Urteil des BSG vom 25.04.2018

Urteil vom 25.04.2018

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 25.4.2018, B 8 SO 23/16
R
ECLI:DE:BSG:2018:250418UB8SO2316R0
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des
Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. August 2016
aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1 Im Streit ist die Höhe von Leistungen der Grundsicherung im Alter
und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem
Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe -
(SGB XII). Im Revisionsverfahren ist die Zulässigkeit der Klage
umstritten.
2 Die Klägerin bezieht eine Rente wegen vollständiger
Erwerbsminderung auf Dauer und daneben von dem beklagten
Träger der Sozialhilfe laufend Grundsicherungsleistungen. Unter
anderem erließ der Beklagte für die Zeit vom 1.1.2013 bis zum
31.10.2014 einen "Änderungs- und Weitergewährungsbescheid",
mit dem er die Grundsicherungsleistungen wegen Änderung des
Einkommens und unter Berücksichtigung der tatsächlichen
Aufwendungen ua für Unterkunft und Heizung neu berechnete und
bewilligte
(Bescheid vom 28.10.2013; Widerspruchbescheid vom 30.4.2014).
Hiergegen erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) Speyer
(Az S 3 SO 120/14). Den Bescheid vom 28.10.2013 änderte der
Beklagte mit weiteren Bescheiden (zuletzt vom 26.1.2015) ua unter
Berücksichtigung einer Rückzahlung von Heizkosten ab. Die Klage
nahm die Klägerin am 27.3.2015 zurück.
3
Zuvor erhöhte die Vermieterin für die von ihr und ihrem Ehemann
bewohnte Wohnung die Kaltmiete zum 1.7.2014 von monatlich 410
Euro auf 440 Euro. Den Antrag auf Berücksichtigung entsprechend
höherer Bedarfe für Unterkunft und Heizung lehnte der Beklagte mit
einem "Bescheid über die Ablehnung von Leistungen" ab; denn eine
Kaltmiete von 440 Euro sei nicht angemessen. Es werde daher
"weiterhin" die Kaltmiete in Höhe von 410 Euro im Rahmen der
Leistungen berücksichtigt werden (Bescheid vom 30.6.2014).
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein.
4 Für den Bewilligungsabschnitt vom 1.11.2014 bis zum 31.10.2015
bewilligte der Beklagte der Klägerin Grundsicherungsleistungen in
Höhe von 294,66 Euro monatlich ua unter Berücksichtigung einer
angemessenen (anteiligen) Kaltmiete in Höhe von 205 Euro
(Bescheid vom 11.11.2014), änderte diesen für die Zeit vom 1.2. bis
31.10.2015 wegen veränderter Abschläge bei den Heizkosten ab
und bewilligte nunmehr 302,35 Euro monatlich
(Bescheid vom 27.2.2015).
5 Der Kreisrechtsausschuss des Beklagten hob den Bescheid vom
30.6.2014 auf und verpflichtete den Beklagten ab dem 1.7.2014 zur
Neubescheidung unter der Beachtung der Rechtsauffassung des
Widerspruchsausschusses. Es sei eine Kaltmiete von 418 Euro als
angemessen zu berücksichtigen. Im Übrigen wies er den
Widerspruch zurück. Den Widerspruchsbescheid vom 13.5.2015
stellte der Beklagte gegen Empfangsbekenntnis an den
Prozessbevollmächtigten der Klägerin (einen Rechtsanwalt) zu. Der
Widerspruchsbescheid war mit der Belehrung versehen, es könne
innerhalb von einem Monat ab Zustellung Klage erhoben werden.
Der Prozessbevollmächtigte stellte mit Schreiben vom 18.5.2015
unter Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid einen
Kostenantrag beim Beklagten.
