Urteil des BVerfG vom 05.03.2013

BVerfG: satzung, rechtliches gehör, rechtssicherheit, echte rückwirkung, festsetzungsverjährung, verfassungsbeschwerde, vertrauensschutz, nichtigkeit, verjährungsfrist, anschluss

L e i t s a t z
zum Beschluss des Ersten Senats vom 5. März 2013
- 1 BvR 2457/08 -
Das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der
Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit verlangt Regelungen, die sicherstellen, dass Abgaben
zum Vorteilsausgleich nicht zeitlich unbegrenzt nach Erlangung des Vorteils festgesetzt werden
können. Dem Gesetzgeber obliegt es, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Interesse der
Allgemeinheit an Beiträgen für solche Vorteile einerseits und dem Interesse des
Beitragsschuldners andererseits, irgendwann Klarheit zu erlangen, ob und in welchem Umfang
er zu einem Beitrag herangezogen werden kann.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2457/08 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn J…
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte LTA, Jachmann, Braun, Haiges,
Türkenstraße 9, 80333 München -
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. Mai
2008 - 20 ZB 08.903 -,
b) das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 28.
Februar 2008 - M 10 K 06.2850 -,
2. mittelbar gegen
Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 des
Bayerischen Kommunalabgabengesetzes in der Fassung des Gesetzes
zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes vom 28. Dezember 1992
(GVBl S. 775)
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsident Kirchhof,
Gaier,
Eichberger,
Schluckebier,
Masing,
Paulus,
Baer,
Britz
am 5. März 2013 beschlossen:
1. Artikel 13 Absatz 1 Nummer 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 des
Bayerischen Kommunalabgabengesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des
Kommunalabgabengesetzes vom 28. Dezember 1992 (Bayerisches Gesetz- und
Verordnungsblatt Seite 775) ist mit Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit
dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit (Artikel 20 Absatz 3 des
Grundgesetzes) unvereinbar. Ersetzt der Gesetzgeber Artikel 13 Absatz 1 Nummer 4
Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 des Bayerischen
Kommunalabgabengesetzes nicht bis zum 1. April 2014 durch eine verfassungsgemäße
Neuregelung, tritt Nichtigkeit der Vorschrift ein.
2. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. Mai 2008 - 20 ZB
08.903 - und das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 28. Februar 2008 -
M 10 K 06.2850 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2
Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der
Rechtssicherheit (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Der Beschluss des Bayerischen
Verwaltungsgerichtshofs wird aufgehoben und die Sache an ihn zurückverwiesen.
3. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob die Regelung des Beginns der
Festsetzungsfrist in Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 des
Bayerischen Kommunalabgabengesetzes (BayKAG) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung
des Kommunalabgabengesetzes vom 28. Dezember 1992 (GVBI S. 775) mit den in Art. 20 Abs.
3 GG verankerten Verfassungsgrundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes
vereinbar ist.
I.
2
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs setzt das
Entstehen einer Beitragspflicht für den Anschluss an leitungsgebundene Einrichtungen neben
dem Erschlossensein des Grundstücks durch eine insgesamt betriebsfertige Einrichtung
(sogenannte Vorteilslage) zwingend das Vorliegen einer gültigen Beitragssatzung voraus (vgl.
BayVGH, Urteil vom 14. April 2011 - 20 BV 11.133 -, BayVBI 2012, S. 45 <46>; Urteil vom 29.
April 2010 - 20 BV 09.2010 -, BayVBl 2011, S. 240; Urteil vom 31. August 1984 - 23 B 82 A.461 -,
juris). Eine wirksame Satzung ist somit Beitragsentstehungsvoraussetzung. Die Satzung muss
nach Art. 5 Abs. 8 BayKAG nicht bereits im Zeitpunkt des Entstehens der Vorteilslage in Kraft
sein. Es genügt vielmehr, wenn sie nach deren Entstehung in Kraft tritt.
3
2. Der Eintritt der Festsetzungsverjährung führt nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b BayKAG in
Verbindung mit § 47 der Abgabenordnung (AO) zum Erlöschen der Ansprüche aus dem
Abgabenschuldverhältnis. Die Festsetzungsfrist, nach deren Ablauf der Erlass eines
Beitragsbescheids unzulässig ist, beträgt nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b
Doppelbuchstabe bb Spiegelstrich 2 BayKAG in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 AO
einheitlich vier Jahre.
4
3. Durch das am 31. Dezember 1992 verkündete Gesetz zur Änderung des
Kommunalabgabengesetzes vom 28. Dezember 1992 (GVBI S. 775) wurde der Beginn der
Festsetzungsfrist mit Wirkung zum 1. Januar 1993 neu geregelt. Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b
Doppelbuchstabe cc BayKAG erhielt folgende Fassung:
5
Art. 13
6
Anwendung von Vorschriften der Abgabenordnung (AO 1977)
7
(1) Soweit gesetzlich nicht anders bestimmt, sind in ihrer jeweils geltenden Fassung
vorbehaltlich Absatz 6 folgende Bestimmungen der Abgabenordnung entsprechend
anzuwenden:
8
(…)
9
4. aus dem Vierten Teil - Durchführung der Besteuerung -
10
(…)
11
b) über das Festsetzungs- und Feststellungsverfahren:
12
(…)
13
cc) § 170 Abs. 1 mit der Maßgabe,
14
- dass die Festsetzungsfrist dann, wenn die Forderung im Zeitpunkt des Entstehens aus
tatsächlichen Gründen noch nicht berechnet werden kann, erst mit Ablauf des Kalenderjahres
beginnt, in dem die Berechnung möglich ist und
15
- dass im Fall der Ungültigkeit einer Satzung die Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des
Kalenderjahres zu laufen beginnt, in dem die gültige Satzung bekanntgemacht worden ist, (…).
