Urteil des BVerfG vom 15.02.2000

BVerfG: politische verfolgung, rechtliches gehör, festnahme, verfassungsbeschwerde, ausreise, bundesamt, spitzel, grundrecht, wache, folterung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 752/97 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des türkischen Staatsangehörigen A...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwältin Martha-Lina Bode und Koll.,
Alleestraße 24, Bochum -
gegen
a)
den Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 19. März 1997 -
11 L 6969/96 -,
b)
das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 28. November 1996 - 5 A 459/96
-
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Sommer,
Broß
und die Richterin Osterloh
gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.
August 1993 (BGBl I S. 1473) am 15. Februar 2000 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 28. November 1996 - 5 A 459/96 - verletzt den Beschwerdeführer
in seinem Grundrecht aus Artikel 16a Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben und die Sache wird an das
Verwaltungsgericht Osnabrück zurückverwiesen.
Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 19. März 1997 - 11 L 6969/96 - ist damit
gegenstandslos.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-
Verfahren und das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. Beschluss vom 25. Juli 1997) zu
erstatten.
Gründe:
A.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die fachgerichtliche Feststellung
und Beurteilung des Charakters einer staatlichen Maßnahme, insbesondere des Einsatzes von Folter, als "politische
Verfolgung" und an die Würdigung des Vorbringens eines Asylbewerbers zu seinen individuellen Verfolgungsgründen.
I.
2
1. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und stammt aus dem
Südosten der Türkei.
3
a) Er reiste im April 1995 auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein und beantragte seine Anerkennung als
Asylberechtigter.
4
Im Rahmen seiner - aus gesundheitlichen Gründen an zwei Tagen durchgeführten - Anhörung durch das Bundesamt
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) Anfang Juni 1995 gab er an, in der Türkei mit der PKK
sympathisiert zu haben. Im März 1993 sei er mit einigen Cousins nach der Teilnahme an einem Newroz-Fest in
seinem Heimatdorf festgenommen und gefoltert worden. Hierzu schilderte der Beschwerdeführer im Einzelnen, wie er
gefoltert wurde. Nach der Entlassung - so der Beschwerdeführer weiter - sei er gezwungen worden, in der Zeit vom
September 1994 bis zum April 1995 Wachaufgaben zu übernehmen. Im Dezember 1994 habe er auf die Bitte eines
PKK-Angehörigen Lebensmittel besorgt und sie den PKK-Leuten in den Wald gebracht. Vor der Übergabe habe er
einen Mann getroffen, von dem er jetzt wisse, dass dieser mit den türkischen Sicherheitsbehörden zusammenarbeite.
Dieser Mann habe die Übergabe der Lebensmittel beobachtet. Er - der Beschwerdeführer - sei dann von Soldaten
verhaftet worden. Nach seiner Festnahme sei er zur Wache nach Varto genommen und dort fünf Tage lang "sehr viel"
gefoltert worden; dies könne man noch immer sehen. Dann sei er aufgefordert worden, als Spitzel für den Staat tätig
zu werden. Nach fünf Tagen sei er freigelassen worden. Danach habe er wieder die Tätigkeit als Wachposten
aufgenommen. Im März 1995 habe sich sein Bruder mit dem bereits erwähnten Mann, der für die türkischen
Sicherheitsbehörden gearbeitet habe, gestritten. Dieser habe seinen Bruder bei den Soldaten wegen Waffenbesitzes
angezeigt. Sein Bruder sei daraufhin verhaftet und nach zwei Tagen auf dem Revier in Varto nach Mus gebracht
worden. Er - der Beschwerdeführer - habe dann von seiner Mutter eine Nachricht erhalten, dass die Soldaten bereits
seit zwei, drei Tagen ständig im Dorf nach ihm gefragt hätten. Er habe sich daraufhin einen Tag lang bei seinem
Onkel aufgehalten und sei anschließend nach Adana gefahren, wo er sich 20 Tage lang bei seiner Schwester
aufgehalten habe. Am 25. April 1995 habe er Adana Richtung Istanbul verlassen, bevor er zwei Tage später
ausgereist sei.
