Urteil des BSG vom 25.04.2018

Sozialhilfe - Mehrbedarf bei Nachweis der Feststellung des Merkzeichens G - rückwirkende Feststellung - maßgeblicher Zeitpunkt für die Leistungsbewilligung

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 25.4.2018, B 8 SO 25/16
R
ECLI:DE:BSG:2018:250418UB8SO2516R0
Sozialhilfe - Mehrbedarf bei Nachweis der Feststellung des
Merkzeichens G - rückwirkende Feststellung - maßgeblicher
Zeitpunkt für die Leistungsbewilligung
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts
Landshut vom 26. Februar 2016 aufgehoben und die Klage
abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
1
Im Streit ist die Zahlung eines pauschalierten Mehrbedarfs wegen der
Zuerkennung des Merkzeichens "G" auch für die Zeit vom
21.10.2013 bis 31.3.2014.
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Die 1946 geborene Klägerin bezieht neben ihrer Altersrente
ergänzend Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch
Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Für die Zeit vom 1.7. bis
31.12.2013 bewilligte der Beklagte Leistungen in Höhe von 623,67
Euro (Bescheid vom 9.7.2013), ab 1.1.2014 in Höhe von monatlich
636,87 Euro (Bescheid vom 20.12.2013) unter Berücksichtigung des
Regelsatzes für Alleinstehende.
3
Auf Antrag der Klägerin (21.10.2013) stellte das Versorgungsamt
rückwirkend ab 21.10.2013 die gesundheitlichen Voraussetzungen
für das Merkzeichen "G" fest (Bescheid vom 24.4.2014). Der Beklagte
hob im Hinblick auf die Feststellung des Merkzeichens "G" den
Bescheid vom 20.12.2013 für die Zeit ab 1.4.2014 auf und bewilligte
höhere Grundsicherungsleistungen (monatlich 703,34 Euro) unter
Berücksichtigung eines pauschalierten Mehrbedarfs gemäß § 30 Abs
1 SGB XII
(Bescheid vom 2.5.2014; Widerspruchsbescheid vom 16.9.2014).
4
Die Klage, gerichtet auf Berücksichtigung eines pauschalierten
Mehrbedarfs bereits ab 21.10.2013, ist erfolgreich gewesen
(Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 26.2.2016). Zur
Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, Sinn und
Zweck der Regelung, dem behinderten Menschen einen Mehrbedarf
zuzuerkennen, damit behinderungsbedingte Mehrausgaben
ausgeglichen werden könnten, verlange, dass die finanziellen Mittel
ab dem Zeitpunkt zur Verfügung stünden, ab dem das Vorliegen der
Einschränkung festgestellt sei. Es könne damit nicht erst auf den
Zeitpunkt des Nachweises abgestellt werden.
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Mit seiner vom SG nachträglich zugelassenen Sprungrevision rügt
der Beklagte eine Verletzung des § 30 Abs 1 SGB XII. Weder
Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte der Regelung oder
systematische Erwägungen würden die vom SG gefundene
Auslegung stützen. Abzustellen sei auf den Zeitpunkt des
Nachweises des Nachteilsausgleichs durch Vorlage des
Feststellungsbescheids des Versorgungsamts.
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Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 26. Februar 2016
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
9 Die Sprungrevision des Beklagten ist zulässig. Unschädlich ist, dass
die Klägerin in ihrer Erklärung vom 6.6.2016 nicht ausdrücklich der
Einlegung einer Sprungrevision, sondern nur pauschal "der
beabsichtigten Sprungrevision" zugestimmt hat. Denn eine derartige
Erklärung ist jedenfalls dann als Zustimmung zur Einlegung der
Sprungrevision zu verstehen, wenn - wie vorliegend - im Zeitpunkt
der Abgabe der Zustimmungserklärung Tenor und schriftliche
Entscheidungsgründe des SG-Urteils dem Erklärenden bekannt
waren
(BSGE 109, 56 ff = SozR 4-3500 § 98 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 161
Nr 13 S 31 mwN)
.
10
Die Revision ist begründet
(§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ). Die Klägerin hat
keinen Anspruch auf Zuerkennung des pauschalierten Mehrbedarfs
bereits ab 21.10.2013.
11
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 2.5.2014 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.9.2014 (§ 95 SGG), mit
dem der Beklagte den Bescheid vom 20.12.2013 nach § 48 Zehntes
Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und
Sozialdatenschutz - (SGB X) mit Wirkung vom 1.4.2014 zugunsten
der Klägerin geändert hat; darin liegt aber zugleich die Ablehnung
der beantragten Gewährung des pauschalierten Mehrbedarfs nach
§ 30 Abs 1 SGB XII bereits ab 21.10.2013
(unter Änderung des Bescheids vom 9.7.2013).
