Urteil des BSG vom 25.04.2018

Urteil vom 25.04.2018

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 25.4.2018, B 8 SO 20/16
R
ECLI:DE:BSG:2018:250418UB8SO2016R0
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des
Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Februar 2016
aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1
Im Streit sind höhere Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch
Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) während eines
Auslandsaufenthalts im Mai 2013.
2
Die 1979 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige mit
Wohnsitz in Deutschland. Sie verfügt über eine
Niederlassungserlaubnis und bezog im streitigen Zeitraum eine
befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die beklagte Stadt
bewilligte der Klägerin für April 2013 Hilfe zum Lebensunterhalt in
Höhe von 575,99 Euro mit dem Hinweis, dass die Leistungen bei
gleichbleibenden Verhältnissen für nachfolgende Zeiträume durch
Zahlung weiterbewilligt würden (Bescheid vom 27.3.2013). Wegen
eines Auslandsaufenthalts in der Türkei (2.4. bis 22.5.2013) stellte die
Beklagte die Leistung ab Mai 2013 vorläufig ein
(Bescheid vom 29.4.2013). Der Widerspruch der Klägerin war für die
Zeit ab ihrer Rückkehr sowie hinsichtlich der Kosten für Unterkunft
und Heizung erfolgreich
(Bescheid vom 27.6.2013, Widerspruchsbescheid unter Beteiligung
sozial erfahrener Dritter vom 21.10.2013)
.
3
Während das Sozialgericht (SG) Detmold der Klage stattgegeben und
die Beklagte verurteilt hat, der Klägerin für die Zeit vom 1. bis
22.5.2013 weitere Leistungen in Höhe von 254,67 Euro zu zahlen
(Urteil vom 17.3.2015), hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-
Westfalen die Klage abgewiesen (Urteil vom 18.2.2016). Ein
Anspruch der Klägerin sei ausgeschlossen, weil sie sich nicht
entsprechend § 23 Abs 1 Satz 1 SGB XII im Inland tatsächlich
aufgehalten habe. Soweit nach § 23 Abs 1 Satz 4 SGB XII die
Einschränkungen des § 23 Abs 1 Satz 1 SGB XII nicht für Ausländer
mit Niederlassungserlaubnis gölten, beziehe sich dies ausschließlich
auf das eingeschränkte Leistungsspektrum, nicht aber auf das
Erfordernis des tatsächlichen Aufenthalts. Die Klägerin könne sich
auch nicht auf das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) berufen,
weil seine Anwendung ebenfalls den tatsächlichen Aufenthalt im
Inland voraussetze.
4
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 23 SGB XII.
Das Erfordernis des tatsächlichen Aufenthalts nach § 23 Abs 1 Satz 1
SGB XII sei für Ausländer mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt
im Inland
(§ 30 Abs 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil -
I>)
eine Einschränkung iS des § 23 Abs 1 Satz 4 SGB XII und entfalle bei
einem Ausländer mit Niederlassungserlaubnis. Die örtliche
Zuständigkeit der Beklagten bleibe nach § 98 Abs 1 Satz 2 SGB XII
bestehen.
5
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18.
Februar 2016 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das
Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 17. März 2015
zurückzuweisen.
6
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
8 Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des
LSG-Urteils und der Zurückverweisung der Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht begründet
(§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ). Der Senat kann
mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen zur
Erwerbsminderung/Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht abschließend
entscheiden, ob sie von der Beklagten Leistungen zum
Lebensunterhalt nach dem SGB XII für die Zeit ihres
Auslandsaufenthalts verlangen kann.