5
Nach der Anhörung teilte der Beschwerdeführer schriftsätzlich mit, dass ein Onkel und zwei weitere Verwandte
wegen PKK-Unterstützung und Versteckens einer Waffe festgenommen worden seien und sich noch in Haft befänden.
Die türkischen Sicherheitskräfte forschten bei seinen Angehörigen auch nach seinem Verbleib.
6
b) Mit Bescheid vom 24. Mai 1996 lehnte das Bundesamt den Asylantrag ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen
der §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG nicht vorlägen, forderte den Beschwerdeführer zur Ausreise auf und drohte ihm die
Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung hieß es unter anderem: Der Beschwerdeführer könne sich nicht auf die
beiden Verhaftungen berufen, da es sich insoweit um Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung gehandelt habe. Auch
hinsichtlich der während der Inhaftierung erlittenen Folter liege keine politische Verfolgung vor. Die weit verbreitete
Misshandlung von Personen im Polizeigewahrsam sei als Folge der Tradition und der Geisteshaltung anzusehen, von
der sowohl gewöhnliche strafrechtlich Verdächtige betroffen sein könnten, als auch Personen, die im Rahmen von
Ermittlungen nach dem Anti-Terror-Gesetz verhaftet worden seien, so dass die Misshandlungen nicht wegen eines
Asylmerkmals begangen würden und dementsprechend keine politische Verfolgung seien.
7
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG seien ebenfalls nicht gegeben. Zwar komme es in der Türkei generell zur
Anwendung von Folter; eine solche generelle Foltergefahr belege jedoch nicht bereits eine individuelle Gefährdung.
Der Beschwerdeführer habe nicht substantiiert dargetan, dass ihm die konkrete Gefahr der Folter drohe.
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2. a) In der mündlichen Verhandlung über die dagegen bei dem Verwaltungsgericht Osnabrück erhobene Klage
ergänzte und vertiefte der Beschwerdeführer seinen bisherigen Vortrag; insbesondere schilderte er detailliert seine
Folterungen im Dezember 1994. Seine verschiedenen Beweisanträge lehnte das Verwaltungsgericht ab.
9
b) Mit dem angegriffenen Urteil wies das Verwaltungsgericht Osnabrück die Klage ab, im Wesentlichen aus
folgenden Gründen:
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aa) Der Beschwerdeführer habe eine politisch motivierte Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Insoweit werde auf die
zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Bescheid Bezug genommen.
11
Er könne sich zur Begründung einer Vorverfolgung nicht auf die Festnahme mit anschließender Folterung im März
1993 berufen, da es insoweit an einem Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht fehle.
12
Er könne Asyl auch nicht deshalb beanspruchen, weil er nach seinen - nicht zu widerlegenden - Angaben im
Dezember 1994 für die Dauer von fünf Tagen zur Wache mitgenommen und dort misshandelt worden sei. Zwar
rechtfertigten Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung - um eine solche Maßnahme habe es sich in seinem Fall
gehandelt - nicht den Einsatz brutaler Gewalt gegen Personen, bei denen keine über allgemeine Merkmale wie
Volkszugehörigkeit, Alter und Geschlecht hinausgehenden objektivierbaren Verdachtsmomente bestünden. Nach den
Angaben des Beschwerdeführers sei die Festnahme im Dezember 1994 erfolgt, weil er die Terroristen der PKK mit
Lebensmitteln unterstützt habe und bei diesem Vorgehen von einem Spitzel der Sicherheitskräfte beobachtet worden
sei. Der Einsatz der Folter gegen ihn sei daher aufgrund konkreter Verdachtsmomente unabhängig von
Volkszugehörigkeit, Glaubenszugehörigkeit oder anderen asylerheblichen Merkmalen erfolgt. Es seien auch keine
Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass gegen ihn wegen des Vorfalls weitere Maßnahmen ergriffen werden sollten.