12
Der Streitgegenstand des Verfahrens ist wirksam beschränkt auf die
Zuerkennung des pauschalierten Mehrbedarfs nach § 30 Abs 1
SGB XII
(zur Abtrennbarkeit als eigener Streitgegenstand vgl nur BSGE 103,
181 = SozR 4-3500 § 42 Nr 2; Bundessozialgericht SozR 4-
3500 § 29 Nr 3; SozR 4-3500 § 30 Nr 4)
, dh im Streit steht nicht die Zuerkennung höherer
Grundsicherungsleistungen unter jedem denkbaren Gesichtspunkt,
insbesondere nach § 27a Abs 4 SGB XII
(anders im Verfahren BSG SozR 4-3500 § 30 Nr 4 RdNr 10 f).
Weder der allein auf die Gewährung eines pauschalen Mehrbedarfs
gerichtete Antrag der Klägerin im Verwaltungsverfahren, noch ihr
weiterer Vortrag im Klage- bzw Revisionsverfahren oder die
Aktenlage lassen einen anderen Schluss zu. Konkrete
Mehraufwendungen wegen ihrer Gehbehinderung oder
Gesichtspunkte, die die Gewährung höherer Leistungen aus
anderen Gründen rechtfertigen könnten, hat sie auch nie behauptet.
Ihr Klagebegehren verfolgt die Klägerin zutreffend mit der
kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage
(§ 54 Abs 1, 4, § 56 SGG; BSG, aaO, RdNr 12).
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Ob der Beklagte der für die Gewährung von
Grundsicherungsleistungen nach den §§ 3 Abs 2, 97 Abs 1, 98 Abs
1 SGB XII in Verbindung mit dem Landesrecht örtlich und sachlich
zuständiger Träger der Sozialhilfe ist, konnte der Senat nicht
abschließend prüfen. Nach Art 81 Abs 1 des bayerischen Gesetzes
zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG) vom 8.12.2006 - Gesetz-
und Verordnungsblatt 942 - ist für Leistungen nach dem 4. Kapitel
der örtliche Träger zuständig; örtlich zuständig ist der Träger der
Sozialhilfe, in dessen Bereich der gewöhnliche Aufenthalt der
leistungsberechtigten Person liegt. Es liegt zwar nahe, dass die
Klägerin im maßgebenden Zeitraum ihren gewöhnlichen Aufenthalt
in W. und damit im Landkreis des Beklagten hatte; zu den hierfür
notwendigen Anknüpfungstatsachen hat das SG aber keine
Feststellungen (§ 163 SGG) getroffen. Der Klägerin steht jedoch -
sei es gegen den Beklagten oder einen anderen Leistungsträger -
ohnedies kein Anspruch auf Zuerkennung des pauschalierten
Mehrbedarfs bereits ab 21.10.2013 zu, sodass die fehlenden
Feststellungen einer abschließenden Entscheidung des Senats
nicht entgegenstehen.
14
Materiell-rechtlich misst sich die Begründetheit der Revision an § 48
Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X. Danach soll ein Verwaltungsakt mit
Dauerwirkung bei einer Änderung in den tatsächlichen oder
rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorlagen, mit
Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben
werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt.
Eine Änderung der Verhältnisse ist unter Berücksichtigung der die
Regelung des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X hinsichtlich des
Leistungsbeginns modifizierenden Norm
(BSG SozR 4-3500 § 44 Nr 2 RdNr 16) des § 44 Abs 1 Satz 2 SGB
XII
(in der bis 31.12.2015 geltenden Normfassung des Gesetzes zur
Änderung des SGB XII vom 20.12.2012, BGBl I 2783)
erst mit Wirkung vom 1.4.2014 eingetreten (Beginn des Monats, in
dem der Feststellungsbescheid des Versorgungsamts ergangen ist).
Ab diesem Zeitpunkt hat die Klägerin Anspruch auf den im Streit
stehenden Mehrbedarf.
15
Nach § 30 Abs 1 SGB XII in der hier maßgeblichen Normfassung
des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung
des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
(vom 24.3.2011, BGBl I 453) wird ein Mehrbedarf ua für Personen,
die - wie die Klägerin - die Altersgrenze nach § 41 Abs 2 SGB XII
erreicht haben und durch einen Bescheid der nach § 69 Abs 4 des
Neunten Buches zuständigen Behörde oder einen Ausweis nach §
69 Abs 5 des Neunten Buches die Feststellung des Merkzeichens
"G" nachweisen, ein Mehrbedarf von 17 vH der maßgebenden
Regelbedarfsstufe anerkannt, soweit nicht im Einzelfall ein
abweichender Bedarf besteht.
16
Zu der bis zum 6.12.2006 maßgeblichen Rechtslage, nach der die
Gewährung eines Mehrbedarfs allein an den Besitz eines
Ausweises mit dem Merkzeichen "G" geknüpft war, hat der Senat
entschieden, dass nach dem Wortlaut der Regelung sowie ihrem
Sinn und Zweck ein Normverständnis nicht zu begründen ist,
welches die Zuerkennung des pauschalierten Mehrbedarfs bereits
ab dem Zeitpunkt des Vorliegens der gesundheitlichen
Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G"
erlaubt (BSG SozR 4-3500 § 30 Nr 4). Dabei hat der Senat darauf
hingewiesen, dass es den Betroffenen unbenommen bleibt, bis zum
formalen Feststellungsakt durch das Versorgungsamt einen
behinderungsbedingten Mehrbedarf im Wege des § 28 Abs 1 Satz 2
SGB XII (nunmehr § 27a Abs 4 Satz 1 SGB XII)durch Nachweis
konkreter höherer Aufwendungen geltend zu machen.
