war nur die Kappungsgrenze bei teuren
Schallschutzmaßnahmen Prüfungsgegenstand. Auch der Beschluss vom 20. Februar 2008 hatte den hier inmitten
stehenden Stichtag nicht zum Gegenstand (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats - 1 BvR 2722/06 -,
juris).
53
Das Bundesverwaltungsgericht ist in mit Blick auf Art. 14 GG nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen,
dass sich der von den Beschwerdeführern geltend gemachte Entschädigungsanspruch aus § 74 Abs. 2 Satz 3
VwVfGBbg 2004 und nicht aus dem Aufopferungsgewohnheitsrecht ergibt. Es ist kein Grund dafür erkennbar,
anzunehmen, dass die genannte Vorschrift Einwirkungen jenseits der verfassungsrechtlichen Zumutbarkeitsschwelle
nicht erfassen solle. Keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt des Weiteren die Auffassung des
Bundesverwaltungsgerichts, die Entschädigung nach § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004 als Surrogat für
Schutzmaßnahmen nach § 9 Abs. 2 LuftVG in Verbindung mit § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfGBbg 2004 anzusehen, die
jedenfalls in dem Zeitpunkt vorhanden sein müssen, zu dem die Anwohner ohne sie den Einwirkungen ausgesetzt
wären, die es abzuwehren gilt (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. März 2006 - BVerwG 4 A 1075.04 -, juris Rn. 413 =
BVerwGE 125, 116; BVerwG, Urteil vom 29. Januar 1991 - BVerwG 4 C 51.89 -, juris Rn. 393, 402, 425 = BVerwGE
87, 332).
54
Daraus folgt jedoch nicht, dass es verfassungsrechtlich ausgeschlossen wäre, trotz des Surrogatcharakters des
Entschädigungsanspruchs hinsichtlich der bloßen Ermittlung der Höhe der Entschädigung auf einen früheren Zeitpunkt
als den Erlass des Planfeststellungsbeschlusses abzustellen und auf den Entschädigungsanspruch aus § 74 Abs. 2
Satz 3 VwVfGBbg 2004 den enteignungsrechtlichen Grundsatz der Vorwirkung anzuwenden (vgl. insoweit auch § 8
Abs. 2 FluglSchG), zumal die Frage des im Rahmen von § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004 maßgeblichen
Zeitpunkts der Wertermittlung - soweit ersichtlich - erstmals in dem der vorliegenden Sache vorangehenden
Musterurteil vom 16. März 2006 entschieden worden ist (vgl. BVerwG 4 A 1075.04 -, BVerwGE 125, 116; offen
geblieben in: BVerwG, Urteil vom 29. Januar 1991 - BVerwG 4 C 51.89 -, juris, inbes. Rn. 436 = BVerwGE 87, 332)
und das Bundesverwaltungsgericht die Rechtsgedanken des Enteignungsrechts jedenfalls auch für die Beurteilung der
Angemessenheit der Übernahmeentschädigung nach § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004 dem Grundsatz nach selbst
anwendet (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2007 - BVerwG 4 A 2004.05 -, NVwZ 2007, S. 1308). Bei der Anwendung
der Grundsätze der enteignungsrechtlichen Vorwirkung auf die Ermittlung der Entschädigungshöhe nach § 74 Abs. 2
Satz 3 VwVfGBbg 2004 bliebe der Anspruch ein Kompensationsanspruch für eine Inhalts- und Schrankenbestimmung
im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Daher könnte auch in diesem Fall in Übereinstimmung mit Art. 14 Abs. 1 GG
die aufgrund der Sozialbindung zumutbare Belastung aufgrund einer entsprechenden Regelung im
Planfeststellungsbeschluss in Abzug gebracht werden.
55
2. Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG kann dagegen nicht festgestellt werden.