16
Die in Bezug genommene Vorschrift des § 170 Abs. 1 AO lautet:
17
Die Festsetzungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist
oder eine bedingt entstandene Steuer unbedingt geworden ist.
18
Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 1 BayKAG entspricht der bis
dahin geltenden Regelung des Beginns der Festsetzungsfrist gemäß Art. 13 Abs. 1 Nr. 4
Buchstabe b BayKAG vom 26. März 1974 (GVBl S. 109, ber. 252) in der Fassung vom 4. Februar
1977 (GVBl S. 82). Mit dem Gesetz zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes vom
28. Dezember 1992 wurde Spiegelstrich 2 neu in die gesetzliche Regelung eingefügt.
19
4. Der Gesetzgeber beabsichtigte hiermit ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs eine
gesetzliche Klarstellung (LTDrucks 12/8082, S. 13). Bisher sei es in der Rechtsprechung des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs umstritten gewesen, ob in den Fällen, in denen eine
nichtige Satzung rückwirkend durch eine gültige Satzung ersetzt werde, die Festsetzungsfrist mit
dem Zeitpunkt des rückwirkenden Inkrafttretens der Satzung (so BayVGH 6. Senat, Urteil vom
26. März 1984 - 6 B 82 A.1075 -, BayGT 1985, S. 60) oder erst mit Ablauf des Jahres zu laufen
beginne, in dem die rückwirkende Satzung bekanntgemacht worden sei (so BayVGH 23. Senat,
Urteil vom 30. März 1984 - 23 B 81 A.1967 -, BayVBl 1985, S. 656 <658>). Mit der Einfügung
einer weiteren Maßgabe in Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b BayKAG werde die den
Bedürfnissen der Praxis entgegen kommende Auffassung des 23. Senats des Bayerischen
Verwaltungsgerichtshofs gesetzlich klargestellt. Nach der gegenteiligen Ansicht könne nämlich
eine rückwirkend entstandene Forderung gleichzeitig festsetzungsverjährt sein, wenn sich die
Rückwirkungsfrist über die Verjährungsfrist hinaus erstrecke.
II.
20
1. Der Beschwerdeführer war von 1992 bis 1996 Eigentümer eines bereits an die öffentliche
Entwässerungseinrichtung angeschlossenen bebauten Grundstücks. Bei einer Ortsbesichtigung
im Jahr 1992 stellte die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die Gemeinde, in der das Grundstück
gelegen ist (im Folgenden: Beklagte), fest, dass das Dachgeschoss des Gebäudes ausgebaut
worden war.
21
Mit Bescheid vom 5. April 2004 zog sie den Beschwerdeführer erstmals auf der Grundlage ihrer
Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung vom 5. Mai 2000 zu einem
Kanalherstellungsbeitrag in Höhe von 1.197,32 € heran. Der Herstellungsbeitrag wurde gemäß
§ 5 Abs. 1 dieser Beitrags- und Gebührensatzung nach der Grundstücks- und Geschossfläche
berechnet. Die Satzung war zur Heilung einer als nichtig beurteilten Vorgängersatzung
rückwirkend zum 1. April 1995 in Kraft gesetzt worden.
22
Während des Widerspruchsverfahrens erwies sich auch die Beitrags- und Gebührensatzung
vom 5. Mai 2000 als unwirksam. Die Beklagte erließ daraufhin die Beitrags- und
Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung vom 18. April 2005 und setzte sie rückwirkend
zum 1. April 1995 in Kraft. Diese Satzung wurde am 26. April 2005 im Amtsblatt der Beklagten
bekannt gemacht.
23
2. Die vom Beschwerdeführer gegen den Bescheid und den Widerspruchsbescheid erhobene
Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Zwar seien die Beitrags- und Gebührensatzung vom 5.
Mai 2000, auf die der Bescheid gestützt worden sei, sowie auch sämtliche Vorgängersatzungen
aus den Jahren 1995, 1992, 1987, 1980, 1973 und 1960 in den Beitragsteilen nichtig gewesen.
Eine wirksame Rechtsgrundlage für den Bescheid sei aber mit der Beitrags- und
Gebührensatzung vom 18. April 2005 geschaffen worden. Auf der Grundlage dieser Satzung sei
die Beitragsschuld für die bislang nicht veranlagte Geschossflächenmehrung erstmals am
1. April 1995 entstanden. Der Beschwerdeführer sei als zu diesem Zeitpunkt ins Grundbuch
eingetragener Grundstückseigentümer Beitragsschuldner. Eine Verjährung der
Beitragsforderung sei nicht eingetreten, da nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b
Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG in Verbindung mit § 170 Abs. 1 AO im Fall der
Ungültigkeit einer Satzung die vierjährige Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des Kalenderjahres
zu laufen beginne, in dem die gültige Satzung bekannt gemacht worden sei.