9
Gegenstand des Verfahrens (§ 95 SGG) ist der "Einstellungs-
"Bescheid vom 29.4.2013, mit dem die Beklagte Leistungen für die
Zeit ab dem 1.5.2013 abgelehnt hat, in der Fassung des
Teilabhilfebescheids vom 27.6.2013 (§ 86 SGG) in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 21.10.2013. Hiergegen wendet sich
die Klägerin statthaft mit der kombinierten Anfechtungs- und
Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 56 SGG). Mit den
Bescheiden vom 29.4.2013 und 27.6.2013 hat die Beklagte erstmals
endgültig über Ansprüche der Klägerin für den Monat Mai
entschieden
(zur Leistungsablehnung als endgültige Entscheidung vgl zB
Bundessozialgericht Urteil vom 17.6.2008 - B 8 AY 13/07 R -
juris, RdNr 11)
, ohne einen zuvor erlassenen Bewilligungsbescheid abzuändern.
Mit dem Bescheid vom 27.3.2013 hat die Beklagte der Klägerin nach
dem objektiven Empfängerhorizont
(zu diesem Maßstab bei der Auslegung von Verwaltungsakten vgl
zB BSG Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 33/07 R - SozR 4-1500 § 77
Nr 1 RdNr 15 und BSG Urteil vom 23.3.2010 - B 8 SO 2/09 R - SozR
4-5910 § 92c Nr 1 RdNr 14)
nur für April 2013 Hilfe zum Lebensunterhalt bewilligt. Dies ergibt
sich aus dem Verfügungssatz
(§ 31 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch -
Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz :
"Bewilligung (von - bis) APRIL 2013")
und dessen Begründung
(§ 35 Abs 1 Satz 2 SGB X: "Dieser Bescheid regelt das
Leistungsverhältnis nur für oben genannte Bewilligungszeiträume."
und "Für APRIL 2013 ergeben sich lt. nachstehender Berechnung,
die Bestandteil dieses Bescheides ist, folgende Beträge:")
.
10
In der Sache ist Gegenstand des Revisionsverfahrens höhere Hilfe
zum Lebensunterhalt für den Monat Mai 2013 ohne Beschränkung
auf die Regelsatzleistung, wie das LSG meint. Der Kreis L hat der
Klägerin unter teilweiser Abhilfe des Widerspruchs (§ 85 Abs 1 SGG)
Leistungen unter Berücksichtigung der Bedarfe für Unterkunft und
Heizung für den gesamten Monat Mai 2013 bewilligt. Hiergegen hat
sich die Klägerin gewandt und im Klageverfahren ohne
Beschränkung auf den Regelsatz die Verurteilung der Beklagten zu
weiteren Leistungen nach dem SGB XII in Höhe von 254,67 Euro
beantragt. Die Beklagte ist hierzu verurteilt worden. Für eine
Beschränkung der Klage im Berufungsverfahren bestand kein
Anlass und ist auch nichts ersichtlich. Das LSG wird deshalb
Leistungen nach dem SGB XII in vollem Umfang (etwa auch die
Einkommensanrechnung sowie die Kosten von Unterkunft und
Heizung) zu überprüfen haben.
11
Einer Sachentscheidung des Senats stehen keine von Amts wegen
zu berücksichtigenden Verfahrenshindernisse oder gerügte
Verfahrensmängel entgegen. Insbesondere ist für den Fall, dass die
Klägerin im streitigen Zeitraum erwerbsfähig war, weder von Amts
wegen zu prüfen noch gerügt worden, dass der Träger der
Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG
(unechte notwendige Beiladung) beizuladen war
(BSGE 112, 188 = SozR 4-3500 § 49 Nr 1, RdNr 12; Schmidt in
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 75
RdNr 13b mwN)
.