56
a) Dies gilt zunächst soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG damit begründen, dass
das Bundesverwaltungsgericht nach § 93a Abs. 2 Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden hat. Nach
dieser Vorschrift kann ein Gericht nach Anhörung der Beteiligten im Falle des rechtskräftigen Abschlusses vorab
durchgeführter Musterverfahren nach § 93a Abs. 1 VwGO über die ausgesetzten Nachverfahren durch Beschluss
entscheiden, wenn es einstimmig der Auffassung ist, dass die Sachen gegenüber rechtskräftig entschiedenen
Musterverfahren keine wesentlichen Besonderheiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweisen und der Sachverhalt
geklärt ist. Bei der Entscheidung, ob diese Voraussetzungen für ein Beschlussverfahren vorliegen und ob nach
gerichtlichem Ermessen gemäß § 101 Abs. 3 VwGO dennoch eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden soll,
müssen die Gerichte dem Anspruch auf rechtliches Gehör gerecht werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer
des Ersten Senats vom 17. März 2009 - 1 BvR 432/09 -, NVwZ 2009, S. 908). Aus Art. 103 Abs. 1 GG ergibt sich
zwar kein grundsätzliches Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Es ist vielmehr Sache des
Gesetzgebers zu entscheiden, wie rechtliches Gehör gewährt werden soll (vgl. BVerfGE 36, 85 <87>; 89, 381 <391>).
Sieht das einfache Recht jedoch eine mündliche Verhandlung vor, kann im gesetzwidrigen Absehen von der
mündlichen Verhandlung ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vorliegen (vgl. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG,
10. Aufl. 2009, Art. 103 Rn. 10; wohl auch: BVerfGE 42, 364 <369 f.>; BFHE 166, 415).
57
Im vorliegenden Fall kann jedoch offen bleiben, ob im Verzicht auf eine mündliche Verhandlung eine Verletzung von
Art. 103 Abs. 1 GG zu sehen ist. Denn die Beschwerdeführer haben nicht hinreichend dargetan, dass die angegriffene
Entscheidung auf dem behaupteten Gehörsverstoß beruht. Sie haben nicht aufgezeigt, was sie im Rahmen einer
mündlichen Verhandlung weiter vorgetragen oder welchen zusätzlichen, bislang nicht angebrachten Beweisantrag sie
gestellt hätten (vgl. BVerfGE 72, 122 <132>).
58
b) Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird ferner nicht dadurch verletzt, dass das Bundesverwaltungsgericht den
Beweisantrag der Beschwerdeführer zu ihrer Behauptung einer 50%igen Minderung des Verkehrswertes des
streitbefangenen Grundstücks zwischen 1996 und dem 16. November 2004 Beweis durch Einholung eines
Sachverständigengutachtens zu erheben, abgelehnt hat.
59
Zwar gehört zu Art. 103 Abs. 1 GG auch die Pflicht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu
nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Nichtberücksichtigung eines als sachdienlich und erheblich angesehenen
Beweisangebots verstößt dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (vgl.
BVerfGE 105, 279 <311>). Hier fehlte es jedoch - nach der im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 103
Abs. 1 GG maßgeblichen materiellrechtlichen Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts - an einem erheblichen
Beweisantrag. Nach der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts war eine Verkehrswertminderung vor
Erlass des Planfeststellungsbeschlusses für die Höhe der Entschädigung nach § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfGBbg 2004
unerheblich. Art. 103 Abs. 1 GG gewährt keinen Schutz dagegen, dass Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des
formellen oder materiellen Rechts unberücksichtigt bleibt (vgl. BVerfGE 105, 279 <311>).
60
c) Es ist auch nicht hinreichend dargetan, dass Art. 103 Abs. 1 GG dadurch verletzt wurde, dass der Beweisantrag
der Beschwerdeführer erst mit der abschließenden Entscheidung und nicht mit einem selbständigen Beschluss vorab
abgelehnt wurde. § 93a Abs. 2 Satz 4 VwGO gibt dem Gericht in einem auf ein Musterverfahren folgenden
Nachverfahren die Möglichkeit, Beweisanträge im sachentscheidenden Beschluss nach § 93a Abs. 2 Satz 1 VwGO
abzulehnen. Unklar ist dabei, ob diese verfahrensrechtliche Erleichterung bei der Ablehnung von Beweisanträgen nur
bei Tatsachen möglich ist, über die bereits im Musterverfahren Beweis erhoben wurde (vgl. § 93a Abs. 2 Satz 3
VwGO) oder ob sie generell gilt (dazu tendiert wohl die Kommentarliteratur: vgl. Geiger, in: Eyermann, VwGO, 12.