24
Der Beschwerdeführer könne hiergegen nicht mit Erfolg einwenden, diese Regelung verstoße
gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes und müsse daher,
insbesondere im Fall eines zwischenzeitlichen Eigentümerwechsels, abweichend von ihrem
Wortlaut einschränkend ausgelegt werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bestünden gegen Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b
Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen
Bedenken. Ersichtliches Ziel des Gesetzgebers sei es gewesen, die Gemeinden im Falle
nichtigen Satzungsrechts vor Beitragsausfällen infolge Verjährungseintritts zu bewahren. Im
Übrigen sei keiner der jetzigen oder ehemaligen Grundstückseigentümer in seiner Erwartung
geschützt, von der Nichtigkeit früheren Satzungsrechts profitieren zu können; denn ein
abgeschlossener Beitragstatbestand liege nicht vor. Welchen der Eigentümer die Beitragspflicht
treffe, hänge von der Bestimmung des Zeitpunkts der Rückwirkung ab. Sei dieser – wie im
vorliegenden Fall – ohne Verstoß gegen das Willkürverbot gewählt, bestehe kein Grund für eine
rechtliche Beanstandung.
25
3. Der Verwaltungsgerichtshof lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der
Berufung ab. Das Verwaltungsgericht sei zutreffend davon ausgegangen, dass der
Beitragsanspruch zum Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheids nicht
verjährt gewesen sei. Die Vorschrift des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc
Spiegelstrich 2 BayKAG sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Der Gesetzgeber habe hiermit
eine Regelung getroffen, die der bis dahin ständigen Rechtsprechung des Bayerischen
Verwaltungsgerichtshofs entsprochen habe (Hinweis auf BayVGH, Urteil vom 30. März 1984
23 B 81 A.1967 -, BayVBl 1985, S. 656 <658>). Die Norm enthalte nach Inhalt, Zweck und
Ausmaß eine klare Aussage über den Lauf der Festsetzungsfrist, gegen die durchgreifende
verfassungsrechtliche Bedenken nicht bestünden. Eine unzulässige echte Rückwirkung liege
schon deshalb nicht vor, weil kein abgeschlossener Beitragstatbestand gegeben sei. Denn bei
leitungsgebundenen Einrichtungen setze die Entstehung einer Beitragspflicht nach ständiger
Rechtsprechung das Vorhandensein einer gültigen Abgabensatzung voraus. Eine wirksame
Abgabensatzung habe erstmals im Jahr 2005 vorgelegen. Soweit der Beschwerdeführer geltend
mache, die rückwirkende Inkraftsetzung einer Abgabensatzung müsse wenigstens zeitlich auf
die einschlägigen Verjährungsvorschriften beschränkt werden, lasse er außer Acht, dass nur
eine bereits entstandene Beitragsforderung verjähren könne. Bei fehlgeschlagenem
Satzungsrecht müsse ein bisher nicht veranlagter Beitragspflichtiger damit rechnen, zu einem
späteren Zeitpunkt herangezogen zu werden. Er könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen.
III.
26
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus
Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG.
27
1. Die in den angegriffenen Entscheidungen vorgenommene uneingeschränkte Anwendung des
Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG auf rückwirkend
in Kraft gesetzte Satzungen verstoße wegen der damit verbundenen echten Rückwirkung gegen
die aus Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitenden Grundsätze des Vertrauensschutzes und der
Rechtssicherheit. Es sei geboten, die Rückwirkung einer Satzung durch Festsetzungsfristen zu
begrenzen. Der Eintritt der Festsetzungsverjährung dürfe nicht beliebig hinausgeschoben
werden. Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG sei im
Fall des rückwirkenden Inkraftsetzens einer Satzung entweder nicht anzuwenden oder
verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass die Verjährung rückwirkend zum Zeitpunkt
des Inkrafttretens der Satzung beginne.
28
2. Die Ausgangsgerichte hätten Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil sie ihm nicht hinreichend
rechtliches Gehör gewährt hätten. Er habe mit der verwaltungsgerichtlichen Klage geltend
gemacht, dass der Beitragsanspruch wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung erloschen sei.
Nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte beginne die Festsetzungsfrist nur zu laufen,
wenn eine wirksame Beitragssatzung vorliege. Die Beklagte und die Gerichte in den
angegriffenen Entscheidungen hätten sich darauf berufen, dass sämtliche Satzungen, die der
Beitrags- und Gebührensatzung vom 18. April 2005 vorausgingen, nichtig gewesen seien, was
durch diverse Entscheidungen der Verwaltungsgerichte bereits geklärt worden sei. Er habe
deshalb die Vorlage dieser Entscheidungen außergerichtlich und schließlich auch vor dem
Verwaltungsgericht begehrt. Die maßgeblichen Entscheidungen seien ihm jedoch nicht
vollständig zugänglich gemacht worden. Ihm sei es deshalb nicht möglich gewesen, zur Frage
der Nichtigkeit sämtlicher Satzungen ausreichend Stellung zu nehmen.
IV.
29
Die Beklagte, die Bayerische Staatsregierung und der Deutsche Städte- und Gemeindebund
haben ebenso wie das Bundesverwaltungsgericht zu der Verfassungsbeschwerde Stellung
genommen.
30
1. Die Beklagte ist der Auffassung, die Verfassungsbeschwerde sei unzulässig. Der
Beschwerdeführer habe eine Verletzung rechtlichen Gehörs nicht hinreichend dargelegt.
Darüber hinaus sei der Rechtsweg nicht erschöpft, weil der Beschwerdeführer keine
Anhörungsrüge erhoben habe.