12
Kommen als Leistungen nach dem SGB XII ausschließlich
Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in Betracht, hat
das LSG - unterstellt, die Höhe der Leistungen für den Monat Mai ist
im Übrigen zutreffend berechnet - im Ergebnis zu Recht die
Auffassung vertreten, dass der Klägerin für die Zeit ihres
Auslandsaufenthalts vom 1. bis 22.5.2013 jedenfalls keine
Regelsatzleistung zusteht und deshalb das Urteil des SG
aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat ungeachtet
ihrer Staatsangehörigkeit nach einem mehr als vier Wochen
ununterbrochen andauernden Auslandsaufenthalt keinen Anspruch
auf Gewährung eines anteiligen Regelsatzes als Hilfe zum
Lebensunterhalt. Der Senat kann aber mangels hinreichender
Feststellungen des LSG zur Erwerbsminderung (auf Dauer) /
Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht abschließend entscheiden, ob
für den streitigen Zeitraum ggf Leistungen der Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung oder im Falle der Erwerbsfähigkeit
der Klägerin Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch -
Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) gegen den
zuständigen SGB-II-Leistungsträger nach dessen Beiladung im
wiedereröffneten Berufungsverfahren (§ 75 Abs 2 Alt 2 SGG) in
Betracht kommen.
13
Die Beklagte ist als (durch den Kreis herangezogener) örtlicher
Träger der Sozialhilfe sachlich zuständiger Leistungsträger. Nach §
97 Abs 1 SGB XII ist für die Sozialhilfe sachlich zuständig der
örtliche Träger der Sozialhilfe, soweit nicht der überörtliche Träger
sachlich zuständig ist. Die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen
Trägers der Sozialhilfe wird nach Landesrecht bestimmt
(§ 97 Abs 2 Satz 1 SGB XII, hier § 2 Landesausführungsgesetz zum
SGB XII für das Land Nordrhein-Westfalen vom
16.12.2004, GV NRW 816 iVm § 2 Ausführungsverordnung zum
SGB XII des Landes NRW vom 16.12.2004,
GVBl NRW 816, idF der Ersten Verordnung zur Änderung der AV-
SGB XII NRW vom 11.5.2009, GV NRW 299)
. Die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der
Sozialhilfe für Leistungen nach dem Dritten (und Vierten) Kapitel des
SGB XII ist danach nicht vorgesehen
(zur Befugnis des Senats zur eigenständigen Anwendung und
Auslegung des Landesrechts BSGE 104, 219 = SozR 4-3500 § 74
Nr 1, RdNr 12)
. Örtlich zuständiger Träger ist der Kreis L, der der Beklagten seine
Aufgaben als örtlicher Träger der Sozialhilfe zur Wahrnehmung im
eigenen Namen übertragen hat
(§ 3 Abs 2 Satz 1 SGB XII idF des Gesetzes zur Einordnung des
Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003, BGBl I
3022, iVm § 1 Abs 1 und § 3 Abs 1 Satz 1 AG-SGB XII NRW sowie
der Satzung über die Durchführung der Sozialhilfe und der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Kreis L vom
7.1.2005)
.
14
Offenbleiben kann, ob die Beklagte nach § 98 Abs 1 Satz 1 SGB XII
(idF des Gesetzes vom 27.12.2003, BGBl I 3022), der für die örtliche
Zuständigkeit auf den tatsächlichen Aufenthalt des
Leistungsberechtigten abstellt, im streitigen Zeitraum vom 1. bis
22.5.2013 (für die ersten vier Wochen des Auslandsaufenthalts
siehe unten) auch örtlich zuständig ist. Denn sie ist für diesen
Zeitraum ohnehin materiell-rechtlich nicht zu Leistungen nach dem
Dritten Kapitel des SGB XII an die Klägerin verpflichtet. Einer
Entscheidung, ob es an einer Regelung der örtlichen Zuständigkeit
mangelt, wenn der bisher (und zum Zeitpunkt der Entscheidung)
örtlich zuständige Träger für einen Zeitraum in der Sache
entscheidet, in dem offensichtlich kein anderer Träger der Sozialhilfe
als örtlich zuständig in Betracht kommt, der nach § 18 Abs 2 Satz 1
SGB XII (idF des Gesetzes vom 27.12.2003, BGBl I 3022)beteiligt
werden kann
(so zum - § 98 Abs 1 Satz 1 SGB XII inhaltlich entsprechenden - §
97 Abs 1 Satz 1 Bundessozialhilfegesetz bei längeren
Auslandsurlaubsreisen eines Sozialhilfeempfängers
Bundesverwaltungsgericht Urteil vom 22.12.1998 - 5 C
21/97 - Buchholz 436.0 § 97 BSHG Nr 10)
, bedarf es danach nicht.