6
Am 18.6.2015 um 10.53 Uhr übersandte der
Prozessbevollmächtigte der Klägerin eine E-Mail an das SG und
teilte mit, dass die Übersendung einer Klageschrift per Telefax nicht
möglich gewesen sei. Er übersandte im Anhang eine eingescannte,
unterschriebene Klageschrift gegen den Bescheid vom 30.6.2014 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.5.2015 im Portable
Document Format (PDF). Die Geschäftsstelle des SG druckte den
Anhang zur E-Mail aus und versah ihn mit einem Eingangsstempel
vom selben Tag. Das Original der Klageschrift ging am 19.6.2015
per Post ein.
7 Noch vor Erhebung der Klage änderte der Beklagte gestützt auf § 48
Abs 1 Satz 2 Nr 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch -
Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) die
Bescheide vom 28.10.2013, 11.11.2014, 26.1.2015 und 27.2.2015
und bewilligte der Klägerin "aufgrund des Widerspruchsbescheides"
für die Zeit vom 1.7.2014 bis zum 31.10.2015
Grundsicherungsleistungen in Höhe von 306,35 Euro unter
Berücksichtigung ua einer Kaltmiete in Höhe von 209 Euro
(Bescheid vom 3.6.2015). Für die Zeit ab dem 1.7.2015 änderte er
die Bewilligung wegen einer Veränderung des Einkommens erneut
und bewilligte Leistungen in Höhe von 297,86 Euro monatlich
(Bescheid vom 27.7.2015).
8
Das SG und das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz haben
die Klage als unzulässig angesehen
(Gerichtsbescheid des SG vom 23.11.2015; Urteil des LSG vom
4.8.2016)
. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG unter
Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des SG ausgeführt, die
Übersendung einer einfachen E-Mail mit einem angehängten PDF-
Dokument genüge nicht dem Schriftformerfordernis des § 90
Sozialgerichtsgesetz (SGG), auch wenn der Anhang im Gericht
noch am Tag des Fristablaufs ausgedruckt vorlegen habe. § 65a
SGG, der die formwirksame Klageerhebung auf elektronischem Weg
von einer qualifizierten Signatur abhängig mache, sei abschließend
und schließe eine andere Auslegung des § 90 SGG aus.
Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren, weil den Bevollmächtigten
der Klägerin am Tag des Fristablaufs erhöhte Sorgfaltspflichten
träfen und von ihm insbesondere zu verlangen gewesen sei, die
Klage gestützt auf § 91 SGG bei einer inländischen Behörde am Ort
der Kanzlei einzulegen.
9 Hiergegen wendet sich die Klägerin und macht eine Verletzung von
§§ 87, 90 SGG geltend. Nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs (BGH), die auch im Anwendungsbereich des §
90 SGG gelten müsse, sei die vollständig eingescannte, als PDF
versandte und rechtzeitig ausgedruckte Klageschrift als
fristgerechter schriftlicher Eingang anzusehen.
10
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. August
2016 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
11
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
12
Er hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Entscheidungsgründe
13
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der
Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Entgegen
der Auffassung der Vorinstanzen ist die Klage nicht wegen der
Versäumung der Klagefrist als unzulässig abzuweisen; es ist
jedenfalls Wiedereinsetzung in die Klagefrist zu gewähren. Die
Klage ist auch im Übrigen zulässig. Es fehlen aber ausreichende
Feststellungen des LSG in der Sache.
14
Die Revision wie auch die Berufung sind zulässig. Insbesondere
bedurfte es keiner Zulassung der Berufung; denn die Berufung
betrifft laufende Leistungen für mehr als ein Jahr
(vgl § 144 Abs 1 Satz 2 SGG). Die Klägerin hat mit ihrer Klage
höhere Leistungen ab dem 1.7.2014 geltend gemacht. Unabhängig
davon, ob dieses Begehren wegen der abschnittsweisen
Bewilligung dieser Leistungen (als Teil der
Grundsicherungsleistungen) sinnvollerweise auf die Zeit bis zum
31.10.2015 begrenzt werden sollte, weil nur insoweit die
Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind (dazu später), sind laufende
Leistungen von mehr als einem Jahr im Streit.