Dagegen spräche insbesondere, dass er nach seinen Angaben bis April 1995 Wachaufgaben für das Heimatdorf
wahrgenommen haben wolle.
13
Eine politische Verfolgung habe der Beschwerdeführer auch nicht im Hinblick auf die von ihm vorgetragenen
Umstände und Gründe seiner Ausreise glaubhaft gemacht. Er habe insoweit angegeben, dass der Spitzel der
Sicherheitskräfte, der auch ihn verraten habe, seinen Bruder bei den Behörden wegen des Besitzes einer
Maschinenpistole angezeigt habe und sein Bruder deshalb verhaftet worden sei. Bei dieser Gelegenheit hätten die
Soldaten auch nach ihm - dem Beschwerdeführer - gefragt. Hierin seien keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür zu
sehen, dass die Sicherheitskräfte den Beschwerdeführer hätten festnehmen wollen. Es sei vielmehr davon
auszugehen, dass die Soldaten, wie die Kammer aus zahlreichen anderen Verfahren türkischer Asylbewerber erfahren
habe, routinemäßig nach dem Aufenthaltsort vorwiegend männlicher Familienangehöriger gefragt hätten, um
festzustellen, ob diese "in die Berge" gegangen seien. Etwas anderes lasse sich auch nicht aus den Angaben des
Beschwerdeführers entnehmen, er wolle bei Telefonaten von seinen Angehörigen in der Heimat erfahren haben, dass
man weiterhin nach ihm suche. Insoweit fehle es an konkreten Anhaltspunkten für eine beabsichtigte Festnahme des
Beschwerdeführers. Solche Anhaltspunkte ergäben sich auch nicht aus der in das Wissen des Zeugen A. gestellten
Behauptung über dessen Telefonate mit den Angehörigen des Beschwerdeführers. Zwar könnten entsprechende
Angaben der Angehörigen telefonisch erfolgt sein, hieraus könne jedoch nicht geschlossen werden, dass diese
Angaben zutreffen würden. Zum einen sei es in hohem Maße unglaubhaft, dass Sicherheitskräfte den Angehörigen die
Aussagen festgenommener PKK-Kämpfer mitgeteilt haben sollten, zum anderen sei bei derartigen Angaben von
Angehörigen grundsätzlich davon auszugehen, dass sie ein Interesse an der Asylanerkennung der im Bundesgebiet
befindlichen Familienmitglieder hätten und von daher geneigt seien, etwaige Nachfragen der Sicherheitskräfte als
nachhaltige Fahndungsmaßnahmen zu bezeichnen.
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bb) Als objektiver Nachfluchtgrund komme die Entwicklung der Verhältnisse in der Türkei nach der Ausreise des
Beschwerdeführers in Betracht. Insoweit könne dahinstehen, ob kurdische Volkszugehörige einer regionalen
Gruppenverfolgung oder einer Einzelverfolgung wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit ausgesetzt seien, da ihnen
jedenfalls im westlichen Teil der Türkei grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stehe, in der
sie hinreichend sicher vor unmittelbarer und mittelbarer politischer Verfolgung seien. Dort drohe ihnen nicht mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum, das zu Hunger, Verelendung und
schließlich zum Tod führe (unter Verweis auf das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 16. Mai
1995 - 11 L 6012/91 -).
15
cc) Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG seien nicht gegeben.
