Urteil des BSG vom 10.11.2011

Sozialhilfe - bedarfsorientierte Grundsicherung bzw Grundsicherung bei Erwerbsminderung - behinderungsbedingter Mehrbedarf - kein Anspruch nach § 3 Abs 1 Nr 4 GSiG bzw § 30 Abs 1 Nr 2 SGB 12 aF ohne Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeic

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 10.11.2011, B 8 SO 12/10
R
Sozialhilfe - bedarfsorientierte Grundsicherung bzw
Grundsicherung bei Erwerbsminderung -
behinderungsbedingter Mehrbedarf - kein Anspruch nach § 3
Abs 1 Nr 4 GSiG bzw § 30 Abs 1 Nr 2 SGB 12 aF ohne Besitz
eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G
- Verfassungsmäßigkeit - abweichende Festlegung des
Regelbedarfs
Leitsätze
1. Bis 7.12.2006 bestand kein Anspruch auf einen pauschalierten
Mehrbedarf wegen Behinderung, solange der Hilfeempfänger
nicht im Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit dem
Merkzeichen "G" war.
2. Ein tatsächlicher individueller Mehrbedarf rechtfertigte bis zum
Besitz des Schwerbehindertenausweises lediglich unter den
gesetzlichen Bestimmungen eine vom Regelsatz abweichende
höhere Leistung.
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des
Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 25. Februar
2010 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1
Im Streit sind höhere Sozialhilfeleistungen bzw Leistungen der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, insbesondere
ein Mehrbedarf (wegen Behinderung) für den Zeitraum vom 1.2.2004
bis 30.9.2006.
2
Der 1948 geborene Kläger bezog bis Dezember 2004 Leistungen der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
(bestandskräftiger Bescheid vom 25.4.2005), nachdem ihm zunächst
Sozialhilfeleistungen gezahlt worden waren, nach dem
Grundsicherungsgesetz (GSiG), von Januar 2005 bis Mai 2005
Arbeitslosengeld II (bestandskräftiger Bescheid vom 16.2.2005)nach
dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für
Arbeitsuchende - (SGB II) und ab Juni 2005 erneut Leistungen der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
(bestandskräftiger Bescheid vom 23.5.2005)nach §§ 41 ff
Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
3
Mit (Ausführungs-)Bescheid vom 11.10.2006 stellte das
Versorgungsamt beim Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von
50 und die Voraussetzungen für das Vorliegen des
Nachteilsausgleichs "G" fest. Dieser Entscheidung war ein
Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Hannover
vorausgegangen, das mit einem entsprechenden Anerkenntnis im
Termin zur mündlichen Verhandlung am 27.9.2006 endete. Ein
Schwerbehindertenausweis mit einem GdB von 50 und dem
Nachteilsausgleich "G", gültig ab 1.2.2004, wurde am 23.10.2006
ausgestellt. Die Beklagte bewilligte auf Antrag des Klägers vom
31.10.2006 für die Zeit ab Oktober 2006 einen pauschalierten
Mehrbedarf aufgrund der Schwerbehinderung mit dem Merkzeichen
"G", lehnte diesen aber für den Zeitraum von Februar 2004 bis
September 2006 mit der Begründung ab, ein Mehrbedarf könne erst
ab Ausstellung des Schwerbehindertenausweises mit dem
Merkzeichen "G" gewährt werden
(Bescheid vom 22.11.2006; Widerspruchsbescheid vom 17.4.2007).
4
Klage und Berufung sind erfolglos geblieben
(Urteil des SG Hannover vom 31.8.2007; Urteil des
Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 25.2.2010).
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt,
Streitgegenstand seien nur Mehrbedarfsleistungen wegen der
Schwerbehinderung mit dem Merkzeichen "G". Einen solchen
Anspruch habe der Kläger nach dem Wortlaut der einschlägigen
Bestimmungen erst ab Besitz des Schwerbehindertenausweises im
Oktober 2006. Nach § 3 Abs 1 Nr 4 GSiG und § 30 Abs 1 Nr 2 SGB
XII (in der bis zum 6.12.2006 geltenden Fassung) sei der Besitz eines
Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen "G" für den
pauschalierten Mehrbedarf Anspruchsvoraussetzung. Da nach § 40
Abs 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I)
Ansprüche auf Sozialleistungen erst entstünden, wenn ihre im Gesetz
oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen erfüllt
seien, scheide ein pauschalierter Mehrbedarf für zurückliegende
Zeiten ab Feststellung des Merkzeichens "G" aus. Von diesem
Verständnis gehe auch der Gesetzgeber aus; dies zeige die
Gesetzesbegründung zur Änderung des § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII,
wonach die bis zum 6.12.2006 geltende Rechtslage zur Folge habe,
dass der Mehrbedarf erst ab dem Zeitpunkt der Ausstellung des
Schwerbehindertenausweises und damit regelmäßig erst mehrere
Wochen nach Bekanntgabe des Feststellungsbescheides in
Anspruch genommen werden könne.
