Urteil des BVerfG vom 28.04.2005

BVerfG: vertrag von maastricht, europa, verfassungsbeschwerde, erlass, republik, beratung, tagesordnung, abgeordneter, gesetzgebungsverfahren, meinung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 1/05 - - 2 BvR 636/05 -
Im Namen des Volkes
In den Verfahren
I.
über den Antrag, im Organstreitverfahren festzustellen,
der Beschluss des Ältestenrates des Deutschen Bundestages, im Bundestag am 12./13.
Mai 2005 über das Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine
Verfassung für Europa in zweiter und dritter Lesung zu beschließen, verstößt gegen Art. 2
Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 79
Abs. 3 GG sowie gegen Art. 23 Abs. 1 GG,
Antragsteller: Dr. G., Mitglied des Deutschen Bundestages, Staatsminister a.D.,
Platz der Republik 1, 11011 Berlin,
- Bevollmächtigter:
Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider,
Hubertusstraße 6, 90491 Nürnberg -
Antragsgegner: Deutscher Bundestag, vertreten durch den Präsidenten,
Platz der Republik 1, 11011 Berlin,
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- 2 BvE 1/05 –,
II. über die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Dr. G.,
Mitglied des Deutschen Bundestages, Staatsminister a.D.,
Platz der Republik 1, 11011 Berlin,
- Bevollmächtigter:
Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider,
Hubertusstraße 6, 90491 Nürnberg -
gegen den Beschluss des Ältestenrates des Deutschen Bundestages, im Bundestag am
12./13. Mai 2005 über das Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom 29. Oktober 2004
über eine Verfassung für Europa in zweiter und dritter Lesung zu beschließen
und den Antrag, dem Beschwerdeführer gemäß Art. 20 Abs. 4 GG andere Abhilfe zum Schutz der grundgesetzlichen
Verfassungsordnung dadurch zu geben, dass dem Deutschen Bundestag die zweite und dritte Lesung des
Zustimmungsgesetzes zum Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa, die für den 12./13.
Mai 2005 auf dessen Tagesordnung gesetzt ist, untersagt wird
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung,
- 2 BvR 636/05 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsident Hassemer,
Jentsch,
Broß,
Osterloh,
Di Fabio,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff,
Gerhardt
gemäß § 24 BVerfGG ohne mündliche Verhandlung am 28. April 2005 beschlossen:
1. Die Verfahren werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
2. Der Antrag im Organstreitverfahren wird verworfen.
3. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
4. Dadurch erledigen sich die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Gründe:
1
Der Antragsteller und Verfassungsbeschwerdeführer ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Er wendet sich gegen
den Beschluss des Ältestenrates, mit dem die zweite und dritte Lesung des Entwurfs eines Vertrages über eine
Verfassung für Europa vom 29. Oktober 2004 für den 12./13. Mai 2005 festgesetzt wurde.
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In seiner Eigenschaft als Abgeordneter des Deutschen Bundestages sieht er sich durch diesen Beschluss in seinem
Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt und macht geltend, das beabsichtigte Zustimmungsgesetz sei
verfassungs- und staatswidrig.
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Durch eine Zustimmung zu dem Vertrag werde er darüber hinaus als Bürger der Bundesrepublik Deutschland in
seinen Grundrechten der politischen Freiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und auf Vertretung durch den Deutschen
Bundestag aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Er könne sich auch auf das grundrechtsgleiche Recht des
Widerstands aus Art. 20 Abs. 4 GG stützen. Der Vertrag sei mit der existenziellen Staatlichkeit Deutschlands und mit
dem Fundamentalprinzip des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG unvereinbar. Er verletze auch die anderen Strukturprinzipien
des Art. 20 GG.
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Der Antragsteller hat die aus dem Rubrum ersichtlichen Anträge gestellt.
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Von einer Anhörung des Antragsgegners wurde abgesehen. Der Senat hat von der Möglichkeit, ohne mündliche
Verhandlung zu entscheiden, Gebrauch gemacht.
6
Der Antrag im Organstreitverfahren ist unzulässig.
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1. Der Antragsteller ist als Abgeordneter des Deutschen Bundestages parteifähig im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 1
GG, § 63 BVerfGG (vgl. BVerfGE 10, 4 <10>; 108, 251 <270>; stRspr). Es handelt sich hier auch um eine
verfassungsrechtliche Streitigkeit über den Umfang der Rechte und Pflichten von Beteiligten im Sinne von Art. 93
Abs. 1 Nr. 1 GG. Gegenstand des Verfahrens ist der Streit der Beteiligten darüber, inwieweit der Deutsche Bundestag
durch die Zustimmung zu einem von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten völkerrechtlichen Vertrag die
jedem Abgeordneten durch die Verfassung zugewiesenen und gewährleisteten Aufgaben und Rechte (Art. 38 Abs. 1
Satz 2 GG) einschränken kann.
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2. Der Antragsteller ist jedoch nicht antragsbefugt. Im Organstreit kann der einzelne Abgeordnete die Verletzung
oder Gefährdung jedes Rechts, das mit seinem Status verfassungsrechtlich verbunden ist, geltend machen. Sein
Antrag ist nach § 64 Abs. 1 BVerfGG zulässig, wenn nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass die
beanstandete Maßnahme Rechte des Antragstellers, die aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zwischen
den Beteiligten erwachsen, verletzt oder unmittelbar gefährdet (vgl. BVerfGE 94, 351 <362 f.>; 99, 19 <28>; 104, 310
<325>; 108, 251 <271 f.>).