Aufl. 2006, § 93a Rn. 26; Schmid, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 93a Rn. 18 ff.; unklar: Kopp/Schenke,
VwGO, 16. Aufl. 2009, § 93a Rn. 12). Die Beschwerdeführer vergleichen die vorliegende Situation mit dem
schriftlichen Verfahren nach § 101 Abs. 2 VwGO, in dem ein nach Verzicht auf mündliche Verhandlung schriftsätzlich
gestellter Beweisantrag entsprechend § 86 Abs. 2 VwGO nur vorab durch Beschluss abgelehnt werden kann, damit
sich die Beteiligten auf die neue Verfahrenslage einstellen und gegebenenfalls weitere Beweisanträge stellen können
(vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Mai 1989 - BVerwG 1 C 57.87 -, NVwZ 1989, S. 1078; BVerwG, Urteil vom 23. Juni 1961
- BVerwG IV C 308.60 -, BVerwGE 12, 268; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 86 Rn. 19).
61
Ob dies im vorliegenden Fall zu gelten hat, kann indes dahinstehen. Denn die Beschwerdeführer haben nicht
dargetan, dass die angegriffene Entscheidung auf diesem - hier unterstellten - Gehörsverstoß beruht. Dies hätte
erfordert, dass sie dargelegt hätten, was sie bei einer vorherigen Kenntnis von der Ablehnung des Beweisantrags noch
vorgetragen oder welchen weiteren Beweisantrag sie gestellt hätten (vgl. zu diesem Vortragserfordernis: BVerfGE 72,
122 <132>). Insoweit erschöpft sich der Vortrag der Beschwerdeführer darin, dass sie die materiellrechtliche
Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts sowie die Ablehnung des Beweisantrags für falsch halten. Ein Vortrag
dazu, was sie bei vorheriger Entscheidung über den Beweisantrag noch vorgebracht hätten, ist insbesondere auch
deshalb geboten, weil das Bundesverwaltungsgericht im Anhörungsrügebeschluss darauf hingewiesen hat, die
Beschwerdeführer hätten aufgrund des gerichtlichen Schreibens vom 4. Juni 2008 die Absicht des Gerichts, die
Rechtssache ohne die beantragte Beweiserhebung abzuschließen, kennen und weiter vortragen können (vgl. Rn. 6
des Beschlusses vom 19. August 2008).
62
d) Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG kann schließlich auch insoweit nicht festgestellt werden, als die
Beschwerdeführer meinen, das Bundesverwaltungsgericht habe in Randnummer 22 des Beschlusses vom 2. Juli 2008
eine von ihnen geäußerte Rechtsauffassung „verdreht“ wiedergegeben und danach leicht zurückweisen können. Damit
wenden sich die Beschwerdeführer im Ergebnis nur gegen die Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts, das
eine Vorverlegung des Stichtags wegen Art. 14 Abs. 1 GG nicht für notwendig angesehen hat. Art. 103 Abs. 1 GG
schützt jedoch nicht davor, dass das Gericht die Rechtsansicht eines Beteiligten nicht teilt (vgl. BVerfGE 64, 1 <12>)
oder ihr nicht die richtige Bedeutung beimisst (vgl. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl. 2009, Art. 103 Rn. 31).
63
3. Schließlich ist auch eine Verletzung des sich aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden
Rechts auf ein faires Verfahren nicht ersichtlich (vgl. dazu: BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats
vom 6. April 1998 - 1 BvR 2194/97 -, NJW 1998, S. 2044).
64
Die Einwände der Beschwerdeführer, die sich vor allem dagegen wenden, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht
auf der Vorlage eines Verkehrswertgutachtens über das streitbefangene Grundstück durch die Vorhabenträgerin
bestanden habe sowie dass die Auswahl der Musterverfahren unfair gewesen sei, wurden vom
Bundesverwaltungsgericht bereits im Anhörungsrügebeschluss vertretbar zurückgewiesen. Die Beschwerdeführer
setzen sich in der Verfassungsbeschwerde mit den dortigen Gründen nicht auseinander, sondern wiederholen wörtlich
ihren Vortrag aus dem Anhörungsrügeverfahren. Dies genügt nicht für eine substantiierte Begründung der Verletzung
des Rechts auf ein faires Verfahren.
65
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG, die Entscheidung über die
Festsetzung des Gegenstandswertes auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG.
Papier
Bryde
Schluckebier