Urteil des BVerfG vom 27.01.2006

BVerfG: wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, aufschiebende wirkung, versammlung, öffentliche sicherheit, öffentliche ordnung, veranstaltung, gefährdung, rechtsschutz, flugblatt

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvQ 4/06-
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
den Antrag,
im Wege der einstweiligen Anordnung
unter Aufhebung der Beschlüsse des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. Januar 2006
- 5 B 138/06 - und des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 26. Januar 2006 - 14 L 101/06 - die aufschiebende
Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verbotsverfügung des Polizeipräsidiums Dortmund vom
24. Januar 2006 - VL 1.29-60.13.04(231)-153/05 - wiederherzustellen
Antragsteller: Herr G...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwältin Gisa Pahl,
Dahlengrund 55 e, 21077 Hamburg -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Steiner
Hoffmann-Riem,
und Gaier
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August
1993 (BGBl I S. 1473) am 27. Januar 2006 einstimmig beschlossen:
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 25. Januar 2006 gegen die
Verbotsverfügung des Polizeipräsidiums Dortmund vom 24. Januar 2006 - VL 1.29-60.13.04(231)-153/05 wird
wiederhergestellt.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
1
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft ein für sofort vollziehbar erklärtes Versammlungsverbot.
Die Kammer hat die Begründung ihrer Entscheidung gemäß § 32 Abs. 5 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG
nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich abgefasst.
I.
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1. Der Antragsteller meldete mit Schreiben vom 1. Oktober 2005 sein Vorhaben an, in Dortmund am 28. Januar 2006
eine Versammlung unter freiem Himmel durchzuführen. Sie sollte das Motto "Gegen staatliche Repression - weg mit
dem § 130 StGB" tragen und war als Aufzug durch den Stadtbereich Dortmund geplant.
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Nach zwei am 19. Dezember 2005 und 6. Januar 2006 geführten Kooperationsgesprächen genehmigte die
Versammlungsbehörde - die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens (nachfolgend: die Antragsgegnerin) - die
angemeldete Versammlung unter Auflagen. Mit Bescheid vom 24. Januar 2006 untersagte die Antragsgegnerin jedoch
unter Aufhebung ihres vorherigen Bescheids die Durchführung der Versammlung sowie jede Form von
Ersatzveranstaltungen und ordnete die sofortige Vollziehung an. Die auf § 15 Abs. 1 VersG gestützte
Verbotsverfügung wurde damit begründet, dass die Durchführung der Versammlung die öffentliche Sicherheit und
Ordnung unmittelbar gefährde. Dabei berief die Antragsgegnerin sich insbesondere auf Beschlüsse des
Verwaltungsgerichts Lüneburg (Beschluss vom 20. Januar 2006 - 3 B 3/06 -) und des Oberverwaltungsgerichts
Lüneburg (Beschluss vom 24. Januar 2006 - 11 ME 20/06 -).
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2. Einen Eilantrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen
die Verbotsverfügung lehnte das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen mit Beschluss vom 26. Januar 2006 ab. Zur
Begründung führte es aus, die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin sei offensichtlich rechtmäßig. Die
Voraussetzungen eines auf § 15 Abs. 1 VersG gestützten Versammlungsverbots lägen vor. Es werde ausdrücklich
offen gelassen, ob die Annahme der Versammlungsbehörde tragfähig sei, dass bei einer Gesamtwürdigung von
Thema der Veranstaltung und Inhalt der zur Ankündigung der Versammlung vorgesehenen Flugblätter die öffentliche
Sicherheit unmittelbar gefährdet werde. Jedenfalls gefährde die Durchführung der Versammlung die öffentliche
Ordnung unmittelbar. Mit den Erwägungen der von der Antragsgegnerin in Bezug genommenen
Gerichtsentscheidungen sei auch im Hinblick auf die vorliegende Veranstaltung davon auszugehen, dass eine
Kundgebung einen Tag nach dem Holocaust-Gedenktag, dem 27. Januar 2006, zu einer nicht hinnehmbaren
Provokation der grundlegenden sittlichen, sozialen und ethischen Anschauungen der Bevölkerung in Deutschland und
zu einer Störung der öffentlichen Ordnung führe. Zudem habe einer der Anmelder der Versammlung ein Flugblatt
herausgegeben, mit dem zur Teilnahme an der Versammlung aufgerufen und zugleich die "vor kurzem" erfolgte
Verurteilung eines "politisch aktiven Nationalsozialisten in Nordrhein-Westfalen auf Grund von Meinungsäußerungen
unter Heranziehung des § 130 StGB zu zwei Jahren und neun Monaten Haft" kritisiert werde. Die perfide
Verharmlosung der rechtskräftig abgeurteilten Äußerung durch den Inhalt des Flugblatts erhärte die nicht hinnehmbare
Provokationswirkung der geplanten Versammlung zusätzlich.