5
Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 3 Abs 1 Nr 4
GSiG und des § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII. Die vom LSG
vorgenommene Auslegung sei keineswegs zwingend. Die
Tatbestandsvoraussetzung "Besitz" sage nichts zum
Leistungsbeginn. Nach seinem Wortsinn könne dieses
Tatbestandsmerkmal auch so verstanden werden, dass die
Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises mit einem
Gültigkeitsdatum genüge, das den Zeitraum vor Ausstellung erfasse;
der Beweiswert, der von dem Ausweis ausgehe, sei bei einer
nachträglichen Vorlage derselbe. Eine solche Auslegung ermögliche
eine möglichst weitgehende Verwirklichung der sozialen Rechte, wie
dies § 2 Abs 2 SGB I fordere. Eine zeitliche Begrenzung, wann der
Nachweis der Voraussetzungen durch den Ausweis zu erfolgen habe
und dass dieser Nachweis nicht rückwirkend erbracht werden könne,
sei den maßgebenden Normen nicht zu entnehmen. Ein enges
Verständnis führe hingegen zu einem praktischen Rechtsverlust für
die Zeiten, in denen die Gehbehinderung bereits vorgelegen und
damit auch ein erhöhter Bedarf bestanden habe. Dies verstoße
gegen Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) und den substantiellen
Anspruch auf eine tatsächliche wirksame gerichtliche Kontrolle. Die
Effektivität des Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) sei ungenügend;
der Betroffene erleide durch die Fehleinschätzung der Behörde nicht
hinnehmbare finanzielle Nachteile. Der Verweis auf die Möglichkeit
eines Amtshaftungsanspruchs stelle insoweit keinen adäquaten
Ersatz dar. Der Anspruch auf den Mehrbedarf für den
streitbefangenen Zeitraum ergebe sich (hilfsweise) aus dem
sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, weil nur durch das
Verschulden der Versorgungsverwaltung eine
Anspruchsvoraussetzung nicht erfüllt gewesen sei.
6
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, den Bescheid vom 22.11.2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 17.4.2007 aufzuheben und ihm unter
Abänderung entgegenstehender Bescheide für die Zeit von Februar
2004 bis September 2006 einen monatlichen Mehrbedarf nach § 3
Abs 1 Nr 4 GSiG bzw § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII zu zahlen bzw den
Regelsatz zu erhöhen.
7
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
9 Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der
Sache an das LSG begründet
(§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ). Das LSG hat
zwar zu Recht entschieden, dass der Kläger im streitbefangenen
Zeitraum keinen Anspruch auf einen pauschalierten Mehrbedarf
nach § 3 Abs 1 Nr 4 GSiG bzw nach § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII hat; ob
der Kläger allerdings einen Mehrbedarf hatte, der eine vom
Regelsatz abweichende Festlegung und im Rahmen eines
Zugunstenverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch -
Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X)
rückwirkend zu erbringende Leistungen rechtfertigt, kann der Senat
mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des LSG nicht
entscheiden.
10
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 22.11.2006 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.4.2007 (§ 95 SGG), mit
dem die Beklagte die Zahlung eines behinderungsbedingten
Mehraufwands für den streitbefangenen Zeitraum abgelehnt hat.
Dabei hat der Senat entgegen der Auffassung des LSG nicht allein
darüber zu befinden, ob dem Kläger ein Mehrbedarf wegen
rückwirkender Änderung der Verhältnisse ab Februar 2004 nach § 3
Abs 1 Nr 4 GSiG bzw nach § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII zusteht; ist der
pauschalierte Mehrbedarf nachträglich nicht zu erbringen, ist auch
darüber zu entscheiden, ob ein (konkret) bestehender
behinderungsbedingter Mehrbedarf, der durch den Kläger
tatsächlich gedeckt wurde, im Rahmen eines Zugunstenverfahrens
nach § 44 SGB X nachträglich zu erbringen ist, weil die Beklagte zu
Unrecht höhere Leistungen vorenthalten hat.
11
Zwar ist der pauschalierte Mehrbedarf nach § 3 Abs 1 Nr 4 GSiG
bzw nach § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII ein abtrennbarer
Streitgegenstand, mit der Möglichkeit, die Klage entsprechend zu
beschränken
(vgl nur Coseriu in juris Praxiskommentar SGB XII, § 19
SGB XII RdNr 76.2 mwN zur Rechtsprechung)
; nach dem sog Meistbegünstigungsgrundsatz
(vgl hierzu nur: BSG SozR 4-3500 § 18 Nr 1 RdNr 22; Link in
Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 37 RdNr 21 ff mwN zur
Rechtsprechung)
muss aber davon ausgegangen werden, dass die Klage insoweit
gerade nicht beschränkt worden ist, sondern ein "Mehrbedarf" für die
Vergangenheit unabhängig von der jeweiligen Anspruchsgrundlage
geltend gemacht wurde. Bestätigt wird dies durch das Schreiben an
die Beklagte vom 26.10.2006 mit dem Antrag, die zustehenden
"zusätzlichen Leistungen seit Februar 2004" zu bewilligen, sowie
durch den Klagantrag, mit dem die Zahlung eines Mehrbedarfs für
die Vergangenheit verlangt worden ist. Im Streit sind somit
insgesamt höhere Leistungen.