15
Ob die Klagefrist des § 87 Abs 1 Satz 1 SGG versäumt ist, obwohl
die unterschriebene, eingescannte und sodann als Anhang einer E-
Mail an das SG gesandte Klageschrift noch am Tag des Fristablaufs
vollständig ausgedruckt beim SG vorlag, kann offenbleiben
(ablehnend Bundessozialgericht BSGE 122, 71 = SozR 4-
1500 § 65a Nr 3 für den Fall, dass das eingescannte Exemplar nicht
unterschrieben ist; anders dagegen BGH
Beschluss vom 15.7.2008 - X ZB 8/08 - NJW 2008, 2649 ff und
Beschluss vom 18.3.2015 - XII ZB 424/14 - NJW 2015, 1527 ff für
unterschriebene, eingescannte und am Tag des Fristablaufs
vollständig ausgedruckte Schriftsätze)
. Der Klägerin ist jedenfalls auch bei Versäumung der Klagefrist
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
16
Nach § 67 Abs 1 SGG ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu
gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine
gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Die Klagefrist von einem
Monat, die bei der hier von der Behörde gewählten Zustellung nach
den Vorschriften des Landesverwaltungszustellungsgesetzes
(LVwZG) mit dem Tag der Zustellung des mit einer zutreffenden
Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Widerspruchsbescheids zu
laufen beginnt (vgl § 87 Abs 1 iVm Abs 2 SGG), ist am 18.6.2015
abgelaufen. Das Original der Klageschrift ging aber erst am
19.6.2015 per Post beim SG ein. Der Nachweis einer Zustellung ist
vorliegend zwar nicht zu den Akten gelangt. Mit der Stellung eines
Kostenantrags unter Bezugnahme auf den tatsächlichen Erhalt des
Widerspruchsbescheids am 18.5.2015 durch den
Prozessbevollmächtigten ist der Mangel des Nachweises der
Zustellung aber geheilt
(§ 1 Abs 1 LVwZG iVm § 8 Verwaltungszustellungsgesetz ).
Die Klägerin hat vorliegend die (unterstellte) Versäumung der
Klagefrist um einen Tag nicht verschuldet. Kausal für die
Versäumung der Klagefrist um einen Tag war allein die Störung des
Faxeingangs bei Gericht; mit der Aufgabe der Klageschrift zur Post
noch am Tag der gescheiterten Übersendung per Fax hat ihr
Prozessbevollmächtigter alle ihm möglichen und zumutbaren
Maßnahmen ergriffen, um weitere Verzögerungen zu verhindern. Da
die Verfahrenshandlung innerhalb der (Monats-)Frist des § 67 Abs 2
Satz 1 SGG nachgeholt worden ist, kann Wiedereinsetzung auch
von Amts wegen gewährt werden (§ 67 Abs 2 Satz 4 SGG).
17
Nach gefestigter Rechtsprechung sowohl des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) als auch der obersten
Bundesgerichte dürfen die aus den technischen Gegebenheiten des
Kommunikationsmittels Telefax herrührenden besonderen Risiken
nicht auf den Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden. Dies gilt
insbesondere für Störungen des Empfangsgeräts des Gerichts
(BVerfG, NJW 1996, 2857; BVerfG NJW 2001, 3473; BGH, NJW
1995, 1431, 1432; BGH NJW-RR 2004, 283, 284; BGH Beschluss
vom 21.7.2011 - IX ZB 218/10, Juris RdNr 2 mwN)
. Der Nutzer hat mit der Wahl eines anerkannten
Übermittlungsmediums, der ordnungsgemäßen Nutzung eines
funktionsfähigen Sendegeräts und der korrekten Eingabe der
Empfängernummer das seinerseits zur Fristwahrung Erforderliche
getan, wenn er so rechtzeitig mit der Übermittlung beginnt, dass
unter normalen Umständen mit ihrem Abschluss bis zum Ablauf der
Frist zu rechnen ist. Erkennt der Bevollmächtigte eines Beteiligten,
der sich und seine organisatorischen Vorkehrungen darauf
eingerichtet hat, einen Schriftsatz durch Telefax zu übermitteln, dass
er einen Schriftsatz auf diese Weise nicht mehr fristgerecht an das
zuständige Gericht übermitteln kann, steht es der Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand dann grundsätzlich nicht entgegen, dass er
den Schriftsatz in anderer Weise noch rechtzeitig hätte übermitteln
können. Um eine Ungleichbehandlung mit einem
Prozessbevollmächtigten zu verhindern, der seinen Schriftsatz erst
kurz vor Fristablauf fertigt und versendet, muss der Beteiligte in
diesen Fällen nicht unter erheblichem Zeit- und Kostenaufwand alle
nur denkbaren Anstrengungen unternehmen, um einen
fristgerechten Eingang beim Gericht doch noch sicherzustellen,
sondern nur einen naheliegenden, kaum zusätzlicher Mühe
erfordernden Übermittlungsversuch
(vgl nur BVerfG, NJW 1996, 2857, 2858; BGH Beschluss vom
21.7.2011 - IX ZB 218/10, aaO)
.