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3. Die gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen eingelegte Beschwerde, mit der auch die
Hinnahme erforderlicher Auflagen ausdrücklich angeboten wurde, wies das Oberverwaltungsgericht für das Land
Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 27. Januar 2006 zurück. Dem Oberverwaltungsgericht lag ein am Tag zuvor
von der 1. Kammer des Ersten Senats (1 BvQ 3/06) erlassener Beschluss vor, durch den das
Bundesverfassungsgericht im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG die aufschiebende
Wirkung des Rechtsbehelfs wiederhergestellt hatte, mit dem sich der Veranstalter der für Lüneburg geplanten
Versammlung gegen das dortige Verbot gewandt hatte.
6
Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen fällt die Interessenabwägung nach
§ 80 Abs. 5 VwGO zu Lasten des Antragstellers aus, da sich die angegriffene Verbotsverfügung als offensichtlich
rechtmäßig erweise. Sie finde ihre Rechtsgrundlage in § 15 Abs. 1 VersG.
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Eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ergebe sich daraus, dass die auf Flugblättern und im
Internet verbreitete Einladung zur Versammlung den Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 4 StGB erfülle.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift seien hier gegeben, da der Flugblattverantwortliche und
weitere Anmelder der Versammlung nicht allein eine vor kurzem erfolgte Verurteilung eines Dritten wegen
Volksverhetzung kritisiert hätten; vielmehr werde diese Straftat weitergehend in unerträglicher Weise verharmlost,
wenn sie in dem Flugblatt als gerechte und wahrheitsgetreue Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
hingestellt werde. Damit mache sich der Verfasser des Flugblatts Äußerungen zu Eigen, für die dieser Dritte zuvor zu
Recht nach § 130 StGB verurteilt worden sei. Zudem mache der Verfasser dieses Flugblatts deutlich, dass in der
angemeldeten Versammlung die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft zumindest gebilligt werden solle.
Durch Erteilung von Auflagen könne dieser Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht entgegen gewirkt werden, da
der verwaltungsgerichtliche Streitgegenstand durch die aus dem grundrechtlichen Selbstbestimmungsrecht des
Versammlungsleiters über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung resultierende Verantwortung des
Veranstalters für die kommunikativen Inhalte der Versammlung begrenzt werde. Deshalb scheide die Erteilung solcher
Auflagen von vornherein aus.
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Unabhängig hiervon und selbständig tragend sei bei Durchführung der angemeldeten Versammlung eine unmittelbare
Gefährdung der öffentlichen Ordnung gegeben, die schon für sich genommen das ausgesprochene
Versammlungsverbot rechtfertige. Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Brokdorf-Beschluss (BVerfGE 69,
315 <352 f.>) ein gemäß § 15 Abs. 1 VersG auf eine drohende Gefährdung der öffentlichen Ordnung gestütztes
Verbot von Versammlungen nur im Allgemeinen, jedoch nicht ausnahmslos ausgeschlossen. Ein solcher
Ausnahmefall folge hier im Wege einer Gesamtschau aller die Versammlung prägenden Einzelmomente aus der
besonderen, nicht hinnehmbaren Provokationswirkung der beabsichtigten Veranstaltung. Entgegen der in dem
Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2006 - 1 BvQ 3/06 - vertretenen Auffassung bedeute es
einen denklogischen Bruch, allein aus der (vermeintlichen) Unbedenklichkeit einzelner Umstände (Ort, Zeitpunkt und
Thema der Versammlung) im Rahmen einer isolierten Betrachtung die rechtliche Unbedenklichkeit der Demonstration
als solcher zu folgern. Die Versammlung stelle ein einheitliches Ganzes dar, dessen maßgebliches Gepräge sich erst
aus einer Gesamtschau und -bewertung dieser Einzelaspekte (insbesondere der zeitlichen Nähe zum Holocaust-
Gedenktag) ergebe.