15
Materiell-rechtlich bemisst sich der geltend gemachte Anspruch
nach § 23 SGB XII (idF des Gesetzes vom 27.12.2003, BGBl I 3022)
iVm § 19 Abs 1, § 27 Abs 1, § 27a Abs 3 Satz 1 SGB XII
(jeweils idF des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur
Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch -
RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG vom 24.3.2011, BGBl I 453)
oder nach §§ 41 ff SGB XII
(idF des RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG vom 24.3.2011, BGBl I 453).
Ob die Klägerin überhaupt zum leistungsberechtigten Personenkreis
für Leistungen zum Lebensunterhalt gehört oder nach § 21 SGB XII
(idF des RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG vom 24.3.2011, BGBl I 453)
von solchen Leistungen ausgeschlossen ist, weil sie als
Erwerbsfähige dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB
II ist, hat das LSG nicht festgestellt. Der Entscheidung des LSG ist
lediglich zu entnehmen, dass die Klägerin im streitigen Zeitraum eine
Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit bezog. Dies lässt
aber keine Rückschlüsse auf ihre (ggf dauerhafte)
Erwerbsminderung zu. Insbesondere wäre der Senat an etwaige
Feststellungen des Rentenversicherungsträgers zur
Erwerbsminderung nicht gebunden
(vgl bereits BSGE 105, 201 = SozR 4-4200 § 8 Nr 1, RdNr 14 ff, 17;
BSGE 106, 62 = SozR 4-3500 § 82 Nr 6, RdNr 15 f; BSG Urteil vom
9.6.2011 - B 8 SO 1/10 R - Juris RdNr 19; vgl zum erforderlichen
Procedere zur Feststellung der - dauerhaften - Erwerbsminderung
und zur fehlenden Bindung der Gerichte in Feststellungen des
Rentenversicherungsträgers Blüggel in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl
2014, § 41 SGB XII, RdNr 79 ff und § 45 RdNr 36 ff, 62)
.
16
Soweit ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt betroffen ist,
kann die Frage nach der Erwerbsfähigkeit der Klägerin allerdings
offenbleiben, weil sie auch im Falle einer Erwerbsminderung
mangels tatsächlichen Aufenthalts im Bundesgebiet keinen
Anspruch auf Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII hat.
Nach § 23 Abs 1 Satz 1 SGB XII ist Ausländern, die sich im Inland
tatsächlich aufhalten, (nur) Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei
Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe
zur Pflege nach dem SGB XII zu leisten.
