Urteil des BVerfG vom 21.01.1999

BVerfG: öffentliche gewalt, verfassungsbeschwerde, billigkeit, wiederaufnahme, winter, verwerflichkeit, freispruch, unterliegen, hauptsache, bibliothek

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 172/93 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn M...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Franz Korzus und Koll.,
Hemmstraße 165, Bremen -
gegen a) den Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart
vom 16. Dezember 1992 - 4 Ws 230/92 -,
b)
den Beschluß des Landgerichts Tübingen
vom 10. November 1992 - 1 ARs 5/92 -
hier: Antrag auf Anordnung der Auslagenerstattung
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin
Präsidentin Limbach
und die Richter Winter,
Hassemer
gemäß § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 21. Januar 1999 einstimmig beschlossen:
Der Antrag des Beschwerdeführers, dem Land Baden-Württemberg die Erstattung seiner notwendigen Auslagen im
Verfassungsbeschwerde-Verfahren aufzuerlegen, wird zurückgewiesen.
Gründe:
1
Der Antrag auf Erstattung der notwendigen Auslagen kann keinen Erfolg haben.
2
1. Eine Auslagenerstattung nach Erledigung der Hauptsache kommt gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur in Betracht, wenn dies der Billigkeit entspricht. Dabei findet
insbesondere im Verfassungsbeschwerde-Verfahren regelmäßig eine überschlägige Beurteilung der Sach- und
Rechtslage nicht statt. Eine solche kursorische Prüfung entspricht nicht der Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts,
verfassungsrechtliche Zweifelsfragen mit bindender Wirkung inter omnes zu klären. Sie erscheint auch im Hinblick auf
die Kostenfreiheit des Verfahrens, den fehlenden Anwaltszwang und das Fehlen eines bei Unterliegen des
Beschwerdeführers erstattungsberechtigten Gegners nicht geboten (BVerfGE 33, 247 <264 f.>; stRspr).
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Demgegenüber kann insbesondere dem Grund, der zur Erledigung geführt hat, wesentliche Bedeutung zukommen.
Hilft die öffentliche Gewalt von sich aus der Beschwer ab, so kann, falls keine anderweitigen Gründe ersichtlich sind,
davon ausgegangen werden, daß sie das Begehren selbst für berechtigt erachtet hat. In einem solchen Fall ist es
billig, die öffentliche Gewalt ohne weitere Prüfung an ihrer Auffassung festzuhalten und dem Beschwerdeführer die
Erstattung seiner Auslagen in gleicher Weise zuzubilligen wie wenn seiner Verfassungsbeschwerde stattgegeben
worden wäre (vgl. BVerfGE 85, 109 <115>).
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2. Nach diesem Maßstab entspricht es im vorliegenden Fall nicht der Billigkeit, die Auslagenerstattung anzuordnen.
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Zwar hat das Landgericht Tübingen mit seinem Beschluß vom 29. Januar 1996 mittelbar der durch die ablehnende
Entscheidung der Wiederaufnahmegerichte bestehenden Beschwer dadurch abgeholfen, daß es die zur Verurteilung
des Beschwerdeführers führenden Erkenntnisse des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd und des Landgerichts
Ellwangen aufgehoben und den Beschwerdeführer freigesprochen hat. Dies geschah indessen nicht, weil das
Landgericht das Begehren des Beschwerdeführers in diesem Verfassungsbeschwerde-Verfahren selbst für berechtigt
erachtet hätte. Mit der in dem Verfassungsbeschwerde-Verfahren entscheidenden Frage, ob die
Wiederaufnahmegerichte in Anbetracht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum notwendigen
Prüfungsprogramm bei der Feststellung der Verwerflichkeit nach § 240 Abs. 2 StGB (vgl. BVerfGE 73, 206 <247,
252 ff.>; 76, 211 <217>; Bundesverfassungsgericht, Beschluß der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. Juli 1990 -
1 BvR 237/88 -, NJW 1991, S. 971) im Jahre 1992 zu Unrecht die Wiederaufnahme nach § 79 Abs. 1 BVerfGG
abgelehnt haben, konnte sich das Landgericht Tübingen gar nicht (mehr) befassen.
6
Gegenstand der im Anschluß an den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Januar 1995 ergangenen
Entscheidung war lediglich die Prüfung, ob die zur Verurteilung des Beschwerdeführers führenden Erkenntnisse auf
der vom Bundesverfassungsgericht mit dem Grundgesetz nicht für vereinbar erklärten erweiterten Auslegung des
Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB beruhen. Die mit dem Beschluß vom 29. Januar 1996 angeordnete
Wiederaufnahme und der daraufhin erfolgte Freispruch sind demnach allein durch die nach Einlegung der
Verfassungsbeschwerde ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Januar 1995 und die
dadurch veränderte Rechtslage und nicht dadurch zustande gekommen, daß das Landgericht das ursprüngliche
Wiederaufnahmebegehren des Beschwerdeführers für begründet erachtet hätte. Nur dann aber wäre es aus
Billigkeitsgesichtspunkten zu rechtfertigen gewesen, zugunsten des Beschwerdeführers Auslagenerstattung
anzuordnen.
7
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Limbach
Winter
Hassemer