31
Die Verfassungsbeschwerde sei im Übrigen nicht begründet. Der Beschwerdeführer könne sich
nicht auf Vertrauensschutz berufen. Denn ein Vertrauen darauf, dass eine als nichtig erkannte
Regelung aufrechterhalten bleibe und nicht durch eine neue, rückwirkende Satzung ersetzt
werde, sei nicht schützenswert. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer sein Grundstück
veräußert habe, bedeute nicht, dass dadurch ein für seine Beitragspflicht maßgeblicher
Tatbestand abgeschlossen sei und er in der Folge nicht mehr zur Beitragszahlung
herangezogen werden dürfe. Er habe vielmehr den für die Entstehung der Beitragspflicht
maßgeblichen Vorteil der Möglichkeit der Anschlussnahme entgegengenommen und mit dem
Grundstücksverkauf nicht verloren. Dieser Vorteil habe den Wert seines Grundstücks erhöht mit
der Folge, dass er für das Grundstück einen höheren Kaufpreis habe erzielen können.
32
2. Die Bayerische Staatsregierung hält Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc
Spiegelstrich 2 BayKAG für verfassungsgemäß. Die Ersetzung einer als nichtig erkannten durch
eine wirksame Beitragssatzung stelle keinen Fall einer echten, sondern allenfalls einer unechten
Rückwirkung dar. Es sei kein abgeschlossener Lebenssachverhalt gegeben, in den nachträglich
eingegriffen worden sei. Denn die Beitragsentstehung setze das Vorliegen einer gültigen
Beitragssatzung voraus. Ohne diese sei eine Berechnung des Beitrags in Ermangelung eines
Beitragsmaßstabs nicht möglich.
33
Das Vertrauen des Beschwerdeführers wäre selbst bei Annahme einer echten Rückwirkung
nicht schutzwürdig, weil er damit habe rechnen müssen, dass eine vorhandene, aber als nichtig
erkannte Satzung durch eine gültige Satzung ersetzt werde, mit der die von Anfang an von der
Gemeinde angestrebte Beitragspflicht herbeigeführt werde. Es seien keine Umstände erkennbar,
die ein Vertrauen darauf rechtfertigten, dass die Gemeinde es bei einer nichtigen
Beitragssatzung belassen und auf eine Beitragserhebung verzichten würde.
34
Eine zeitliche Beschränkung der Rückwirkung auf die Festsetzungsfristen sei aus Gründen des
Vertrauensschutzes nicht geboten. Der bayerische Gesetzgeber habe mit Art. 13 Abs. 1 Nr. 4
Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG eine Lösung gewählt, die sowohl die
Gemeinden vor Beitragsausfällen aufgrund des Eintritts der Festsetzungsverjährung bewahre als
auch dem Vorteilsgedanken Rechnung trage. Die Gemeinden würden nach Erlass der gültigen
Satzung erstmals in die Lage versetzt, Beiträge nach den Maßstäben dieser gültigen Satzung
korrekt festzusetzen und die öffentliche Einrichtung auf der Grundlage rechtsstaatlicher
Regelungen zu refinanzieren. Bei Abwägung des öffentlichen Interesses mit den privaten
Interessen der betroffenen Beitragspflichtigen überwiege das öffentliche Interesse. Ein
Grundstückseigentümer müsse damit rechnen, zu einem Beitrag herangezogen zu werden. Sein
Vertrauen darauf, dass eine nichtige Satzung nicht durch eine gültige Satzung ersetzt werde, sei
nicht schutzwürdig. Verjährungsvorschriften dienten der Rechtssicherheit und dem
Rechtsfrieden. Im vorliegenden Fall liege kein Vorgang vor, auf dessen Abschluss der Bürger
sich einstellen und auf dessen Ende er vertrauen könne. Da dem Beitragspflichtigen kein
schützenswertes Vertrauen zur Seite stehe, komme dem öffentlichen Interesse an der
Beitragserhebung das entscheidende Gewicht zu.
35
3. Das Bundesverwaltungsgericht teilt mit, es sei mit der Frage nach dem Lauf der
Festsetzungsfrist bei der rückwirkenden „Reparatur“ nichtiger Abgabennormen bisher nur am
Rande befasst gewesen. Nach seiner gefestigten Rechtsprechung sei es allerdings mit dem im
Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsatz des Vertrauensschutzes vereinbar, kommunale
Anschluss- und Erschließungsbeitragssatzungen rückwirkend in Kraft zu setzen, um früher
erlassene, auf eine nichtige Vorgängersatzung gestützte Beitragsbescheide zu heilen (Hinweis
auf BVerwGE 50, 2 <7 f.>; 67, 129 <130 ff.>; BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 1996 -
BVerwG 8 B 13.96 -, Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 36, S. 3 <4>). Werde eine ungültige durch
eine gültige Satzung ersetzt, liege darin keine echte Rückwirkung, da eine Beitragspflicht
frühestens mit dem Inkrafttreten der rechtswirksamen Beitragssatzung entstehen könne und
diese Satzung somit nicht in einen bereits abgeschlossenen Tatbestand eingreife (Hinweis auf
BVerwG, Beschluss vom 22. Januar 1986 - BVerwG 8 B 123.84 -, NVwZ 1986, S. 483 <484>).
36
Die Festsetzungsverjährung sei im Abgabenrecht der Länder geregelt (Hinweis auf BVerwG,
Urteil vom 21. Januar 1977 - BVerwG IV C 84-92.74 -, Buchholz 406.11 § 131 BBauG Nr. 20,
S. 20 <25> sowie NJW 1977, S. 1740 <1741>). Die Anknüpfung der Verjährung an die
rückwirkende Entstehung der Beitragspflicht stehe mit Bundesrecht in Einklang. Die Frage der
bundesrechtlichen Unbedenklichkeit einer Anknüpfung an die Verkündung der neuen Satzung
sei in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht weiter problematisiert worden.