12
Unabhängig davon, ob sich die Begründetheit der Klage an § 48
SGB X oder an § 44 SGB X bzw (für die Zeit bis 31.12.2004) an den
Vorschriften des Niedersächsischen
Verwaltungsverfahrensgesetzes (NVwVfG) iVm dem
Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes (VwVfG) misst, ist die
richtige Klageart die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und
Leistungsklage nach § 54 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 4, § 56 SGG. In
beiden Fällen ist neben der Aufhebung der streitgegenständlichen
(ablehnenden) Bescheide die Behörde zu verpflichten, die (einer
nachträglichen Leistung) entgegenstehenden Bescheide (im Urteil
des LSG sind nicht alle bezeichnet) aufzuheben, und zur Leistung
zu verurteilen
(BSGE 88, 299, 300 = SozR 3-4300 § 137 Nr 1 S 2; BSGE 104, 213
ff RdNr 9 mwN = SozR 4-1300 § 44 Nr 20)
.
13
Mangels in Niedersachsen angeordneten Behördenprinzips
(vgl § 70 Nr 3 SGG) richtet sich die Klage gemäß § 70 Nr 1 SGG
gegen die Region Hannover. Hieran ändert nichts, dass die Stadt
Hannover den angegriffenen Bescheid erlassen hat. Nach § 8 Abs 1
Satz 1 des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zum SGB XII
(AG SGB XII) vom 16.12.2004
(Gesetz- und Verordnungsblatt 644) kann die Region
Hannover zwar zur Durchführung der ihr als örtlichem
Sozialhilfeträger obliegenden Aufgabe durch Satzung oder
öffentlich-rechtlichen Vertrag regionsangehörige Gemeinden
heranziehen, und von dieser Möglichkeit hat sie auch Gebrauch
gemacht
(§ 1 der Satzung über die Heranziehung von regionsangehörigen
Städten und Gemeinden zur Durchführung der von der Region
Hannover als örtlichem Träger der Sozialhilfe obliegenden Aufgaben
nach dem SGB XII vom 14.12.2004 in der Fassung vom 7.3.2006 -
Gemeinsames Amtsblatt für die Region Hannover und die
Landeshauptstadt Hannover Nr 14 vom 6.4.2006)
; jedoch handelt die herangezogene kommunale Körperschaft
gemäß § 9 Abs 4 AG SGB XII (nur) im Namen des örtlichen Trägers
der Sozialhilfe, der damit der richtige Beteiligte bleibt
(vgl hierzu Senatsurteil vom 9.6.2011 - B 8 SO 1/10 R - RdNr 13
mwN)
.
14
Die Beklagte war der für die Entscheidung örtlich und sachlich
zuständige Träger der Sozialhilfe nach § 3 Abs 2, § 97 Abs 1, § 98
Abs 1 SGB XII in Verbindung mit § 1 Satz 1 und § 6 Abs 1 AG SGB
XII (und § 44 Abs 3 SGB X). Sie ist Gesamtrechtsnachfolgerin des
Landkreises Hannover und nimmt dessen Aufgaben wahr
(§§ 2, 3 Abs 3 Gesetz über die Region Hannover vom 5.6.2001 -
GVBl 348).
Die Heranziehung der Stadt Hannover nach § 99 Abs 1 SGB XII in
Verbindung mit § 8 Abs 1 AG SGB XII verändert nicht die
Zuständigkeit (§ 9 Abs 4 AG SGB XII). Der Senat ist nicht gehindert,
die dem Grunde nach nicht revisiblen (§ 162 SGG)
landesrechtlichen Vorschriften anzuwenden und auszulegen, weil
das LSG diese Vorschriften bei seiner Entscheidung
unberücksichtigt gelassen hat
(BSGE 102, 10 ff RdNr 28 = SozR 4-2500 § 264 Nr 2; Senatsurteil
vom 9.6.2011 - B 8 SO 1/10 R - juris RdNr 14).
15
Materiellrechtlich misst sich die Begründetheit der Revision an § 44
Abs 1 SGB X. § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X findet - unabhängig
von der Frage nach seiner Geltung im Rahmen des GSiG - keine
Anwendung. Danach soll ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung bei
einer Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen,
die bei dessen Erlass vorlagen, mit Wirkung vom Zeitpunkt der
Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die
Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. Eine Änderung der
Verhältnisse ist frühestens für die Zeit ab Oktober 2006
anzunehmen, weil der Kläger erst ab diesem Zeitpunkt im Besitz
eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen "G" war
und deshalb auch erst ab Oktober 2006 die Voraussetzungen für
einen Mehrbedarf nach § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII zu bejahen sind,
sodass ohne Bedeutung ist, ob § 48 SGB X im Rahmen des GSiG
Anwendung findet, bzw welche Regelung bei Änderung der
Verhältnisse anzuwenden wäre.