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4. Seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG begründet der Antragsteller wie folgt:
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Versammlungsverbot und Entscheidungen der Verwaltungsgerichte seien rechtswidrig und verletzten den
Antragsteller in seinen Grundrechten aus Art. 8 und Art. 5 GG. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts habe
den Aussagen des Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 26. Januar 2006 (1 BvQ 3/06) nicht hinreichend
Rechnung getragen, da der hier zu beurteilende Fall in verfassungsrechtlicher Hinsicht gleich gelagert gewesen sei.
Der von dem Oberverwaltungsgericht erstmals geltend gemachten Gefährdung der öffentlichen Sicherheit habe hier
etwa durch die Auflage entgegen gewirkt werden können, während der Versammlung keinen konkreten Bezug zu
einzelnen nach § 130 StGB erfolgten Verurteilungen herzustellen. Der Antragsteller sei während des gesamten
Verfahrens zur Kooperation mit der Versammlungsbehörde und den Gerichten bereit gewesen.
II.
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Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige
Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus
einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat
allerdings keinen Erfolg, wenn eine Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist (vgl.
BVerfGE 88, 169 <171 f.>; 91, 328 <332>). Das ist vorliegend nicht der Fall.
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Im Eilrechtsschutzverfahren sind die erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde zu
berücksichtigen, wenn - wie hier - aus Anlass eines Versammlungsverbots über einen Antrag auf einstweiligen
Rechtsschutz zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs zu entscheiden ist und ein
Abwarten bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder des Hauptsacheverfahrens den
Versammlungszweck mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte. Ergibt die Prüfung im Eilrechtsschutzverfahren, dass
eine Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet wäre, läge in der Nichtgewährung von Rechtsschutz der
schwere Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG (vgl. BVerfGE 111, 147 <152 f.>).
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2. Die dem Bundesverfassungsgericht im Eilrechtsverfahren allein mögliche vorläufige Prüfung lässt eine
Rechtsgrundlage für das ausgesprochene Versammlungsverbot nicht erkennen. Die Argumentation des
Oberverwaltungsgerichts ist in rechtlicher Hinsicht offensichtlich nicht tragfähig.
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a) Soweit das Oberverwaltungsgericht seine Entscheidung darauf stützt, dass das zur Teilnahme an der
Versammlung aufrufende Flugblatt einen nach § 130 Abs. 4 StGB strafbaren Inhalt aufweise, der auch die
Versammlung prägen werde, liegt dem eine mit Art. 103 Abs. 1 GG unvereinbare Überraschungsentscheidung zu
Grunde. Sie hat es dem Antragsteller unmöglich gemacht, selbst zu bestimmen, ob er die geplante Versammlung
unter Auflagen durchführen möchte, die nicht zu der vom Oberverwaltungsgericht angenommenen Strafbarkeit führen.
Damit ist auch Art. 8 Abs. 1 GG verletzt.
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aa) In dem beim Oberverwaltungsgericht durchzuführenden Beschwerdeverfahren sind gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6
VwGO nur die mit der Beschwerde dargelegten Gründe zu prüfen. Der Antragsteller kann seine Beschwerde allerdings
nur auf tatsächliche Umstände oder rechtliche Bewertungen stützen, die in der angegriffenen Entscheidung enthalten
sind. Ob das Beschwerdegericht seine Entscheidung gleichwohl auf eine andere rechtliche Begründung als die
Vorinstanz stützen darf, ist eine Frage einfachen Rechts (bejahend etwa VGH Mannheim, NVwZ-RR 2006, S. 75 <76>
m.w.N.). Wird diese bejaht, bleibt der Grundsatz rechtlichen Gehörs gleichwohl beachtlich (vgl. BVerfGE 65, 227
<233>). Ein Absehen von der Gewährung rechtlichen Gehörs ist allein dort zulässig, wo der Schutz gewichtiger
Interessen die Überraschung eines Beteiligten unabweisbar erfordert (vgl. BVerfGE 49, 329 <342>). Diese Grundsätze
sind auch auf Eilverfahren anzuwenden, deren tatsächliche Auswirkungen das Ergebnis der Entscheidung im
Hauptsacheverfahren vorwegnehmen (vgl. BVerfGE 65, 227 <235 f.>).