37
Gegen die in Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG
getroffene Regelung bestünden keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Das
rückwirkende Inkrafttreten der neuen Satzung habe zwar zur Folge, dass bereits zu einem
zurückliegenden Zeitpunkt (frühestens zum Zeitpunkt des rückwirkenden Inkrafttretens) die
Beitragsvoraussetzungen erfüllt sein könnten. Es sei aber kein verfassungsrechtlicher Grundsatz
ersichtlich, der dazu zwinge, die Festsetzungsverjährung in Rückwirkungsfällen an das
Entstehen der Beitragsforderung anzuknüpfen. Da die Behörde erst mit der Verkündung der
neuen Satzung in den Stand versetzt werde, einen rechtlich tragfähigen Beitragsbescheid zu
erlassen, beziehungsweise erst mit der Verkündung ein auf die frühere nichtige Satzung
gestützter Beitragsbescheid geheilt werde, sprächen Sachgründe für den im Bayerischen
Kommunalabgabengesetz gewählten zeitlichen Anknüpfungspunkt der Festsetzungsverjährung.
Die Regelung verstoße daher nicht gegen das Willkürverbot.
38
Mit den aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitbaren Grundsätzen der Rechtssicherheit und der
Verhältnismäßigkeit dürfte die Regelung gleichfalls in Einklang stehen. Das Institut der
Festsetzungsverjährung diene dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit (Hinweis auf BFH,
Urteil vom 15. Juni 1988 - I R 68/86 -, BFH/NV 1990, S. 128). Die Anknüpfung des
Verjährungsbeginns an die Verkündung der neuen Satzung führe zwar dazu, dass ein sehr
langer Zeitraum zwischen dem die Beitragsforderung begründenden Sachverhalt und dem
Ablauf der Verjährungsfrist liegen könne. Es sei aber zu bedenken, dass die mit der
Festsetzungsverjährung verfolgten Ziele in einem Spannungsverhältnis zu dem Belang
materieller Gerechtigkeit und dem fiskalischen Interesse an der Durchsetzung des
Abgabenanspruchs stünden. Für die Aufgabe, zwischen den Polen in diesem
Spannungsverhältnis einen verhältnismäßigen Ausgleich zu schaffen, sei dem Gesetzgeber ein
Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Gehe man mit der bisherigen Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts davon aus, dass der Beitragspflichtige sich gegenüber dem
rückwirkenden Inkraftsetzen einer neuen Beitragssatzung nicht auf Vertrauensschutz berufen
könne, und berücksichtige man zusätzlich die besondere Fehleranfälligkeit kommunaler
Beitragssatzungen und das daraus resultierende gesteigerte Interesse an einer effektiven
Nutzbarkeit der Heilungsmöglichkeiten, dürfte sich die Verjährungsregelung des Bayerischen
Kommunalabgabengesetzes innerhalb dieses Gestaltungsspielraums halten.
39
4. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund weist darauf hin, dass der rückwirkende Erlass
einer Satzung, welche die „Reparatur“ einer unwirksamen Satzung bezwecke, eine Ausnahme
darstelle und im vorliegenden Fall verwaltungspraktische Gründe gehabt habe. Die auf der
Grundlage der Beitrags- und Gebührensatzung vom 5. Mai 2000 erlassenen Bescheide wären
sonst im Fall eines Eigentümerwechsels bei einem Teil der früheren Eigentümer bestandskräftig
geworden und hätten bei nicht bestandskräftigen Bescheiden aufgehoben und gegenüber dem
neuen Eigentümer neu erlassen werden müssen. Dadurch wäre es zu Ungleichbehandlungen
gekommen. Der rückwirkende Erlass einer Satzung sei in der Praxis auch dann erforderlich,
wenn andernfalls die Einbringung von Forderungen, zum Beispiel wegen Insolvenz oder
Zwangsversteigerungsverfahren, gefährdet wäre. Eine Rückwirkung erstrecke sich
üblicherweise nicht auf einen Zeitraum von zehn Jahren. Dieser lange Zeitraum ergebe sich im
vorliegenden Fall daraus, dass die Beitrags- und Gebührensatzung vom 18. April 2005 den in
der Vorgängersatzung normierten Rückwirkungszeitpunkt beibehalten habe, was einen
atypischen, sozusagen „verdoppelten“ Rückwirkungszeitraum zur Folge gehabt habe.
B.
40
Die mit der Verfassungsbeschwerde vorgebrachten Rügen sind nur teilweise zulässig.
I.
41
Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seines grundrechtsgleichen Rechts auf
rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG geltend macht, ist die Verfassungsbeschwerde
unzulässig, da sie nicht hinreichend begründet wurde (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG). Der
Beschwerdeführer hat insoweit die Möglichkeit eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht
substantiiert dargelegt (vgl. BVerfGE 7, 95 <99>; 60, 313 <318>; 86, 133 <147>).
II.
42
Soweit die Verfassungsbeschwerde einen Verstoß gegen die aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitenden rechtsstaatlichen Grundsätze der Rechtssicherheit und des
Vertrauensschutzes betrifft, ist sie zulässig.