16
Nach § 3 Abs 1 Nr 4 GSiG umfasste die bedarfsorientierte
Grundsicherung einen Mehrbedarf von 20 vH des für den
Antragsberechtigten maßgebenden Regelsatzes eines
Haushaltsvorstandes nach dem Zweiten Abschnitt des
Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) bei Besitz eines Ausweises
nach § 4 Abs 5 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) mit dem
Merkzeichen "G". Eine entsprechende Regelung sieht für die Zeit ab
1.1.2005 § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII
(in der Normfassung des Gesetzes zur Einordnung des
Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003 - BGBl I
3022)
vor. Danach wird ein Mehrbedarf von 17 vH des maßgebenden
Regelsatzes für Personen anerkannt, die unter 65 Jahre und voll
erwerbsgemindert nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch -
Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) sind und einen Ausweis
nach § 69 Abs 5 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation
und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) mit dem
Merkzeichen G besitzen, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender
Bedarf besteht. Der Kläger war - unabhängig von den übrigen
Tatbestandsvoraussetzungen für den Bezug von Leistungen nach
dem GSiG bzw SGB XII - in dem streitbefangenen Zeitraum
jedenfalls nicht im Besitz eines solchen Ausweises.
17
Diese Regelungen sind entgegen der Auffassung des Klägers nicht
dahin auszulegen, dass die im Oktober 2006 eingetretene Änderung
der Verhältnisse auf den Zeitpunkt der Anerkennung des
Nachteilsausgleichs "G" - hier also auf die Zeit ab Februar 2004 -
zurückwirkt. Zwar können spätere Änderungen der Sach- und
Rechtslage sogar bis auf den Zeitpunkt des Erlasses des
ursprünglichen Dauerverwaltungsaktes zurückwirken, also die Sach-
oder Rechtslage ex tunc ändern
(vgl BSG SozR 3-2600 § 93 Nr 3 S 17 mwN); maßgebend hierfür ist
aber eine rückwirkende Umgestaltung der Rechtslage, deretwegen
der Verwaltungsakt (auch für den zurückliegenden Zeitraum) nicht
mehr oder nicht mehr so erlassen werden dürfte.
18
§ 3 Abs 1 Nr 4 GSiG stellte allerdings ebenso wie § 30 Abs 1 Nr 2
SGB XII nicht lediglich auf die Feststellungswirkung des
Nachteilsausgleichs "G" oder das Vorliegen seiner
Voraussetzungen ab. Zu den im Gesetz bestimmten
Voraussetzungen gehört nach dem eindeutigen Wortlaut der
genannten Vorschriften vielmehr der "Besitz"
(Simon in jurisPK-SGB XII, § 30 SGB XII RdNr 44; W. Schellhorn/H.
Schellhorn, BSHG, 16. Aufl 2002, § 23 RdNr 13)
. Der Senat hat deshalb bereits entschieden, dass der Mehrbedarf
des § 30 Abs 1 Nr 1 SGB XII tatbestandlich mit der Ausstellung
eines Schwerbehindertenausweises und der Zuerkennung des
Merkzeichens "G" verbunden ist
(BSGE 104, 200 ff RdNr 14 = SozR 4-3500 § 30 Nr 1); allein der
Zeitpunkt der Feststellungswirkung des Merkzeichens "G" ist zur
Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen also nicht ausreichend.
Anders als die Feststellung des Nachteilsausgleichs "G" selbst, die
für die Zeit ab Februar 2004 Wirkung entfaltet, wird der "Besitz" nicht
rückwirkend eingeräumt. Die Anspruchsvoraussetzungen für den
pauschalierten Mehrbedarf können deshalb nicht vor Oktober 2006
eintreten. Zu Recht verweist das LSG in diesem Zusammenhang auf
§ 40 Abs 1 SGB I, wonach Ansprüche auf Sozialleistungen erst mit
Vorliegen der im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten
Voraussetzungen entstehen; im Umkehrschluss bedeutet dies, dass
vor dieser Zeit kein Anspruch nach den bezeichneten Vorschriften
besteht.
19
Auch Sinn und Zweck der Regelungen rechtfertigen keine
erweiternde Auslegung in dem von dem Kläger gewünschten Sinn.