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Art und Umfang des nach Art. 103 Abs. 1 GG zu gewährenden rechtlichen Gehörs hängen nicht davon ab, ob neue
Tatsachen und Beweisergebnisse vorliegen. Wird dem Rechtsstreit durch eine erstmals von dem Gericht angeführte
Rechtsansicht eine Wendung gegeben, mit welcher der betroffene Beteiligte auch unter Berücksichtigung der Vielfalt
vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem Gang des bisherigen Verfahrens nicht zu rechnen brauchte, so hat das
Gericht auf seine Rechtsauffassung hinzuweisen und eine Möglichkeit zur Stellungnahme zu eröffnen (vgl. BVerfGE
84, 188 <191>; 86, 133 <144>; 98, 218 <263>).
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bb) Diesen Anforderungen hat das Oberverwaltungsgericht nicht hinreichend Rechnung getragen.
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(1) Das Gericht hat seine Entscheidung, soweit es eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit bejaht, darauf
gestützt, dass das Flugblatt selbst den Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 4 StGB) erfülle und dass mittels
des Flugblatts zugleich deutlich gemacht werde, in der angemeldeten Versammlung solle die nationalsozialistische
Gewalt- und Willkürherrschaft zumindest gebilligt werden. Die Strafbarkeit des Inhalts des Flugblatts war bisher weder
in der behördlichen Verfügung noch in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts angenommen worden. Sie drängte
sich allein nach dem Text des Flugblatts - also ohne die vom Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss
vorgenommene Hinzufügung von Äußerungen, derentwegen ein anderer im Flugblatt erwähnter Rechtsextremist
wegen Volksverhetzung verurteilt worden war - nicht auf. Dies findet seine Bestätigung auch darin, dass die
zuständige Staatsanwaltschaft Dortmund ein von der Staatsschutzabteilung der Polizei ausgelöstes
Ermittlungsverfahren gegen den Antragsteller schon einige Tage vor der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts
mangels strafrechtlicher Relevanz des Flugblatts eingestellt hatte (155 Js 23/06).
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Angesichts dieser Umstände handelt es sich bei der Argumentation des Oberverwaltungsgerichts um eine Art. 103
Abs. 1 GG verletzende Überraschungsentscheidung.
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(2) Durch sie ist die Möglichkeit vereitelt worden, die vom Oberverwaltungsgericht angenommene Gefahr durch ein
milderes Mittel als ein Verbot auszuräumen und damit die Voraussetzungen für eine Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung zu schaffen.
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Dass der Antragsteller eine ihm günstigere Entscheidung hätte erreichen können, wäre ihm Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben worden, lässt sich hier schon deshalb nicht ausschließen, weil er im Beschwerdeverfahren
und in der Antragsschrift für das hiesige Verfahren ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass als milderes Mittel
gegenüber einem Verbot Auflagen hinsichtlich des Umgangs mit dem vom Oberverwaltungsgericht in Bezug
genommenen Urteil, das die Verurteilung wegen Volksverhetzung betraf, in Betracht gekommen wäre.
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(3) Das Oberverwaltungsgericht hat die Möglichkeit, der von ihm erstmals gesehenen Beeinträchtigung der
öffentlichen Sicherheit durch geeignete Auflagen entgegen zu wirken, allein deshalb ausgeschlossen, weil der
Antragsteller sich im gerichtlichen Eilverfahren an der einmal von ihm gewählten thematischen Ausrichtung der
Versammlung festhalten lassen müsse. Mit dieser Erwägung hat das Gericht dem Grundrecht des Art. 8 Abs. 1 GG
nicht hinreichend Rechnung getragen.
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Von Art. 8 Abs. 1 GG wird das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters über Art und Inhalt der Veranstaltung
gewährleistet (vgl. BVerfGE 69, 315 <343>). Aus dem Selbstbestimmungsrecht folgt, dass der Veranstalter sein
Versammlungsanliegen auch während des behördlichen oder gerichtlichen Verfahrens noch jederzeit eigenständig
konkretisieren darf. Die im behördlichen Verfahren geltenden, die Handhabung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
mitbestimmenden Kooperationsobliegenheiten (vgl. BVerfGE 69, 315 <355>) setzen sich im gerichtlichen Eilverfahren
als Anforderungen an die gerichtliche Verfahrensführung fort. Die Gerichte dürfen dem Antragsteller daher nicht die
Möglichkeit nehmen, selbst zu bestimmen, ob er die Veranstaltung unter Hinnahme solcher Auflagen durchführen will,
die sich erst aufgrund eines seitens des Gerichts im Verfahren erfolgten Austauschs der rechtlichen Begründung für
das Verbot als erforderlich erweisen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2001 -
1 BvQ 13/01 -, NJW 2001, S. 2069 <2071 f.>).
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b) Als gleichfalls nicht tragfähig erweist sich die weitere Begründung des Oberverwaltungsgerichts, wonach von einer
Störung der öffentlichen Ordnung auszugehen sei.