43
Der Beschwerdeführer war – trotz Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
nach Art. 103 Abs. 1 GG – nicht gehalten, zur Erschöpfung des Rechtswegs gemäß § 90 Abs. 2
Satz 1 BVerfGG eine Anhörungsrüge nach § 152a VwGO zu erheben. Wird im fachgerichtlichen
Rechtsmittelverfahren die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht und
bestätigt das Rechtsmittelgericht die angefochtene Entscheidung, so muss die Entscheidung des
Rechtsmittelgerichts – sofern kein eigenständiger neuer Gehörsverstoß durch das
Rechtsmittelgericht geltend gemacht wird – nicht mit der Anhörungsrüge angegriffen werden, um
dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu genügen (vgl.
BVerfGE 107, 395 <410 f.>).
A.
44
Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist sie auch begründet. Die mittelbar
angegriffene Regelung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2
BayKAG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes vom 28.
Dezember 1992 (GVBl S. 775) sowie die hierauf beruhenden, unmittelbar angegriffenen
gerichtlichen Entscheidungen verstoßen gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem in Art. 20
Abs. 3 GG verankerten verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit in seiner
Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit.
I.
45
1. Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG verletzt im
vorliegenden Fall nicht die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Zulässigkeit rückwirkender
Gesetze.
46
Der rechtsstaatliche Vertrauensschutz begrenzt die Befugnis des Gesetzgebers,
Rechtsänderungen vorzunehmen, die in einen in der Vergangenheit begonnenen, aber noch
nicht abgeschlossenen Sachverhalt eingreifen (vgl. BVerfGE 95, 64 <86 f.>; 101, 239 <263>;
126, 369 <393>).
47
Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG selbst entfaltet
dem Beschwerdeführer gegenüber keine Rückwirkung. Die Vorschrift regelt den Beginn der
Verjährungsfrist für die Festsetzung von Beiträgen, die auf Abgabensatzungen gestützt sind,
welche eine frühere unwirksame Satzung wirksam heilen. Bei ihrem Inkrafttreten zum 1. Januar
1993 lag eine solche wirksam heilende Satzung im Fall des Beschwerdeführers noch nicht vor
und wurde auch später nicht rückwirkend zum oder vor dem 1. Januar 1993 in Kraft gesetzt, so
dass die Verjährungsfrist unabhängig von der Neuregelung noch nicht zu laufen begonnen hatte.
Solange der Lauf der Verjährungsfrist mangels gültiger Satzung nicht begonnen hat, betrifft die
gesetzliche Neuregelung des Beginns der Verjährung mit der Wirkung einer
Verjährungsverlängerung jedoch noch nicht einmal einen in der Vergangenheit begonnenen und
nicht abgeschlossenen Sachverhalt.
48
Die vor dem Inkrafttreten der Neuregelung bereits bestehende Vorteilslage begründet für den
Beschwerdeführer ebenfalls keinen bereits begonnenen Sachverhalt, in den die Neuregelung
des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG im Wege
einer Rückwirkung eingegriffen hätte. Denn die Neuregelung beschränkt sich auf das
Hinausschieben des Beginns der Verjährung. Eine solche konnte ohne wirksame Satzung aber
nicht zu laufen beginnen.
49
2. Sollte der Beschwerdeführer mit Rücksicht auf die unwirksame Satzung auf den Schein eines
Verjährungslaufs vertraut haben, so kann dahinstehen, ob und in welchem Zusammenhang das
Vertrauen in den scheinbaren Beginn der Festsetzungsfrist verfassungsrechtlichen Schutz
verdient. Nach den Feststellungen der Ausgangsgerichte hätte die Festsetzungsfrist selbst bei
Wirksamkeit der unwirksamen Satzung frühestens mit Ablauf des Jahres 1992 begonnen. Das
Gesetz zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes wurde aber bereits am 31. Dezember
1992 und damit sogar noch vor dem scheinbaren Beginn der Festsetzungsfrist verkündet.
II.
50
Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG verstößt jedoch
gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Gebot der Rechtssicherheit als wesentlichem
Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips (vgl. BVerfGE
30, 392 <403>; 43, 242 <286>; 60, 253 <267>). Er erlaubt, Beiträge zeitlich unbegrenzt nach dem
Eintritt der Vorteilslage festzusetzen. Der Gesetzgeber hat damit den Ausgleich zwischen der
Erwartung der Beitragspflichtigen auf den Eintritt der Festsetzungsverjährung und dem
berechtigten öffentlichen Interesse an einem finanziellen Beitrag für die Erlangung individueller
Vorteile aus dem Anschluss an die Entwässerungsanlage verfehlt und in verfassungsrechtlich
nicht mehr hinnehmbarer Weise einseitig zu Lasten der Beitragsschuldner entschieden.
51
1. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz gewährleisten im Zusammenwirken mit den
Grundrechten die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die
Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug (vgl.
