Urteil des BVerfG vom 10.12.2009

BVerfG: verfassungsbeschwerde, erlass, mitgliedstaat, abschiebung, aeuv, hauptsache, gemeinschaftsrecht, lastenverteilung, ausschluss, sicherheit

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2767/09 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn M ...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Dominik Bender & Dr. Stephan Hocks,
Eschenheimer Anlage 15, 60318 Frankfurt am Main -
gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 30. Oktober 2009 - 6 L
1555/09.A -
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
und Beiordnung der Rechtsanwälte B. und Dr. H.
hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Osterloh
und die Richter Mellinghoff,
Gerhardt
am 10. Dezember 2009 einstimmig beschlossen:
Dem Kreis M. wird im Wege der einstweiligen Anordnung die Vollziehung der Abschiebung des Antragstellers nach
Griechenland vorläufig untersagt.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen für das Verfahren auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung zu erstatten.
Gründe:
1
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG in einem Verfahren betreffend die
Überstellung eines eritreischen Asylantragstellers nach Griechenland in Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 343/2003
des Rates vom 18. Februar 2003 (ABl Nr. L 50 S. 1) zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des
Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten
Asylantrags zuständig ist, hat Erfolg.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige
Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum
gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen
Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde
erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine
einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile abwägen, die
entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu
versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>; stRspr).
3
2. Dem Erlass einer einstweiligen Anordnung steht nicht entgegen, dass die noch zu erhebende
Verfassungsbeschwerde offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre.
4
Die Verfassungsbeschwerde kann Anlass zur Untersuchung geben, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das
Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 16a Abs. 2 Sätze 1 und 3 GG für die fachgerichtliche Prüfung der
Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfGE 94, 49 <99 f.>) bei der Anwendung von § 34a
Abs. 2 AsylVfG trifft, wenn Gegenstand des Eilrechtsschutzantrags eine beabsichtigte Abschiebung in einen nach der
Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften ist. Es könnte
dabei auch zu klären sein, ob und welche Vorgaben das Grundgesetz zur Gewährung vorläufigen Schutzes für den
Zeitraum trifft, den die Organe der Europäischen Union benötigen, Erkenntnisse über für Asylsuchende bedrohliche
tatsächliche oder rechtliche Defizite des Asylsystems eines Mitgliedstaats auszuwerten und erforderliche
Maßnahmen durchzusetzen. Bei der Würdigung von Art. 16a Abs. 2 und Abs. 5 GG sowie Art. 19 Abs. 4 GG könnten
in diesem Zusammenhang auch die Anforderungen des Rechts der Europäischen Gemeinschaften zur Erhaltung und
Weiterentwicklung der Europäischen Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (vgl. Art. 2 4.
Spiegelstrich EUV; vgl. zur Rechtslage seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon : Art. 67
AEUV und Art. 77 - 80 AEUV) eine Rolle spielen, da der verfassungsändernde Gesetzgeber mit der Einführung von
Art. 16a GG die Grundlage für eine europäische Gesamtregelung der Schutzgewährung für Flüchtlinge mit dem Ziel
einer Lastenverteilung zwischen den an einem solchen System beteiligten Staaten geschaffen hat (vgl. BVerfGE 94,
49 <85>).
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Angesichts dieser offenen Fragen ist nicht zu erkennen, dass eine in der Sache noch zu erhebende
Verfassungsbeschwerde offensichtlich unbegründet wäre. Auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich
gerichtsbekannten, umfangreichen Stellungnahmen verschiedener Organisationen zur Situation von Asylantragstellern
in Griechenland können die Erfolgsaussichten der noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein
offensichtlich verneint werden. Allerdings sind sie angesichts des Umstands, dass die Mitgliedstaaten der
Europäischen Gemeinschaft durch den verfassungsändernden Gesetzgeber selbst zu sicheren Drittstaaten bestimmt
worden sind (vgl. BVerfGE 94, 49 <88 f.>), die Vergewisserung hinsichtlich der Schutzgewährung damit durch den
verfassungsändernden Gesetzgeber selbst erfolgt ist (vgl. BVerfGE 94, 49 <101>) und die Entscheidung nicht durch
eine Rechtsverordnung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG rückgängig gemacht werden kann, auch nicht offensichtlich zu
bejahen.
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3. Bliebe dem Antragsteller der begehrte Erlass der einstweiligen Anordnung versagt, obsiegte er aber in der
Hauptsache, könnten möglicherweise bereits mit der Abschiebung oder in ihrer Folge eingetretene
Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden (vgl. BVerfG, Beschluss der
1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, NVwZ 2009, S. 1281). Die Nachteile, die
entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erginge, dem Antragsteller der Erfolg in der Hauptsache aber versagt
bliebe, wiegen dagegen hier weniger schwer. Insbesondere widerspricht die Gewährung von einstweiligem
Rechtsschutz im Überstellungsverfahren nicht gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik
Deutschland. Eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zum Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes bei
Überstellungen nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 besteht nicht. Vielmehr sieht das Gemeinschaftsrecht die
Möglichkeit der Gewährung vorläufigen fachgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Überstellungen an den zuständigen
Mitgliedstaat nach Art. 19 Abs. 2 Satz 4 und Art. 20 Abs. 1 Buchstabe e Satz 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003
selbst vor.
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4. Die Entscheidung über die Erstattung von Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Damit erledigt sich
der Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwaltes für
das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Osterloh
Mellinghoff
Gerhardt