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Insoweit hat das Oberverwaltungsgericht die in § 31 Abs. 1 BVerfGG angeordnete Bindungswirkung einer hier
einschlägigen verfassungsgerichtlichen Entscheidung nicht beachtet und ist damit seiner in Art. 20 Abs. 3 GG
angeordneten Gesetzesbindung nicht gerecht geworden.
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aa) Verkennt ein Fachgericht den Umfang der in § 31 Abs. 1 BVerfGG angeordneten Bindung an einschlägige
verfassungsgerichtliche Entscheidungen, so liegt darin ein Verstoß gegen seine in Art. 20 Abs. 3 GG angeordnete
Bindung an Gesetz und Recht (vgl. BVerfGE 40, 88 <94>). Zugleich verletzt dies den Betroffenen in der
grundrechtlichen Gewährleistung, auf welche sich die bindend gewordenen Aussagen der verfassungsgerichtlichen
Rechtsprechung beziehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. Dezember 2004 - 1
BvR 2495/04 -, NVwZ 2005, S. 439).
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Gemäß § 93 d Abs. 2 Satz 1 BVerfGG kann die Kammer, soweit der Senat nicht über die Annahme einer
Verfassungsbeschwerde entschieden hat, alle das Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffenden Entscheidungen
erlassen. Allerdings kann nur der Senat eine einstweilige Anordnung erlassen, mit der die Anwendung eines Gesetzes
ganz oder teilweise ausgesetzt wird (§ 93 d Abs. 2 Satz 2 1. Halbsatz BVerfGG). Darum geht es hier nicht.
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Eine stattgebende Kammerentscheidung steht der Entscheidung des Senats gleich (§ 93 c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Dies schließt die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG ein (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten
Senats vom 15. Dezember 2004 - 1 BvR 2495/04 -, NVwZ 2005, S. 439).Zu den das
Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffenden Entscheidungen gehören auch Eilentscheidungen nach § 32 Abs. 1
BVerfGG. Eine stattgebende Eilentscheidung nimmt im Ausmaß ihrer Bindungsfähigkeit an der Bindungswirkung des
§ 31 Abs. 1 BVerfGG teil (vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 31 Rn. 84
2001>; Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl., 2001, Rn. 1228; Pestalozza,
Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., 1991, S. 256), und zwar gemäß § 93 d Abs. 2 Satz 1 BVerfGG auch eine
Entscheidung einer Kammer.
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Wie weit der bindungsfähige Gehalt von Eilentscheidungen reicht, bedarf hier keiner grundsätzlichen Klärung.
Bindungsfähig ist eine Eilentscheidung jedenfalls nur unter Beachtung des summarischen Charakters der rechtlichen
Prüfung und nur bis zur Entscheidung in der Hauptsache. Im Hinblick auf eine im einstweiligen Rechtsschutz zu
treffende Entscheidung der Fachgerichte, der eine umfassende und abschließende Sachprüfung ebenfalls nicht zu
Grunde liegen kann, steht der summarische Charakter einer Entscheidung im Eilverfahren der Bindungswirkung für die
Fachgerichte nicht entgegen. Enthalten verfassungsgerichtliche Entscheidungen im Eilrechtsschutz Ausführungen zur
Auslegung und Anwendung von Verfassungsrechtsnormen - wie häufig versammlungsrechtliche Entscheidungen, die
in vielem in ihrer praktischen Bedeutung einer Hauptsacheentscheidung nahe kommen (vgl. BVerfGE 69, 315 <364>;
110, 77 <87>) - sind die Fachgerichte bei ihren Eilentscheidungen daran gebunden. Die verfassungsgerichtliche
Entscheidung ist somit von den Fachgerichten auch über den konkreten Ausgangsfall hinaus zu beachten.
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Bindend für die Fachgerichte sind danach die verfassungsrechtlichen Feststellungen über die offensichtliche
Rechtswidrigkeit einer Auslegung oder Anwendung des Verfassungsrechts durch ein Fachgericht. Es ist dem
Fachgericht daher verwehrt, davon abzuweichen und für einen rechtlich und tatsächlich vergleichbar gelagerten
Sachverhalt den in Frage stehenden Hoheitsakt als offensichtlich rechtmäßig zu bewerten und deshalb zu einer dem
Antragsteller nachteiligen Entscheidung zu gelangen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom
5. September 2003 - 1 BvQ 32/03 -, NVwZ 2004, S. 90 <92>).
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bb) Das Oberverwaltungsgericht hat sich in Widerspruch zu hiernach bindenden Aussagen des Beschlusses der 1.
Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2006 - 1 BvQ 3/06 - gesetzt, als es eine das Versammlungsverbot
selbständig tragende Gefährdung der öffentlichen Ordnung angenommen hat.
33
In dem Beschluss vom 26. Januar 2006 war einstweiliger Rechtsschutz im Hinblick auf eine Versammlung gewährt
worden, die bezogen auf die der Prüfung einer Verletzung der öffentlichen Ordnung maßgebenden Umstände in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der in Dortmund geplanten glich. Beide Versammlungen waren für den
28. Januar 2006, also einen Tag nach dem Holocaust-Gedenktag, vorgesehen. Veranstalter und voraussichtliche
Teilnehmer waren Rechtsextremisten. Dass das Motto der für Dortmund geplanten Veranstaltung anders als das für
Lüneburg ausdrücklich auf die Abschaffung von § 130 StGB zielte, war für die rechtliche Bewertung ohne Belang, da
das für die Versammlung in Lüneburg vorgesehene Motto von den Gerichten so ausgelegt wurde, dass es den
gleichen Inhalt hatte.
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Das Bundesverfassungsgericht hatte unter Verweis auf die bisherige verfassungsgerichtliche Rechtsprechung
dargelegt, dass diese Umstände nicht ausreichen, um eine Verletzung der öffentlichen Ordnung annehmen zu können.
Dem Oberverwaltungsgericht lag diese Entscheidung im Wortlaut vor. Die von ihm vorgenommene rechtliche
Würdigung widersprach den nach § 31 Abs. 1 BVerfGG bindenden Aussagen des Bundesverfassungsgerichts,
wonach eine Störung der öffentlichen Ordnung durch Versammlungen von Rechtsextremisten nicht aus einem für sich
genommen rechtlich unbedenklichen Motto - etwa der Aufforderung zur Abschaffung einer Strafrechtsnorm - und auch
nicht aus der unmittelbaren zeitlichen Nähe der Versammlung zu einem Gedenktag wie dem Holocaust-Gedenktag
gefolgert werden darf und auch eine Gesamtschau beider Umstände grundsätzlich nicht geeignet ist, eine solche
Störung zu begründen. Umstände, die eine Ausnahme hätten rechtfertigen können, waren nicht ersichtlich.
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Das Oberverwaltungsgericht hat keine fallbezogenen Umstände aufgezeigt, die eine gegenüber dem der
Kammerentscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung tragen können.
Soweit es eine besondere Provokationswirkung daraus herleitete, dass der Aufruf zur Demonstration die Richtigkeit
hetzerischer Aussagen betont und sich so zu eigen gemacht habe, liegt dem eine Abweichung von der gleichfalls
nach § 31 Abs. 1 BVerfGG bindenden Erwägung der Entscheidung vom 26. Januar 2006 zu Grunde, dass für die
Begründung einer Störung der öffentlichen Ordnung unter dem Gesichtspunkt einer Provokationswirkung nicht auf die
von dem Schutzgehalt des Art. 5 Abs. 1 GG umfasste thematische Ausrichtung der Versammlung oder zu
erwartenden Äußerungen der Versammlungsteilnehmer abgestellt werden darf. Der Inhalt einer Meinungsäußerung, der
im Rahmen des Art. 5 GG nicht unterbunden werden darf, kann auch nicht zur Rechtfertigung von Maßnahmen
herangezogen werden, die das Grundrecht des Art. 8 GG beschränken (vgl. BVerfGE 90, 241 <246>; 111, 147
<155>).
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3. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist auf der Grundlage der verfassungsrechtlichen Bewertung durch das
Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 26. Januar 2006 zu bescheiden. Aus den dort dargelegten
Gründen ist auch im vorliegenden Verfahren die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs wiederherzustellen. Es ist
Aufgabe der Versammlungsbehörde zu entscheiden, ob und welche Auflagen gemäß § 15 VersG erforderlich und
unter Berücksichtigung des grundrechtlichen Schutzes des Antragstellers aus Art. 5 und 8 GG angemessen sind.
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Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Antragstellers beruht auf § 34 a Abs. 3
BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Steiner
Hoffmann-Riem
Gaier