17
Der Anspruch auf Leistungen nach dem Dritten Kapitel wird bei
Ausländern damit an den tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet
geknüpft. Der Begriff des "tatsächlichen Aufenthalts" ist
grundsätzlich im Sinne einer körperlichen (physischen) Anwesenheit
zu verstehen
(vgl Schlette in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand März 2018, K § 23
RdNr 7; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl 2014, §
23 RdNr 34;
Decker in Oestreicher, SGB II/SGB XII, § 23 SGB XII RdNr 32, Stand
Juli 2008; Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl
2015, § 23 RdNr 7 und § 98 RdNr 13; Söhngen in jurisPK-SGB XII,
2. Aufl 2014, § 98 RdNr 22)
. Für deutsche Staatsangehörige existiert eine entsprechende
Regelung zwar nicht, allerdings sieht das SGB XII infolge der
Anknüpfung der Hilfezuständigkeit an einen tatsächlichen Aufenthalt
im Zuständigkeitsbereich eines Sozialhilfeträgers
(s oben § 98 Abs 1 Satz 1 SGB XII) auch bei nur vorübergehenden
Auslandsaufenthalten (etwa Urlaubsreisen) im Grundsatz keine
Sozialhilfegewährung vor. Das BVerwG hat für die identische
Rechtslage nach dem BSHG hierin keine ausfüllungsbedürftige
Regelungslücke gesehen, sondern eine Folge des
Territorialitätsprinzips, das vom Gesetzgeber im Falle des § 119
BSHG (heute § 24 SGB XII) durchbrochen werde, im Übrigen aber
nach der bestehenden Rechtslage hinzunehmen sei
(BVerwG Urteil vom 22.12.1998 - 5 C 21/97 - Buchholz 436.0 § 97
BSHG Nr 10)
. Fehle bei Auslandsreisen, die den gewöhnlichen Aufenthalt im
Inland unberührt ließen und deshalb von der Auslandssozialhilfe
nicht erfasst würden, ein zuständiger Sozialhilfeträger, habe dies zur
Folge, dass einem Hilfebedürftigen eine sozialhilferechtliche
Versorgung für einen im Ausland entstehenden Bedarf nicht zustehe
(insoweit kommen Leistungen nach § 5 des Gesetzes über die
Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse
in Betracht)
. Das bedeute nicht, dass ein Hilfeempfänger keine Urlaubsreisen
ins Ausland machen dürfe, er müsse allerdings seinen Bedarf in
dieser Zeit selbst decken bzw von anderen decken lassen
(BVerwG, aaO, Juris RdNr 9).
18
Das BVerwG hat in dieser Entscheidung bezüglich des
tatsächlichen Aufenthalts jedoch zu Recht betont, dass eine durch
den tatsächlichen Aufenthalt eines Hilfeempfängers begründete
örtliche Zuständigkeit eines Trägers der Sozialhilfe nicht schon bei
jeder vorübergehenden Ortsabwesenheit des Hilfeempfängers
ende; vielmehr ließen kurzfristige Abwesenheiten während des
Bewilligungszeitraums von regelmäßig einem Monat die
Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers unberührt
(ebenso Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, Stand März 2018, K § 98
SGB XII RdNr 28; Schoch in LPK-SGB XII, 10. Aufl 2015, § 98 RdNr
14; Söhngen in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 98 RdNr 26; Hohm
in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII 19. Aufl 2015, § 98 RdNr 15;
zweifelnd Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl 2014, §
98 RdNr 8 f)
. Ein solches Verständnis ergibt sich aus Sinn und Zweck des § 98
Abs 1 Satz 1 SGB XII, der durch das Abstellen auf den tatsächlichen
Aufenthalt die Zuständigkeit des ortsnahen Sozialhilfeträgers
anordnet, um im Interesse des Hilfesuchenden eine schnelle und
effektive Beseitigung der gegenwärtigen Notlage zu ermöglichen
(vgl bereits BVerwGE 79, 46, 53). Der "ortsnahe" ist schneller als der
"ortsferne" Sozialhilfeträger in der Lage, die erforderlichen
Ermittlungen, insbesondere zu den persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen des Hilfesuchenden, vorzunehmen
(Effektivität der Sozialhilfe). Der erkennende Senat schließt sich
deshalb dieser Auffassung an, allerdings mit der Maßgabe, dass
kurzfristige Abwesenheiten (nur) bis zu vier Wochen unschädlich
sind. Auslandsaufenthalte von Empfängern von Leistungen zum
Lebensunterhalt werden regelmäßig Urlaubszwecken dienen. Das
Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) sieht als gesetzliche
Mindesturlaubsdauer (§ 3 BUrlG: 24 Werktage) einen Zeitraum von
vier Wochen vor. Es ist deshalb sachgerecht, eine an diesen
Zeitrahmen angelehnte Unterbrechung des tatsächlichen Aufenthalt
hinzunehmen, in der Leistungen weiterzuzahlen sind
(vgl zu diesem Gedanken BT-Drucks 18/9984, S 92).