18
Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung nach diesen
Grundsätzen liegen vor. Nach der Auskunft des Leiters der
Geschäftsstelle des SG und den von ihm vorgelegten
Faxprotokollen war das SG über 5 Tage, nämlich vom 16.6.2015
abends bis zum 23.6.2015 nachmittags, per Telefax nicht erreichbar.
Es oblag dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin, dem dies am
18.6.2015, dem Tag des Fristablaufs bekannt wurde, weder zum
Gerichtsort zu fahren und die Klageschrift beim SG persönlich
einzuwerfen noch einen Kurierdienst zu beauftragen, auch wenn für
beides ausreichend Zeit gewesen wäre
(vgl dazu bereits BVerfG, NJW 1996, 2857, 2858). Entgegen der
Auffassung der Vorinstanzen ist mit § 91 SGG, der zur Wahrung der
Klagefrist - abweichend von den übrigen Prozessordnungen - auch
den Eingang der an das SG gerichteten Klageschrift ua bei einer
anderen inländischen Behörde genügen lässt, ebenfalls keine
naheliegende Möglichkeit der Übermittlung an das zuständige
Gericht aufgezeigt, die ein Rechtsanwalt bei einer von ihm nicht zu
vertretenen Störung des üblichen Übertragungswegs zur Wahrung
eigener Sorgfaltspflichten nutzen müsste. § 91 SGG dient allein dem
Schutz rechtsunkundiger Kläger, für die die Inanspruchnahme
gerichtlichen Rechtsschutzes erleichtert werden soll; einem mit der
Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten befassten Anwalt soll
aber gerade nicht die planmäßige Einreichung einer Klageschrift am
Ort seiner Kanzlei auf diesem Weg ermöglicht werden
(vgl BSG SozR 3-1500 § 91 Nr 1 S 3 f). Da eine inländische Behörde
(jedenfalls wenn es sich - wie bei den hier in Betracht kommenden
(jedenfalls wenn es sich - wie bei den hier in Betracht kommenden
Behörden - nicht um eine Sozialbehörde handelt) zur
Entgegennahme der Klageschrift nicht verpflichtet ist (BSG aaO) und
also der Rechtsanwalt vorab prüfen müsste, ob die jeweilige
Behörde im Einzelfall zur Entgegennahme auch bereit ist, stellt § 91
SGG keinen Weg der Einreichung einer Klage dar, der sich aus
Sicht des Anwalts der unmittelbaren Übermittlung an das SG als
gleichwertig darstellt. Nur auf solche Wege kann bei Prüfung der
Gründe für eine Wiedereinsetzung aber verwiesen werden. Ebenso
wenig gehört auch die Klageerhebung bei einem unzuständigen
Gericht, bei dem die Sache rechtshängig (§ 94 Abs 1 SGG) und
damit die Klagefrist gewahrt wird, zu den üblichen
Übertragungswegen, die bei Störung des Empfangsgeräts des
Gerichts zur Wahrung der prozessualen Sorgfaltspflichten zu nutzen
sind.
19
Die Klage ist auch im Übrigen zulässig.