16
dd) Dem Beschwerdeführer stehe auch Abschiebungsschutz nach § 53 AuslG nicht zu. Zur Frage der Gefährdung
der in die Türkei zurückkehrenden kurdischen Asylbewerber habe das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (in
seinem Urteil vom 20. Juni 1995 - 11 L 5754/91 -) ausgeführt, dass nur derjenige, der unter dem konkreten Verdacht
stehe, Unterstützer oder gar Angehöriger der PKK zu sein, oder der deswegen bereits gesucht werde, im Falle seiner
Rückkehr von Folter bedroht sei. Der Beschwerdeführer müsse nicht wegen seiner früheren Festnahmen 1993 und im
Dezember 1994 damit rechnen, im Falle seiner Rückkehr erneut in Haft genommen und gefoltert zu werden. Es sei
von ihm weder behauptet noch sonst ersichtlich, dass gegen ihn konkrete Anhaltspunkte über diejenigen hinaus
vorliegen würden, die bereits Gegenstand von Maßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte gewesen seien. Wegen
des Lebensmitteltransportes für die PKK sei er fünf Tage inhaftiert worden. Ein Strafverfahren habe sich offensichtlich
nicht angeschlossen. Warum die türkischen Sicherheitskräfte im Falle seiner Rückkehr aus der Bundesrepublik
Deutschland jenen Vorfall erneut zum Anlass nehmen sollten, gegen ihn Maßnahmen zu ergreifen, sei nicht
ersichtlich, zumal die türkischen Sicherheitsbehörden von seinen behaupteten exilpolitischen Betätigungen kaum
Kenntnis erlangt haben dürften.
17
3. Den auf Divergenz und mehrere Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 und Nr. 3
AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) gestützten Antrag auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil hat das
Niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit dem gleichfalls angegriffenen Beschluss vom 19. März 1997 abgelehnt.
II.
18
1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 16a
Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und seines Anspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG durch die beiden fachgerichtlichen
Entscheidungen.
19
a) Das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Verhaftung und Folterung keine politische
Verfolgung darstelle. Dafür hätte es die ihm widerfahrene Folter auf ihre Asylerheblichkeit prüfen müssen. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts bedürfe es in solchen Fällen
einer besonderen Prüfung, weil die besondere Intensität einer Verfolgungsmaßnahme darauf schließen lasse, dass der
Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werde.
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b) Soweit das Verwaltungsgericht eine Wiederholungsgefahr hinsichtlich der erlittenen Verfolgung verneine, obwohl
nach seinen Feststellungen seit der Festnahme des Bruders des Beschwerdeführers die Sicherheitskräfte nach ihm
gesucht hätten, lasse es außer Acht, dass, auch wenn die konkrete Tat nicht weiterverfolgt worden sei, der
Beschwerdeführer in den Augen der Sicherheitskräfte der Unterstützung der PKK verdächtig bleibe. Nach der vom
Verwaltungsgericht selbst wiedergegebenen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Urteil
vom 20. Juni 1995 - 11 L 5754/91 -) müsse die Anwendung von Folter im Polizeigewahrsam ernsthaft in Betracht
gezogen werden, wenn der Betroffene unter dem konkreten Verdacht stehe, Unterstützer oder gar Angehöriger der
PKK zu sein oder deswegen bereits gesucht werde.
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c) Zudem habe das Verwaltungsgericht die Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts zur
inländischen Fluchtalternative und zur Rückkehrproblematik offenbar nur abgeschrieben, ohne ihre Relevanz im
Hinblick auf seinen Fall zu prüfen. Trotz der vom Verwaltungsgericht wiedergegebenen Erkenntnislage
schriftsätzlicher Hinweise und insbesondere seines Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens
zur Rückkehrgefährdung und zum Bestehen einer inländischen Fluchtalternative gehe das Verwaltungsgericht nicht
auf die für die Wiederholungsgefahr relevante Seite ein, dass er - der Beschwerdeführer - schon aufgrund seiner
Festnahmen wegen des Verdachts konkreter Unterstützungshandlungen für die PKK zum Kreis verdächtiger PKK-
Anhänger zähle und deshalb nicht nur vor weiterer Verfolgung nicht hinreichend sicher sei, sondern diese auch
landesweit befürchten müsse.
22
d) Schließlich erhebt der Beschwerdeführer verschiedene Gehörsrügen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts.
23
e) Das Oberverwaltungsgericht verletze ihn in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG, da es trotz offensichtlicher
Divergenz zur obergerichtlichen Rechtsprechung eine Berufungszulassung ablehne und die Anforderungen an eine
Gehörsrüge überspanne.