19
Ein solches Verständnis muss auch bei der Auslegung des
tatsächlichen Aufenthalts iS von § 23 SGB XII zugrunde gelegt
werden, weil für eine funktionsdifferente Auslegung kein Raum ist
(ablehnend Schlette, aaO, § 23 RdNr 7, wonach ein
ununterbrochener Aufenthalt erforderlich sei; auch nur kurzzeitige,
vorübergehende Aufenthalte im Heimatland oder in Drittstaaten
führten zum sofortigen Erlöschen jeglicher Leistungsberechtigung)
. Denn soweit Ausländer einen Anspruch auf Leistungen nach dem
SGB XII haben (sei es eingeschränkt nach § 23 Abs 1 Satz 1 oder
ohne Einschränkung im Hinblick auf ein Daueraufenthaltsrecht
), sind sie Deutschen gleichgestellt. Ein erkennbarer
Grund, den Ausländer dennoch anders zu behandeln, besteht nicht.
20
Die Klägerin kann weitergehende Ansprüche nicht aus § 23 Abs 1
Satz 4 SGB XII
(idF des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der
Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration
von Unionsbürgern und Ausländern - Zuwanderungsgesetz - vom
30.7.2004, BGBl I 1950)
herleiten. Danach gelten die Einschränkungen nach Satz 1 ua nicht
für Ausländer, die - wie die Klägerin - im Besitz einer
Niederlassungserlaubnis (§ 9 Aufenthaltsgesetz ) sind.
Für sie ist Sozialhilfe nach den allgemeinen, dh auch für Deutsche
geltenden, Regelungen zu leisten
(vgl zB Decker in Oestreicher, SGB II/SGB XII, § 23 SGB XII RdNr
121, Stand: Juli 2008; Groth in BeckOK, SGB XII, § 23 RdNr 9,
Stand: 1.12.2017; Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19.
Aufl 2015, § 23 RdNr 13; Schlette in Hauck/Noftz, K § 23 SGB XII
RdNr 38, Stand: Mai 2017)
.
21
§ 23 Abs 1 Satz 4 SGB XII hebt bei Vorliegen seiner
Voraussetzungen aber nicht das Erfordernis eines tatsächlichen
Aufenthalts auf. Soweit dort von den "Einschränkungen nach Satz 1"
die Rede ist, ist - wie das LSG zu Recht ausführt - der
Leistungsumfang, nicht aber ein Verzicht auf den tatsächlichen
Aufenthalt gemeint. Liegen die Voraussetzungen von Satz 4 nicht
vor, hat der Ausländer mit tatsächlichem Aufenthalt im Inland nur
Anspruch auf eine "Grundversorgung" (Wahrendorf, aaO, RdNr 31)
im Sinne einer Beschränkung auf die in Abs 1 Satz 1 genannten
Leistungen. Während er bei Vorliegen der übrigen
Tatbestandsvoraussetzungen Hilfe zum Lebensunterhalt
(§§ 27 ff SGB XII), Hilfe bei Krankheit (§ 48 SGB XII), Hilfe bei
Schwangerschaft und Mutterschaft (§ 50 SGB XII) geltend machen
kann, besteht, soweit keine Sonderregelungen greifen, kein
gebundener Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe für
behinderte Menschen (§§ 53 ff SGB XII), Hilfe zur Überwindung
besonderer Lebenslagen (§§ 67 f SGB XII), Hilfen in anderen
Lebenslagen (§§ 70 ff SGB XII), vorbeugende Gesundheitshilfe
(§ 47 SGB XII), Hilfe zur Familienplanung (§ 49 SGB XII) sowie bei
Sterilisation (§ 51 SGB XII). Diese Leistungen können nur im
Ermessenswege (§ 23 Abs 1 Satz 3 SGB XII) gewährt werden. Nur
diese Einschränkung bzw Beschränkung auf Ermessensleistungen
entfällt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 23 Abs 1
Satz 4 SGB XII erfüllt (ebenso Schlette, aaO, K § 23 RdNr 38).