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Zulässiger Gegenstand der Anfechtungs- und Leistungsklage ist
insoweit allerdings nur der Bescheid vom 3.6.2015, mit dem der
Beklagte als örtlich und sachlich zuständige Behörde ausdrücklich
sämtliche bis dahin für die Zeit vom 1.7.2014 bis zum 31.10.2015
ergangenen, zuvor bestandskräftig gewordenen
Bewilligungsbescheide zugunsten der Klägerin geändert hat, weitere
Leistungen bewilligt und damit (zugleich) die Zahlung höherer
Leistungen abgelehnt hat, sowie der in der Folge ergangene
Bescheid für die Zeit ab dem 1.7.2015 (vom 27.7.2015). Die
Möglichkeiten der Überprüfung der vorangegangenen
bestandskräftig gewordenen Leistungsbewilligungen nach den
Regelungen der §§ 44, 48 SGB X sind insoweit der
Ausgangsbehörde vorbehalten; die Widerspruchsbehörde, die in
Rheinland-Pfalz abweichend von § 85 Abs 2 Satz 2 Halbsatz 1 SGG
nicht auch die Ausgangsbehörde ist
(vgl § 4 Abs 1 Nr 1a des Ausführungsgesetzes zum SGG
, hier idF von Art 1 des Gesetzes vom 22.12.2004
581>)
, hat kein Selbstentscheidungsrecht. Der Kreisrechtsausschuss
konnte (was er auch zutreffend erkannt hat) wegen seiner
funktionalen und sachlichen Unzuständigkeit selbst keine
(ändernde) Regelung über die streitige Höhe der Leistung treffen,
die ihrerseits (isoliert) Gegenstand einer (kombinierten Anfechtungs-
und) Leistungsklage hätte sein können
(anders aber bei Identität von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde,
vgl BSG Urteil vom 25.10.2017 - B 14 AS 35/16 R -, SozR 4-4200 §
11 Nr 82 RdNr 12 ff, zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen)
.
21
Dabei ist der Bescheid vom 3.6.2015 nach § 96 Abs 1 SGG
Gegenstand des Klageverfahrens geworden
(zur Abgrenzung von § 96 SGG zu § 86 SGG für die Zeit zwischen
Erlass des Widerspruchsbescheids und Klageerhebung nur Schmidt
in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 96
RdNr 3a mwN)
; denn er trifft eine neue, nicht nur wiederholende Regelung bezogen
auf den Streitgegenstand, über den die Widerspruchsbehörde
entschieden hat, und ersetzt die Entscheidung vom 30.6.2014
vollständig (vgl § 39 SGB X). Über ihn ist deshalb im vorliegenden
Klageverfahren zu entscheiden, ohne dass es seiner erneuten
Überprüfung in einem Vorverfahren bedarf. Dies gilt auch, wenn die
Klage gegen den Bescheid vom 30.6.2014 unzulässig, weil nicht
statthaft wäre (zu dieser Möglichkeit sogleich), weil auch eine
unzulässige Klage die für die Anwendung des § 96 Abs 1 SGG
erforderliche Rechtshängigkeit begründet
(vgl etwa BSG Urteil vom 24.9.1992 - 9a RV 39/91 - juris RdNr 14).