Der jetzigen Regelung über den pauschalierten Mehrbedarf war die
Regelung des § 23 Abs 1 BSHG (vom 30.6.1961 - BGBl I 815)
vorausgegangen, die den Mehrbedarfszuschlag zunächst nicht an
eine bestimmte Behinderung, sondern typisierend nur an Alter und
geminderte Erwerbsfähigkeit knüpfte (BSG, aaO, RdNr 15). Die
zusätzliche Koppelung des Anspruchs auf einen pauschalierten
Mehrbedarf an den Besitz eines Ausweises nach § 4 Abs 5 SchwbG
mit dem Merkzeichen "G" erfolgte durch das Gesetz zur Reform des
Sozialhilferechts vom 23.7.1996 (BGBl I 1088), weil wegen
veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen nicht mehr
allgemeine Bedarfslagen im Zusammenhang mit Alter und
Erwerbsminderung erfasst werden sollten, sondern nur die Fälle, bei
denen neben Alter und Erwerbsunfähigkeit auch mittelbar oder
unmittelbar mit dem eingeschränkten Gehvermögen
zusammenhängende Bedarfe vorhanden waren, die zur
Vermeidung einer verwaltungsaufwändigen Prüfung der konkret mit
den gesundheitlichen Einschränkungen verbundenen Bedarfe
pauschaliert abgedeckt werden sollten
(BSG, aaO, RdNr 17 unter Hinweis auf eine Beschlussempfehlung
des Vermittlungsausschusses, BT-Drucks 13/5067, S 2 f)
.
20
Soweit der Gesetzgeber die Anspruchsvoraussetzungen dabei nicht
allein an das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für
die Feststellung des Nachteilsausgleichs "G" knüpfte, sondern an
den Besitz eines entsprechenden Ausweises, diente dies, wie sich
auch aus der Änderung der Vorschrift durch das Gesetz zur
Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer
Gesetze vom 2.12.2006 (BGBl I 2670) zeigt, Nachweiszwecken und
damit der Verwaltungspraktikabilität und der
Verwaltungsvereinfachung. Den Sozialhilfeträgern sollte - jedenfalls
für die Gewährung eines typisierten, pauschalierten Mehrbedarfs -
nicht aufgebürdet werden, eigene Ermittlungen zur Feststellung
einer erheblichen Einschränkung der Gehfähigkeit zu prüfen. Anders
etwa als bei der Feststellung der dauerhaften vollen
Erwerbsminderung, die in eigener Zuständigkeit zu prüfen ist - ggf
nach einem entsprechenden Ersuchen nach § 109a Abs 2 SGB VI
und der Bindung des ersuchenden Sozialhilfeträgers an die
Entscheidung des Trägers der Rentenversicherung
(vgl § 45 Abs 1 SGB XII) - hat der Gesetzgeber hier auf eine
vergleichbare Regelung verzichtet. Ebenso hat er von einer (bloßen)
Bindung an die Entscheidung des Versorgungsamtes - wie etwa bei
der Hilfe zur Pflege in § 62 SGB XII (Bindung an die Entscheidung
der Pflegekasse) - abgesehen.
21
Das gesetzgeberische Anliegen ist nachvollziehbar. Der Status des
Schwerbehinderten und die Berechtigung zur Inanspruchnahme von
Nachteilsausgleichen beginnen grundsätzlich mit dem Vorliegen der
gesetzlichen Voraussetzungen, und dementsprechend ist nach § 6
Abs 1 Nr 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung
(SchwbAwV)als Beginn der Gültigkeit des Ausweises in der Regel
der Tag des Eingangs des Antrags auf eine entsprechende
Feststellung vorgesehen. Wollte man auch bei dem typisierten
Mehrbedarf nach dem GSiG bzw SGB XII auf den Status des
Schwerbehinderten und die Berechtigung zur Inanspruchnahme von
Nachteilsausgleichen abstellen, führte dies bei vorangegangenem
Leistungsbezug in jedem Falle zu einer rückwirkenden Leistung
pauschalierter Mehrbedarfe für die Vergangenheit. Dies
widerspräche nicht nur den Grundsätzen der
Verwaltungspraktikabilität, sondern auch der Absicht des
Gesetzgebers, weil andernfalls eine Korrektur praktisch in allen
Fällen, in denen ein Antrag nach dem SGB IX (früher SchwbG)
gestellt wird bzw dem GSiG gestellt worden war, im Gesetz bereits
angelegt wäre.
22
Dass der Gesetzgeber von einem solchen Verständnis der Norm
ausgegangen ist, zeigt insbesondere die spätere
Gesetzesentwicklung. Durch das Gesetz zur Änderung des Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 2.12.2006
(BGBl I 2670) wurde in § 30 Abs 1 SGB XII mit Wirkung vom
7.12.2006 die Angabe "einen Ausweis nach § 69 Abs 5 des
Neunten Buches mit dem Merkzeichen G besitzen" durch die
Angabe "durch einen Bescheid der nach § 69 Abs 4 des Neunten
Buches zuständigen Behörde oder einen Ausweis nach § 69 Abs 5
des Neunten Buches die Feststellung des Merkzeichens G
nachweisen" ersetzt. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu,
dass der Mehrbedarf ohne die Gesetzesänderung erst ab dem
Zeitpunkt der Ausstellung des Schwerbehindertenausweises und
damit regelmäßig erst mehrere Wochen nach Bekanntgabe des
Feststellungsbescheides in Anspruch genommen werden könne
(BT-Drucks 16/2711, S 11 zu Nr 8). Ob die vom Senat
vorgenommene Auslegung nach der Änderung des § 30 Abs 1 SGB
XII auch für die Zeit ab 7.12.2006 gilt, bedarf hier keiner
Entscheidung (verneinend:
Simon in jurisPK-SGB XII, § 30 SGB XII RdNr 44; Münder in Lehr-
und Praxiskommentar SGB XII, 8. Aufl 2008, § 30 SGB XII
RdNr 6; Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl 2010, § 30
SGB XII RdNr 11; bejahend: Coseriu in Kommentar zum Sozialrecht
, 2. Aufl 2011, § 30 SGB XII RdNr 3; nicht ganz eindeutig:
Adolph in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 30 SGB XII
RdNr 4, Stand Januar 2008)
.