BVerfGE 60, 253 <267 f.>; 63, 343 <357>; BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2012
– 1 BvL 6/07 -, DStR 2012, S. 2322 <2325>). Die Bürgerinnen und Bürger sollen die ihnen
gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten
können (vgl. BVerfGE 13, 261 <271>; 63, 215 <223>). Dabei knüpft der Grundsatz des
Vertrauensschutzes an ihr berechtigtes Vertrauen in bestimmte Regelungen an. Er besagt, dass
sie sich auf die Fortwirkung bestimmter Regelungen in gewissem Umfang verlassen dürfen. Das
Rechtsstaatsprinzip gewährleistet darüber hinaus aber unter bestimmten Umständen
Rechtssicherheit auch dann, wenn keine Regelungen bestehen, die Anlass zu spezifischem
Vertrauen geben, oder wenn Umstände einem solchen Vertrauen sogar entgegenstehen. Es
schützt in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und –vorhersehbarkeit davor,
dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur
Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können. Als Elemente des
Rechtsstaatsprinzips sind Rechtssicherheit und Vertrauensschutz eng miteinander verbunden,
da sie gleichermaßen die Verlässlichkeit der Rechtsordnung gewährleisten.
52
2. Für die Auferlegung einer Beitragspflicht zum Vorteilsausgleich in Anknüpfung an
zurückliegende Tatbestände ist die Regelung einer Verjährung als abschließende Zeitgrenze,
bis zu der Beiträge geltend gemacht werden können, verfassungsrechtlich geboten. Dem
Gesetzgeber obliegt es, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Interesse der Allgemeinheit
an Beiträgen für solche Vorteile einerseits und dem Interesse des Beitragsschuldners
andererseits, irgendwann Klarheit zu erlangen, ob und in welchem Umfang er zu einem Beitrag
herangezogen werden kann.
53
a) Ausdruck der Gewährleistung von Rechtssicherheit sind auch Verjährungsregelungen. Sie
sollen sicherstellen, dass Einzelne nach Ablauf einer bestimmten Frist nicht mehr mit
Forderungen überzogen werden. Die Verjährung von Geldleistungsansprüchen der öffentlichen
Hand soll einen gerechten Ausgleich zwischen dem berechtigten Anliegen der Allgemeinheit an
der umfassenden und vollständigen Realisierung dieser Ansprüche auf der einen Seite und dem
schutzwürdigen Interesse der Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite bewirken,
irgendwann nicht mehr mit einer Inanspruchnahme rechnen zu müssen und entsprechend
disponieren zu können. Während das staatliche Interesse an der vollständigen Durchsetzung
von Geldleistungspflichten vornehmlich von den Grundsätzen der richtigen Rechtsanwendung
und der materiellen Gerechtigkeit (Belastungsgleichheit) sowie von fiskalischen Erwägungen
getragen wird, steht dem auf Seiten der Bürger das Prinzip der Rechtssicherheit gegenüber.
54
Dabei ist es den Verjährungsregelungen eigen, dass sie ohne individuell nachweisbares oder
typischerweise vermutetes, insbesondere ohne betätigtes Vertrauen greifen. Sie schöpfen ihre
Berechtigung und ihre Notwendigkeit vielmehr aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit,
demzufolge Einzelne auch gegenüber dem Staat die Erwartung hegen dürfen, irgendwann nicht
mehr mit einer Geldforderung überzogen zu werden, wenn der berechtigte Hoheitsträger über
einen längeren Zeitraum seine Befugnis nicht wahrgenommen hat.
55
b) Auch für die Erhebung von Beiträgen, die einen einmaligen Ausgleich für die Erlangung eines
Vorteils durch Anschluss an eine Einrichtung schaffen sollen, ist der Gesetzgeber verpflichtet,
Verjährungsregelungen zu treffen oder jedenfalls im Ergebnis sicherzustellen, dass diese nicht
unbegrenzt nach Erlangung des Vorteils festgesetzt werden können. Die Legitimation von
Beiträgen liegt – unabhängig von der gesetzlichen Ausgestaltung ihres Wirksamwerdens – in
der Abgeltung eines Vorteils, der den Betreffenden zu einem bestimmten Zeitpunkt zugekommen
ist (vgl. BVerfGE 49, 343 <352 f.>; 93, 319 <344>). Je weiter dieser Zeitpunkt bei der
Beitragserhebung zurückliegt, desto mehr verflüchtigt sich die Legitimation zur Erhebung solcher
Beiträge. Zwar können dabei die Vorteile auch in der Zukunft weiter fortwirken und tragen nicht
zuletzt deshalb eine Beitragserhebung auch noch relativ lange Zeit nach Anschluss an die
entsprechende Einrichtung. Jedoch verliert der Zeitpunkt des Anschlusses, zu dem der Vorteil,
um dessen einmalige Abgeltung es geht, dem Beitragspflichtigen zugewendet wurde, deshalb
nicht völlig an Bedeutung. Der Bürger würde sonst hinsichtlich eines immer weiter in die
Vergangenheit rückenden Vorgangs dauerhaft im Unklaren gelassen, ob er noch mit
Belastungen rechnen muss. Dies ist ihm im Lauf der Zeit immer weniger zumutbar. Der
Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet vielmehr, dass ein Vorteilsempfänger in zumutbarer Zeit
Klarheit darüber gewinnen kann, ob und in welchem Umfang er die erlangten Vorteile durch
Beiträge ausgleichen muss.
56
c) Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am
Vorteilsausgleich und der Einzelnen an Rechtssicherheit durch entsprechende Gestaltung von
Verjährungsbestimmungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Dabei steht ihm ein
weiter Gestaltungsspielraum zu. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es dem
Gesetzgeber jedoch, die berechtigten Interessen des Bürgers völlig unberücksichtigt zu lassen
und ganz von einer Regelung abzusehen, die der Erhebung der Abgabe eine bestimmte
zeitliche Grenze setzt.