Insoweit ist Voraussetzung für eine "Änderung" iS des § 96 Abs 1
SGG lediglich, dass der Ausgangsbescheid Gegenstand eines
anhängigen Gerichtsverfahrens ist
(zu dieser Voraussetzung Becker in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl
2014, § 96 RdNr 26; Schmidt, aaO, § 96 RdNr 2a)
. Folglich kann bei einer - letztlich durch Prozessurteil
abzuweisenden - unzulässigen Klage bezüglich des angefochtenen
Ausgangsbescheids ein neuer abändernder oder ersetzender
Verwaltungsakt auf Grundlage von § 96 Abs 1 SGG zum
Gegenstand des laufenden Verfahrens werden, über den durch
Sachurteil zu entscheiden ist
(vgl Klein in jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 96 RdNr 17 unter Hinweis
auf BSGE 18, 84, 85)
. Ob anderes gilt, wenn die Klage verspätet erhoben wird
(dazu Bienert NZS 2011, 732, 733), braucht nicht entschieden zu
werden. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
22
Damit kann offenbleiben, ob der Bescheid vom 30.6.2014 mit seiner
Bekanntgabe seinerseits Gegenstand des zu diesem Zeitpunkt
noch beim SG anhängigen Klageverfahrens (S 3 SO 120/14) gegen
den Bescheid vom 28.10.2013 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 30.4.2014 geworden ist. In diesem Fall
hätte der Bescheid vom 30.6.2014 zulässigerweise (und
unabhängig davon, dass er in dem ersten Verfahren unter
Verkennung der Rechtslage tatsächlich nicht einbezogen worden
ist) nicht erneut zum Gegenstand eines Widerspruchsverfahrens
gemacht werden können; dies hätte zur Folge gehabt, dass auch
die folgende Klage unzulässig gewesen wäre, weil der Widerspruch
von vornherein nicht statthaft gewesen wäre
(vgl BSG SozR 4-4300 § 323 Nr 1 RdNr 27; BSG SozR 3-1500 § 87
Nr 1 S 5)
. Die mit Rücknahme der ersten Klage eingetretene Bestandskraft
hätte die Widerspruchsbehörde - wie ausgeführt - durch ihre
Entscheidung auch nicht durchbrechen dürfen. Allerdings ist die
Rechtsprechung des BSG zu § 96 Abs 1 SGG für die Fälle
uneinheitlich, in denen ein Bescheid ergeht, der während des
laufenden Klageverfahrens, gerichtet auf höhere Leistungen, eine
begünstigende Änderung nach § 48 SGB X bezogen auf den
Streitgegenstand des Klageverfahrens ablehnt. Der 4. Senat des
BSG sieht den unmittelbaren Anwendungsbereich des § 96 SGG
(unter Bezugnahme auf die ältere Rechtsprechung) als eröffnet an,
weil die vorgenommene neue Sachprüfung es rechtfertige, auch
eine solche Entscheidung wie eine Änderung oder Ersetzung iS von
§ 96 Abs 1 SGG zu behandeln
(vgl BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 11). Ob der
Senat sich dieser Rechtsprechung zu § 96 SGG anschließt oder mit
der Rechtsprechung des 9. Senats
(vgl BSG SozR 4-1300 § 48 Nr 26 RdNr 27)§ 96 SGG in der seit
dem 1.4.2008 geltenden Fassung für nicht anwendbar hält, weil von
dem Bescheid, der eine Änderung nach § 48 SGB X ablehnt, eine
zusätzliche Beschwer bezogen auf das anhängige Klageverfahren
nicht ausgeht, bedarf keiner abschließenden Entscheidung; denn
vorliegend ist die Klage - wie ausgeführt - nach Erlass des
Bescheids vom 3.6.2015 in jedem Fall zulässig.
23
Für die Zeit ab dem 1.7.2015 hat schließlich der Bescheid vom
27.7.2015 die Regelung vom 3.6.2015 ersetzt
(vgl erneut § 96 Abs 1 SGG). Da die beiden zulässigerweise
angefochtenen Bescheide lediglich den Zeitraum vom 1.7.2014 bis
zum 31.10.2015 regeln und Bescheide wegen der weiteren
Bewilligungsabschnitte
(zur abschnittsweisen Bewilligung von Grundsicherungsleistungen
vgl § 44 Abs 3 SGB XII)
nicht (insbesondere im Wege einer Klageerweiterung nach § 99
SGG) in das Verfahren einbezogen worden sind, können höhere
Leistungen für die Zeit ab dem 1.11.2015 nicht zulässiger
Streitgegenstand sein. Auf eine entsprechende Beschränkung des
Klageantrags in zeitlicher Hinsicht wird das LSG nach
Zurückverweisung hinzuwirken haben, bevor es in der Sache
entscheidet.
24
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu
entscheiden haben.