22
Dies ergibt sich auch aus der Gesetzesentwicklung. § 23 Abs 1 Satz
4 SGB XII war im Gesetzesentwurf (vgl BT-Drucks 15/1514) noch
nicht enthalten, sondern wurde erst auf Vorschlag des Ausschusses
für Gesundheit und Soziale Sicherung als Satz 3 eingefügt
(vgl Beschlussempfehlung BT-Drucks 15/1734 S 20), weil bei
Ausländern, deren Aufenthalt in Deutschland dauerhaft ist oder
voraussichtlich dauerhaft sein wird, das Ermessen
(nach § 23 Abs 1 Satz 3 SGB XII idF des Gesetzes vom 27.12.2003,
aaO)
über die Leistungen der Sozialhilfe, auf die nach den Sätzen 1 und 2
des § 23 Abs 1 SGB XII (idF des ursprünglichen Entwurfs) kein
Anspruch besteht, in der Regel (ohnehin) auf Null reduziert ist, zB
bei ausländischen Ehegatten deutscher Staatsangehöriger oder
anderen Ausländern, bei denen das Ende des Aufenthalts nicht
absehbar ist. Zur Vermeidung problematischer
Einzelfallentscheidungen sollte dies durch den Satz 3 (später Satz
4) klargestellt und eindeutig geregelt werden
(BT-Drucks 15/1761 S 5 f).
23
Auch der Zweck der Sozialhilfe spricht für eine solche Auslegung.
Staatliche "Fürsorge" kann ihre Aufgabe, das Existenzminimum der
im Inland lebenden Menschen sicherzustellen, nur erfüllen, wenn
sich die Leistungsberechtigten tatsächlich im Inland aufhalten.
Bestreiten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland ihren
Lebensunterhalt in erheblichem zeitlichen Umfang im Ausland, so
können staatliche Fürsorgeleistungen ihren Sicherstellungsauftrag
im Inland nicht mehr erfüllen. Dieses Prinzip darf nicht dadurch
unterlaufen werden, dass die für das Inland gedachten
existenzsichernden Leistungen langfristig auch bei
Auslandsaufenthalten gewährt werden
(vgl dazu nur BT-Drucks 18/9984 S 92 zur Einfügung des § 41a
SGB XII; s auch
BSG Urteil vom 21.9.2017 - B 8 SO 5/16 R - RdNr 24 für BSGE und
SozR 4 vorgesehen)
. Dies gilt für deutsche wie für ausländische Staatsangehörige
gleichermaßen.
24
Aus anderen Rechtsvorschriften
(§ 23 Abs 1 Satz 5 SGB XII idF des Gesetzes vom 27.12.2003,
BGBl I 3022)
folgen ebenso keine weitergehenden Ansprüche der Klägerin.
Insbesondere kann sie sich nicht auf das Gleichbehandlungsgebot
des Art 1 EFA vom 11.12.1953 (BGBl II 1956, 564) berufen. Nach
Art 1 dieses Abkommens, das ua die Bundesrepublik Deutschland
und die Türkei unterzeichnet haben
(BGBl II 1958, 18 und BGBl II 1977, 255), ist jeder der
Vertragschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der
anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines
Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt
aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher
Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den
gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und
Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines
Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.
25
Zwar ist das EFA als unmittelbar geltendes Bundesrecht anwendbar
(vgl zB BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107,
66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 24)
und sowohl der persönliche
(Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaats) als auch der sachliche
Anwendungsbereich
("Fürsorge" iS des Art 1 EFA, vgl Art 2 Abs a Buchst i EFA; kein
Vorbehalt für die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII, vgl
Bekanntmachung vom 31.1.2012, BGBl II 144, idF der
Bekanntmachung vom 3.4.2012, BGBl II 470, vgl hierzu zB BSG
Urteil vom 3.12.2015 - B 4 AS 43/15 R - BSGE 120, 139 = SozR 4-
4200 § 7 Nr 46, RdNr 17 ff und Greiser in jurisPK-SGB XII, Anhang
zu § 23 RdNr 91 ff, Stand: 19.7.2016)
gegeben.