57
3. Der Gesetzgeber hat in Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2
BayKAG den erforderlichen Ausgleich zwischen Rechtssicherheit auf der einen Seite und
Rechtsrichtigkeit und Fiskalinteresse auf der anderen Seite verfehlt. Dadurch, dass Art. 13 Abs. 1
Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG den Verjährungsbeginn bei der
Heilung ungültiger Abgabensatzungen ohne zeitliche Obergrenze auf den Ablauf des
Kalenderjahres festlegt, in dem die gültige Satzung bekannt gemacht worden ist, löst der
Gesetzgeber den Interessenkonflikt einseitig zu Lasten des Bürgers. Zwar schließt er damit die
Verjährung von Beitragsansprüchen nicht völlig aus. Indem er den Verjährungsbeginn jedoch
ohne zeitliche Obergrenze nach hinten verschiebt, lässt er die berechtigte Erwartung des
Bürgers darauf, geraume Zeit nach Entstehen der Vorteilslage nicht mehr mit der Festsetzung
des Beitrags rechnen zu müssen, gänzlich unberücksichtigt. Die Verjährung kann so unter
Umständen erst Jahrzehnte nach dem Eintritt einer beitragspflichtigen Vorteilslage beginnen.
58
Der Beitragspflicht können die Bürgerinnen und Bürger im Regelfall nicht durch den Einwand
der Verwirkung entgehen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
(vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. August 2011 – BVerwG 3 B 36.11 -, BeckRS 2011, 53777;
Beschluss vom 12. Januar 2004 – BVerwG 3 B 101.03 -, NVwZ-RR 2004, S. 314) und des
Bundesfinanzhofs (vgl. BFH, Urteil vom 8. Oktober 1986 – II R 167/84 -, BFHE 147, 409 <412>)
erfordert Verwirkung nicht nur, dass seit der Möglichkeit der Geltendmachung eines Rechts
längere Zeit verstrichen ist. Es müssen vielmehr besondere Umstände hinzutreten, welche die
verspätete Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen. Diese Voraussetzung dürfte selbst
in den Fällen der Beitragserhebung nach scheinbarem Ablauf der Festsetzungsfrist regelmäßig
nicht erfüllt sein.
B.
I.
59
Die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift führt in der Regel zu ihrer Nichtigkeit
(§ 95 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG). Hier kommt zunächst jedoch nur eine Unvereinbarkeitserklärung
in Betracht, da dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, den
verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen (vgl. BVerfGE 130, 240 <260 f.>; stRspr).
60
Es bleibt ihm überlassen, wie er eine bestimmbare zeitliche Obergrenze für die
Inanspruchnahme der Beitragsschuldner gewährleistet, die nach Maßgabe der Grundsätze
dieses Beschlusses der Rechtssicherheit genügt. So könnte er etwa eine Verjährungshöchstfrist
vorsehen, wonach der Beitragsanspruch nach Ablauf einer auf den Eintritt der Vorteilslage
bezogenen, für den Beitragsschuldner konkret bestimmbaren Frist verjährt. Er könnte auch das
Entstehen der Beitragspflicht an die Verwirklichung der Vorteilslage anknüpfen oder den
Satzungsgeber verpflichten, die zur Heilung des Rechtsmangels erlassene wirksame Satzung
rückwirkend auf den Zeitpunkt des vorgesehenen Inkrafttretens der ursprünglichen nichtigen
Satzung in Kraft zu setzen, sofern der Lauf der Festsetzungsverjährung damit beginnt (vgl.
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Mai 1999 - 15 A 2880/96 -, NVwZ-RR 2000, S. 535
<536 f.>). Er kann dies mit einer Verlängerung der Festsetzungsfrist, Regelungen der
Verjährungshemmung oder der Ermächtigung zur Erhebung von Vorauszahlungen auch in
Fällen unwirksamer Satzungen verbinden (zur derzeitigen Rechtslage gemäß Art. 5 Abs. 5
BayKAG vgl. BayVGH, Urteil vom 31. August 1984 – 23 B 82 A.461 -, BayVBl 1985, S. 211;
Driehaus, in: Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 128 ).
II.
61
Der angegriffene Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist gemäß § 95 Abs. 2
BVerfGG aufzuheben. Die Sache ist an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof
zurückzuverweisen. Die Unvereinbarkeitserklärung führt dazu, dass Art. 13 Abs. 1 Nr. 4
Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG von Gerichten und
Verwaltungsbehörden nicht mehr angewendet werden darf (vgl. BVerfGE 111, 115 <146>).
Laufende Gerichts- und Verwaltungsverfahren, in denen Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b
Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG entscheidungserheblich ist, bleiben bis zu einer
gesetzlichen Neuregelung, längstens aber bis zum 1. April 2014, ausgesetzt oder sind
auszusetzen.
62
Die Aussetzung gibt dem Gesetzgeber Gelegenheit zu einer verfassungsgemäßen Neuregelung.
Verzichtet er auf eine Sonderregelung des Beginns der Festsetzungsfrist, tritt zum 1. April 2014
Nichtigkeit ein. Dann wäre es Aufgabe der Verwaltungsgerichte, das Landesrecht entsprechend
verfassungskonform auszulegen (vgl. etwa für den Fall des rückwirkenden Inkraftsetzens
heilender Satzungen BayVGH 6. Senat, Urteil vom 26. März 1984 - 6 B 82 A.1075 -, BayGT
1985, S. 60).
III.
63
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Kirchhof
Gaier
Eichberger
Schluckebier
Masing
Paulus
Baer
Britz