23
Das in § 2 Abs 2 Halbsatz 2 SGB I enthaltene Gebot, bei der
Auslegung der Vorschriften des Sozialgesetzbuches
sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend
verwirklicht werden, rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Die ihrer
dogmatischen Natur und ihrem Inhalt nach umstrittene Vorschrift
(vgl nur: Bürck, SGb 1984, 7 ff; ders, Festschrift 50 Jahre
Bundessozialgericht, 139 ff; Eichenhofer, SGb 2011, 301 ff und 511
ff)
besagt allerdings nicht mehr, als dass Auslegungsspielräume bei
den einzelnen Anspruchsgrundlagen, die die in §§ 3 bis 10 SGB I
genannten sozialen Rechte umsetzen sollen - §§ 3 bis 10 SGB I
bilden, wie aus § 2 Abs 1 Satz 2 SGB I folgt, selbst keine
Anspruchsgrundlagen -, mit dem normativen Gehalt des jeweils
betroffenen sozialen Rechts gefüllt und dadurch möglichst
weitgehend zur Geltung gebracht werden sollen
(BSG SozR 3-4100 § 134 Nr 9 S 34 f). Die Vorschrift ist aber keine
Korrekturvorschrift, die es erlauben würde, einen
entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers zu überspielen
(Voelzke in jurisPK-SGB I, 2. Aufl 2011, § 2 RdNr 25). Selbst wenn
danach ein Auslegungs- oder Entscheidungsresultat anzustreben
ist, das die sozialen Rechte zur Geltung bringt und optimiert
(vgl Eichenhofer, SGb 2011, 301, 302; Voelzke, aaO, § 2 RdNr 24),
setzt eine Konkretisierung der maßgeblichen Normen voraus, dass
das bei der Auslegung nach den anerkannten Methoden (Wortlaut,
Teleologie, Entstehungsgeschichte und Systematik) zu
berücksichtigende Optimierungsgebot einen entsprechenden
Interpretationsspielraum zulässt. Dies ist aber gerade nicht der Fall.
24
Die auf die Tatbestandswirkung des Besitzes abstellende
gesetzliche Regelung ist nicht verfassungswidrig. Insbesondere
verstößt sie nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz
(Art 3 Abs 1 GG). Art 3 Abs 1 GG ist nur dann verletzt, wenn eine
Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen
Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden
Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht
bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten
(BVerfGE 55, 72, 88; BVerfGE 117, 272, 300 f = SozR 4-2600 § 58
Nr 7 RdNr 70; BVerfGE 112, 50, 67 = SozR 4-3800 § 1 Nr 7 RdNr
55)
. Bei der Überprüfung eines Gesetzes auf Übereinstimmung mit dem
allgemeinen Gleichheitssatz ist nicht zu untersuchen, ob der
Gesetzgeber die zweckmäßigste oder gerechteste Lösung
gefunden hat, sondern nur, ob er die verfassungsrechtlichen
Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit eingehalten hat
(BVerfGE 84, 348, 359 mwN; 110, 412, 436). Es bleibt grundsätzlich
ihm überlassen, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an die er
dieselbe Rechtsfolge knüpft, die er also im Rechtssinn als gleich
ansehen will (BVerfGE 21, 12, 26; 23, 242, 252). Allerdings muss er
die Auswahl sachgerecht treffen
(BVerfGE 17, 319, 330; 53, 313, 329; 67, 70, 85 f). Der normative
Gehalt der Gleichheitsbindung erfährt insoweit eine Präzisierung
jeweils im Hinblick auf die Eigenart des zu regelnden Sachbereichs
(vgl BVerfGE 75, 108, 157 = SozR 5425 § 1 Nr 1 S 11). Das
Bundesverfassungsgericht legt je nach dem Regelungsgegenstand
und Differenzierungsmerkmal einen unterschiedlichen
Prüfungsmaßstab an
(vgl zusammenfassend: BVerfGE 88, 87, 96 f; 105, 73, 110 f = SozR
3-1100 Art 3 Nr 176 S 173)
.