26
Art 1 EFA setzt aber einen tatsächlichen Inlandsaufenthalt
("irgendeinem Teil seines Gebietes") voraus
(ebenso zB Schlette, aaO, K § 23 RdNr 26, und hierzu neigend zB
BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 =
SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 36; aA wohl Greiser in jurisPK-SGB
XII, Anhang zu § 23 RdNr 102 f, Stand: 19.7.2016)
. Das EFA unterscheidet zwischen dem tatsächlichen Aufenthalt für
das sozialrechtliche Gleichbehandlungsgebot (Art 1 EFA) und dem
gewöhnlichen Aufenthalt für den Ausweisungsschutz bei
Inanspruchnahme von Leistungen nach Art 6 EFA
(vgl zB Denkschrift zum EFA, BT-Drucks 2/1882, 22 f; vgl auch BT-
Drucks 2/2202 S 1)
. Während des streitigen Auslandsaufenthalts der Klägerin bestand
kein tatsächlicher Aufenthalt im Bundesgebiet; insoweit ist jede
kurzfristige Ortsabwesenheit beachtlich.
27
Schließlich kann auch offenbleiben, ob sich die Klägerin als ggf
(ehemalige) Arbeitnehmerin oder Familienangehörige, wozu das
LSG keine Feststellungen getroffen hat, auf Rechte nach dem sog
Assoziationsrecht zwischen der Europäischen Union und der Türkei
berufen kann, weil jedenfalls die Sozialhilfe von dessen sachlichen
Geltungsbereich ausgenommen ist
(vgl insbesondere Art 4 Abs 4 des Beschlusses Nr 3/80 des
Assoziationsrats vom 19.9.1980 über die Anwendung der Systeme
der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen
Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren
Familienangehörige, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
Nr C 110/60 vom 25.4.1983; widersprüchlich zB
Frings/Janda/Keßler/Steffen, Sozialrecht für Zuwanderer, 2. Aufl
2018, vgl RdNr 32 einerseits und RdNr 426 andererseits)
.
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Der Klägerin kann aber ein Anspruch auf Leistungen der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zustehen, wenn
sie dauerhaft voll erwerbsgemindert ist und die übrigen
Voraussetzungen für entsprechende Leistungen vorliegen
(insbesondere Bedürftigkeit), zu denen das LSG aus seiner Sicht zu
Recht keine Feststellungen treffen musste. Nach § 23 Abs 1 Satz 2
SGB XII bleiben die Vorschriften des Vierten Kapitels des SGB XII
(§§ 41 ff SGB XII)unberührt. Maßgebend für diese Leistungen ist
anders als für Leistungen des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel
der "gewöhnliche Aufenthalt" des Leistungsberechtigten im Inland
(§ 41 Abs 1 SGB XII). Die Klägerin hatte nach den bindenden
Feststellungen des LSG und der von ihm getroffenen
Prognoseentscheidung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im
Bundesgebiet. Es fehlen aber - wie dargelegt - Feststellungen des
LSG zur Erwerbsminderung sowie (bei einer dauerhaften vollen
Erwerbsminderung) zu den Einkommens- und
Vermögensverhältnissen der Klägerin, die dem Senat eine
abschließende Entscheidung ermöglichen. Das LSG wird ggf auch
den zuständigen SGB-II-Leistungsträger beiladen müssen, wenn er
als leistungspflichtig in Betracht kommt (§ 75 Abs 2 Alt 2 SGG).
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Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu
entscheiden haben.