Urteil des BVerfG vom 28.02.2007

BVerfG: künstliche befruchtung, anpassung der leistungen, schwangerschaft, recht auf leben, schutz des lebens, krankenkasse, private krankenversicherung, psychotherapeutische behandlung

Entscheidungen
L e i t s a t z
zum Urteil des Ersten Senats
vom 28. Februar 2007
- 1 BvL 5/03 -
Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, dass § 27 a Abs. 1 Nr. 3 SGB V die Leistung medizinischer Maßnahmen zur
Herbeiführung einer Schwangerschaft (künstliche Befruchtung) durch die gesetzliche Krankenversicherung auf
Personen beschränkt, die miteinander verheiratet sind.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvL 5/03 -
Verkündet
am 28. Februar 2007
Kehrwecker
Amtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
zur verfassungsrechtlichen Prüfung,
ob § 27 a Abs. 1 Nr. 3 und 4 SGB V, wonach die Leistung medizinischer Maßnahmen zur Herbeiführung einer
Schwangerschaft (künstliche Befruchtung) durch die gesetzliche Krankenversicherung auf Personen beschränkt ist,
die miteinander verheiratet sind, und Ei- und Samenzellen nur von Ehegatten verwendet werden dürfen, mit dem
Grundgesetz vereinbar ist,
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 28. März 2003 (S 8 KR 87/02) -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung
des Präsidenten Papier,
des Richters Steiner,
der Richterin Hohmann-Dennhardt
und der Richter Hoffmann-Riem,
Bryde,
Gaier,
Eichberger,
Schluckebier
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21. November 2006
durch
Urteil
für Recht erkannt:
§ 27 a Absatz 1 Nummer 3 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ist mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit die
Leistung medizinischer Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft (künstliche Befruchtung) durch die
gesetzliche Krankenversicherung auf Personen beschränkt ist, die miteinander verheiratet sind.
Gründe:
1
Das Vorlageverfahren betrifft die Frage, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dass § 27 a Abs. 1 Nr. 3 und 4
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) die Leistung medizinischer Maßnahmen zur Herbeiführung einer
Schwangerschaft (künstliche Befruchtung) durch die gesetzliche Krankenversicherung auf Personen beschränkt, die
miteinander verheiratet sind, und ausschließlich Ei- und Samenzellen der Ehegatten zur Verwendung zulässt.
I.
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1. Die Finanzierung von medizinischen Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft (künstliche
Befruchtung) wird als Leistung der gesetzlichen Krankenkasse durch das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch geregelt.
Rechtsgrundlage ist § 27 a SGB V, der durch das Gesetz über die neunzehnte Anpassung der Leistungen nach dem
Bundesversorgungsgesetz sowie zur Änderung weiterer sozialrechtlicher Vorschriften (KOV-Anpassungsgesetz 1990 -
KOVAnpG 1990) vom 26. Juni 1990 (BGBl I S. 1211) rückwirkend zum 1. Januar 1989 in das Recht der gesetzlichen
Krankenversicherung aufgenommen wurde. Die Vorschrift wurde zuletzt durch Art. 1 Nr. 14 des Gesetzes zur
Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz - GMG) vom 14. November 2003
(BGBl I S. 2190) geändert. Einen Anspruch auf die Leistung medizinischer Maßnahmen zur Herbeiführung einer
Schwangerschaft haben nur Versicherte, die das 25. Lebensjahr vollendet haben. Der Leistungsanspruch besteht
nicht für weibliche Versicherte, die das 40., und für männliche Versicherte, die das 50. Lebensjahr vollendet haben.
Die Zahl der von der Krankenkasse finanzierten Befruchtungsversuche wurde von vier auf drei reduziert. Die
Leistungspflicht der Krankenkasse wurde auf 50 vom Hundert der entstehenden Kosten beschränkt. § 27 a SGB V hat
nunmehr folgenden Wortlaut:
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§ 27 a
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Künstliche Befruchtung
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(1) Die Leistungen der Krankenbehandlung umfassen auch medizinische Maßnahmen zur
Herbeiführung einer Schwangerschaft, wenn
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1. diese Maßnahmen nach ärztlicher Feststellung erforderlich sind,
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2. nach ärztlicher Feststellung hinreichende Aussicht besteht, dass durch die Maßnahmen
eine Schwangerschaft herbeigeführt wird; eine hinreichende Aussicht besteht nicht mehr, wenn
die Maßnahme drei Mal ohne Erfolg durchgeführt worden ist,
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3. die Personen, die diese Maßnahmen in Anspruch nehmen wollen, miteinander verheiratet
sind,
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4. ausschließlich Ei- und Samenzellen der Ehegatten verwendet werden und
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5. sich die Ehegatten vor Durchführung der Maßnahmen von einem Arzt, der die Behandlung
nicht selbst durchführt, über eine solche Behandlung unter Berücksichtigung ihrer
medizinischen und psychosozialen Gesichtspunkte haben unterrichten lassen und der Arzt sie
an einen der Ärzte oder eine der Einrichtungen überwiesen hat, denen eine Genehmigung nach
§ 121 a erteilt worden ist.
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(2) Absatz 1 gilt auch für Inseminationen, die nach Stimulationsverfahren durchgeführt werden
und bei denen dadurch ein erhöhtes Risiko von Schwangerschaften mit drei oder mehr
Embryonen besteht. Bei anderen Inseminationen ist Absatz 1 Nr. 2 zweiter Halbsatz und Nr. 5
nicht anzuwenden.
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(3) Anspruch auf Sachleistungen nach Absatz 1 besteht nur für Versicherte, die das 25.
Lebensjahr vollendet haben; der Anspruch besteht nicht für weibliche Versicherte, die das 40.
und für männliche Versicherte, die das 50. Lebensjahr vollendet haben. Vor Beginn der
Behandlung ist der Krankenkasse ein Behandlungsplan zur Genehmigung vorzulegen. Die
Krankenkasse übernimmt 50 vom Hundert der mit dem Behandlungsplan genehmigten Kosten
der Maßnahmen, die bei ihrem Versicherten durchgeführt werden.
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(4) Der Gemeinsame Bundesausschuss bestimmt in den Richtlinien nach § 92 die
medizinischen Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang der Maßnahmen nach
Absatz 1.
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2. In der Bundesrepublik Deutschland wurden in den Jahren 2003 rund 105.000, 2004 rund 60.000 und 2005 rund
56.000 Behandlungen zur künstlichen Befruchtung (In-vitro-Fertilisation - IVF) durchgeführt (Deutsches IVF-Register,
Jahrgang 2005, S. 6). Im Jahr 2003 kamen etwa 16.000 künstlich gezeugte Kinder zur Welt (Dt.Ärztebl. 2005, S. A
398), 2004 rund 10.000 (Deutsches IVF-Register, Jahrgang 2005, S. 14). Die intrazytoplasmatische Spermieninjektion
(ICSI) ist im Rahmen der extrakorporalen Befruchtung ein besonderes Verfahren zur Behandlung der Kinderlosigkeit;
nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSGE 88, 62) ist es eine medizinische Maßnahme im Sinne des
§ 27 a SGB V. Bei diesem Verfahren wird eine menschliche Samenzelle in eine menschliche Eizelle injiziert mit dem
Ziel, eine Schwangerschaft bei der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt (näher dazu BSG, a.a.O.;
Felberbaum/Küpker/Diedrich, Dt.Ärztebl. 2004, S. A 95 ; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl. 2003,