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Der Antragsteller rügt eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG durch die vom Antragsgegner
beschlossene Terminierung der zweiten und dritten Beratung über das Gesetz zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004
über eine Verfassung für Europa (vgl. BTDrucks 15/4900) auf den 12./13. Mai 2005. Der Beschluss des Ältestenrates
ist eine im Rahmen der parlamentarischen Autonomie getroffene Entscheidung, die eine rechtserhebliche Maßnahme
im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG - die Zustimmung oder Ablehnung des Gesetzentwurfs durch den Deutschen
Bundestag - erst vorbereitet.
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Die hier angegriffene Terminierung kann Rechte des Antragstellers nicht verletzen. Mit der zweiten und dritten
Beratung erfüllt der Antragsgegner die im parlamentarischen Binnenrecht vorgesehenen Voraussetzungen (vgl. § 20
Abs. 1 in Verbindung mit §§ 78 ff. der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages) eines ordnungsgemäßen
Gesetzgebungsverfahrens. Zugleich ermöglicht er die von der Verfassung formulierte Erwartung, dass sich die
Abgeordneten des Deutschen Bundestages in der öffentlichen Beratung (vgl. Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG) eine Meinung
über den Gesetzentwurf bilden können. Erst die freie Debatte im Deutschen Bundestag verbindet das
rechtstechnische Gesetzgebungsverfahren mit einer substantiellen, auf die Kraft des Arguments gegründeten
Willensbildung, die es dem demokratisch legitimierten Abgeordneten ermöglicht, die Verantwortung für seine
Entscheidung zu übernehmen.
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie unzulässig ist.
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1. Eine Verfassungsbeschwerde ist nur dann zulässig, wenn der Beschwerdeführer geltend macht, durch den
angegriffenen Hoheitsakt in einem verfassungsbeschwerdefähigen Recht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1
BVerfGG) unmittelbar und gegenwärtig verletzt zu sein. Der Beschwerdeführer muss hinreichend substantiiert
darlegen, dass eine solche Verletzung möglich ist (vgl. BVerfGE 28, 17 <19>; 52, 303 <327>; 65, 227 <232 f.>; 89,
155 <171>).
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2. Daran fehlt es hier. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen den Beschluss des Ältestenrates des Deutschen
Bundestages, am 12./13. Mai 2005 im Bundestag über das Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom 29. Oktober 2004
über eine Verfassung für Europa in zweiter und dritter Lesung zu beschließen. Tauglicher Gegenstand der
Verfassungsbeschwerde wäre erst das Zustimmungsgesetz selbst (vgl. BVerfGE 89, 155 <177>), nicht bereits
dessen Lesung und die Beschlussfassung hierüber im Deutschen Bundestag. Insoweit fehlt es an einem Akt der
öffentlichen Gewalt, der Rechte des Beschwerdeführers berühren könnte (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1
BVerfGG). Lesung und Beschlussfassung sind integrale Bestandteile des Gesetzgebungsverfahrens; sie entfalten
dem Bürger gegenüber keine unmittelbare Außenwirkung.
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Ebenso wenig kann sich der Beschwerdeführer hier dagegen wenden, dass sich der Deutsche Bundestag überhaupt
mit der Angelegenheit befasst und diese auf die Tagesordnung setzt. Der Beschluss des Ältestenrates erzeugt dem
Bürger gegenüber keine rechtserheblichen Wirkungen.
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3. Den Interessen des Beschwerdeführers ist hinreichend dadurch Rechnung getragen, dass er gegen das
Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa unmittelbar nach Abschluss
des Gesetzgebungsverfahrens in Bundestag und Bundesrat, anders als sonst bei Gesetzen üblich, schon vor
Ausfertigung und Verkündung mit der Verfassungsbeschwerde vorgehen kann (vgl. BVerfGE 1, 396 <411 ff.>; 24, 33
<53 f.>). Eines weiterreichenden Schutzes unter dem Gesichtspunkt einer Grundrechtsgefährdung bedarf es zum
gegenwärtigen Zeitpunkt nicht.
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Der Bundespräsident hat etwa im Verfahren betreffend das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht, in dem
die Beschwerdeführer den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt hatten, um eine völkerrechtliche Bindung
der Bundesrepublik Deutschland an den Unions-Vertrag zu verhindern, erklärt, er werde die Ratifikationsurkunde erst
unterzeichnen, wenn das Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache entschieden habe. Desgleichen sicherte die
Bundesregierung im damaligen Verfahren zu, die Ratifikationsurkunde vorerst nicht zu hinterlegen (vgl. BVerfGE 89,
155 <165>).
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Vor diesem Hintergrund erweist sich der Antrag auf andere Abhilfe (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a in Verbindung mit Art. 20
Abs. 4 GG), ungeachtet der Frage seiner Statthaftigkeit, gegenüber der Verfassungsbeschwerde gegen das
Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa als subsidiär (vgl. § 90
Abs. 2 BVerfGG).
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Mangels Zulässigkeit der Hauptsacheanträge erledigen sich die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Hassemer
Jentsch
Broß
Osterloh
Di Fabio
Mellinghoff
Lübbe-Wolff
Gerhardt