25
Legt man diese Maßstäbe zugrunde, so besteht nur zwischen der
Personengruppe, die im Besitz eines Ausweises ist, und der
Personengruppe ohne einen entsprechenden Ausweis ein
Unterschied. Innerhalb der Personengruppen werden hingegen alle
Betroffenen gleich behandelt. Die Dauer bis zur Erteilung eines
Schwerbehindertenausweises mag zwar unterschiedlich sein, hieran
knüpft der Gesetzgeber aber nicht die von ihm gewählten
Rechtsfolgen. Eine vermeintliche Ungleichbehandlung erfolgt
allenfalls durch die Verwaltungspraxis, sie ist aber nicht schon in der
Norm angelegt, die ohne Unterschied den Besitz des
Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen "G" fordert.
26
Soweit es die unterschiedliche Behandlung von Schwerbehinderten
mit und ohne Schwerbehindertenausweis betrifft, hat der
Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner
Gestaltungsfreiheit nach oben Gesagtem eingehalten. Der der
Regelung innewohnende Nachweiszweck mag es zwar auch
zulassen, auf einen früheren Zeitpunkt als den des Besitzes des
Schwerbehindertenausweises abzustellen; verfassungsrechtlich
geboten war dies jedoch nicht. Der Gesetzgeber war auch nicht
verfassungsrechtlich gehalten, eine rückwirkende Bewilligung eines
pauschalierten Mehrbedarfs vorzusehen, zumal eine solche
Leistung dem Zweck der Sozialhilfe widerspräche. Im Bereich der
Sozialhilfe ist insoweit zu berücksichtigen, dass sie grundsätzlich nur
der Behebung einer gegenwärtigen Notlage dient (sog
Gegenwärtigkeitsprinzip) und grundsätzlich nicht als nachträgliche
(pauschale) Geldleistung ausgestaltet ist, sondern an einen
aktuellen Hilfebedarf anknüpft
(BSGE 104, 213 ff RdNr 13 = SozR 4-1300 § 44 Nr 20 mwN). Zwar
hat der Senat im Rahmen seiner Entscheidung zu § 44 SGB X
ausgeführt (BSG aaO), dass ggf auch pauschalierte Leistungen bei
fortdauernder Bedürftigkeit nachzuzahlen sind; diese
Rechtsprechung ist allerdings im Zusammenhang mit der
rechtswidrigen Vorenthaltung von Leistungen zu sehen. Sie
rechtfertigt nicht die Annahme, es sei generell verfassungsrechtlich
geboten, unabhängig von einem konkreten Bedarf rückwirkend
typisierte, pauschalierte Leistungen zu erbringen.
27
Die gesetzliche Regelung ist auch nicht unverhältnismäßig und
verstößt deshalb nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip
(Art 20 Abs 3 GG). Sie macht zwar den Anspruch auf den
pauschalierten Mehrbedarf wegen der Tatbestandswirkung der
anderweitig zu treffenden Entscheidung auch von Zufälligkeiten im
Verfahrensablauf abhängig. Es ist aber nicht ungewöhnlich, dass ein
Sozialleistungsanspruch von einer anderen Entscheidung abhängt.
Die Rechtsprechung hat dies unter Berücksichtigung der Möglichkeit
der Beteiligten, eine solche Entscheidung zu verzögern, im
Grundsatz als verfassungsgemäß angesehen
(vgl zB zur Rentenerhöhung erst nach Rechtskraft des
Versorgungsausgleichs BSG SozR 3-2200 § 1304b Nr 1; zum
Besitz einer Aufenthaltserlaubnis als Voraussetzung für Leistungen
nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz BSGE 70, 197 ff = SozR 3-
7833 § 1 Nr 7)
.
28
Der Gefahr einer rechtsmissbräuchlichen Verzögerung kann
ausreichend begegnet werden. Bis zum formalen Feststellungsakt
durch das Versorgungsamt (bzw früher bis zur Ausstellung eines
entsprechenden Ausweises) ist den Betroffenen bei Vorliegen der
Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs
"G" nämlich nur die Möglichkeit genommen, einen
behinderungsbedingten Mehrbedarf pauschal (also ohne Nachweis)
geltend zu machen; soweit die Voraussetzungen des § 22 Abs 1
Satz 2 BSHG bzw des § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII vorliegen, hat er
gleichwohl generell einen Anspruch auf Ausgleich eines
abweichenden Bedarfs
(Münder in LPK-SGB XII, 8. Aufl 2008, § 30 SGB XII RdNr 8; Coseriu
in KSW, 2. Aufl 2011, § 30 SGB XII RdNr 3; ähnlich auch Grube in
Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl 2010, § 30 SGB XII RdNr 19)
, weil sein Existenzminimum aus verfassungsrechtlichen Gründen
gesichert werden muss; ein unabweisbarer, laufender besonderer
Bedarf kann dem Hilfebedürftigen nicht vorenthalten werden
(BVerfGE 125, 175 ff = SozR 4-4200 § 20 Nr 12).