17
Auch unter der ab 7.12.2006 geltenden Normfassung des § 30 Abs
1 SGB XII
(insoweit geändert durch das Gesetz zur Änderung des Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 2.12.2006 -
BGBl I 2670)
ist für die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen Zuerkennung des
Merkzeichens "G" nicht der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem die
gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des
Merkzeichens nach den Feststellungen des Versorgungsamts
vorliegen (noch offengelassen in BSG SozR 4-3500 § 30 Nr 4),
sondern der Zeitpunkt des Feststellungsbescheids als Nachweis
(§ 21 Abs 2 SGB X)gegenüber dem Sozialhilfeträger für das
Vorliegen des Nachteilsausgleichs. Dies ist dem Wortlaut der
Regelung, ihrem Sinn und Zweck sowie der Gesetzesentwicklung
zu entnehmen.
18
Nach wie vor stellt der Wortlaut der Regelung auf einen "Bescheid"
oder (wie bisher) einen "Ausweis" ab. Nach dem Tatbestand des §
30 Abs 1 SGB XII scheidet ein Anspruch auf den Mehrbedarf
deshalb für Zeiten, in denen weder ein Feststellungsbescheid
ergangen noch ein Ausweis ausgestellt worden ist, aus. Dies
entspricht auch dem Sinn und Zweck der Regelung sowie den
hergebrachten Strukturen des Sozialhilferechts, wonach Sozialhilfe
einen aktuellen Bedarf decken soll
(so genanntes Gegenwärtigkeitsprinzip, vgl nur BSGE 104, 213 =
SozR 4-1300 § 44 Nr 20, RdNr 13)
und nicht für vergangene Zeiträume zu erbringen ist, in denen ein
etwa bestehender (Mehr-)Bedarf nicht gedeckt wurde
(grundlegend dazu BSG, aaO, RdNr 17 ff). Der Auffassung, dass der
Gesetzgeber mit der Erweiterung der Nachweismöglichkeit zugleich
eine Feststellungswirkung bezogen auf den Zeitpunkt begründen
wollte, zu dem der Nachteilsausgleich vom Versorgungsamt
rückwirkend anerkannt worden ist
(so Simon in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 30 SGB XII RdNr 44;
Münder in Lehr- und Praxiskommentar, SGB XII, 10. Aufl 2015, § 30
RdNr 6; Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl 2014, § 30
SGB XII RdNr 8, allerdings mit dem nicht zutreffenden
BSG SozR 4-3500 § 30 Nr 4 RdNr 33> Hinweis auf § 18 SGB XII)
, steht der tatsächliche Wille des Gesetzgebers entgegen, wie er in
der Gesetzesbegründung zur Änderung des § 30 Abs 1 SGB XII
zum 7.12.2006 (vgl BT-Drucks 16/2711 S 11) unzweifelhaft zum
Ausdruck kommt
(so auch Scheider in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl
2015 § 30 RdNr 9.3)
. Danach hänge die Zuerkennung eines Mehrbedarfs bislang (also
vor dem 7.12.2006) davon ab, dass die leistungsberechtigte Person
einen Schwerbehindertenausweis besitze, was zur Folge habe,
dass der Mehrbedarf erst ab dem Zeitpunkt der Ausstellung des
Schwerbehindertenausweises und damit regelmäßig erst mehrere
Wochen nach Bekanntgabe des Feststellungsbescheids in
Wochen nach Bekanntgabe des Feststellungsbescheids in
Anspruch genommen werden könne. Da Bescheid und Ausweis
faktisch denselben Beweiswert hätten, solle die Gesetzesänderung
den Zugang der Leistungsberechtigten zu den ihnen zustehenden
Leistungen erleichtern und dadurch gleichzeitig bei den für das
Feststellungsverfahren zuständigen Behörden und den Trägern der
Sozialhilfe zum Abbau von Verwaltungsaufwand beitragen. Der
Gesetzgeber verfolgte mit der Gesetzesänderung mithin erkennbar
das Ziel, zwar den Betroffenen den Nachweis des
Nachteilsausgleichs zu erleichtern, nicht aber, die Möglichkeit der
Zuerkennung eines pauschalierten Mehrbedarfs im Rahmen des §
30 Abs 1 SGB XII über den Zeitpunkt des Nachweises hinaus für die
Vergangenheit zu eröffnen. Hätte er eine weitergehende
Begünstigung gewollt, hätte es nahegelegen, nicht auf die
bescheidmäßige Feststellung, sondern - insbesondere im Hinblick
auf die Entscheidung des Senats vom 10.11.2011 (B 8 SO 12/10 R -
SozR 4-3500 § 30 Nr 4)- ausdrücklich auf den Zeitpunkt der ggf
auch rückwirkenden Zuerkennung des Nachteilsausgleichs
abzustellen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.