29
§ 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII ist im Rahmen der Grundsicherung der
§§ 41 ff SGB XII anzuwenden; denn § 42 SGB XII verweist durch die
Bezugnahme auf § 28 SGB XII auf dessen gesamtes
Leistungsspektrum
(Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, aaO, § 42 SGB XII RdNr 2), wie
der Senat bereits entschieden hat
(BSGE 99, 252 ff RdNr 20 f = SozR 4-3500 § 28 Nr 3 mwN). Höhere
Leistungen als der Regelsatz können aber auch im Rahmen der
Leistungen nach dem GSiG erbracht werden. Nach § 3 Abs 1 Nr 1
GSiG wird zwar zur Bemessung der Grundsicherungsleistung nach
dem GSiG allein auf den Regelsatz des § 22 Abs 1 Satz 1 BSHG
abgestellt, weil der Gesetzgeber den Bedarf unabhängig von
individuellen Bedürfnissen pauschaliert und unter dem
Gesichtspunkt der Verwaltungsvereinfachung eine nur beschränkt
individuelle Bedarfsermittlung vorgesehen hat
(BT-Drucks 14/5150, S 49). Allerdings muss die Sozialhilfe als
gegenüber Leistungen nach dem GSiG nachrangige Leistung
(BSGE 104, 207 ff RdNr 16 = SozR 4-3530 § 6 Nr 1; vgl heute § 19
Abs 2 Satz 2 SGB XII)
den nach den Vorschriften des GSiG ermittelten Lebensunterhalt
aufstocken, soweit das BSHG den nach den Besonderheiten des
Einzelfalls bemessenen Lebensunterhalt in größerem Umfang deckt
(Schoch in LPK-GSiG, § 3 RdNr 11; zum SGB XII BSG, Urteil vom
9.6.2011 - B 8 SO 11/10 R -, sowie Coseriu in jurisPK-SGB XII, § 19
SGB XII RdNr 43 ff; zu der im GSiG nicht vorgesehenen
Übergangsregelung des § 23 Abs 1 Satz 2 BSHG BSG SozR 4-
3500 § 30 Nr 2 RdNr 18).
Das GSiG beabsichtigte keine Bedarfsdeckung für jeden
individuellen Einzelfall, sondern eine eigenständige Sozialleistung,
die eine Inanspruchnahme von Sozialhilfe typischerweise
entbehrlich machen sollte. Demzufolge konnte und musste ein
atypischer Mehrbedarf mittels der Hilfe zum Lebensunterhalt
abgedeckt werden
(Fichtner/Wenzel, BSHG, 2. Aufl 2003, RdNr 4 f Vor GSiG).
30
Vor diesem Hintergrund scheidet ein Verstoß gegen Art 19 Abs 4
GG aus. Zwar garantiert das Verfahrensgrundrecht des Art 19 Abs 4
GG nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit,
die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des
Rechtsschutzes (BSG SozR 4-2500 § 96 Nr 1 RdNr 29 mwN); dies
erfordert, dass irreparable Entscheidungen soweit wie möglich
ausgeschlossen werden (BSG, aaO, mwN). Zu berücksichtigen ist
dabei aber, dass es der Betroffene selbst in der Hand hat, durch
Substantiierung eines Mehrbedarfs über § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII
bzw § 22 Abs 1 Satz 2 BSHG drohende Nachteile zu verhindern. Bei
einer ablehnenden Entscheidung durch den Sozialhilfeträger steht
ihm darüber hinaus der Weg über den einstweiligen Rechtsschutz
nach § 86b Abs 2 SGG zur Seite. Selbst bei Bestandskraft eines
einen individuellen Mehrbedarf ablehnenden Bescheids steht dem
Betroffenen der Weg über § 44 SGB X (dazu unten)offen.
31
Da eine etwaige Verzögerung in dem Anerkennungsverfahren nach
dem SGB IX nicht dem Beklagten zuzurechnen ist, kann ein etwa
eingetretener Rechtsnachteil auch nicht im Wege des
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ausgeglichen werden.
Nach Sinn und Zweck des § 3 Abs 1 Nr 4 GSiG bzw § 30 Abs 1 Nr 2
SGB XII muss sich der Beklagte ein etwaiges Fehlverhalten des
Versorgungsamtes im Rahmen eines Herstellungsanspruches nicht
zurechnen lassen, weil das Versorgungsamt nicht in das
Sozialleistungsverfahren nach dem SGB XII funktional einbezogen
ist (vgl dazu BSGE 71, 217 f mwN = SozR 3-1200 § 14 Nr 8 S 19).
Insoweit verbleibt ggf der Amtshaftungsanspruch nach § 839
Bürgerliches Gesetzbuch iVm Art 34 GG, der sich allerdings nicht
gegen den Sozialhilfeträger selbst richtet.
32
Vorliegend verbleibt eine Prüfung des geltend gemachten
Anspruchs in Anwendung des § 44 Abs 1 SGB X. Ob für das GSiG §
44 SGB X - was nahe liegt - Anwendung findet oder ob insoweit auf
§ 48 Abs 1 Satz 1 VwVfG iVm § 1 NVwVfG zu rekurrieren ist
(offen gelassen BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 15 RdNr 14 ff), der die
Rücknahme bestandskräftiger Verwaltungsakte und damit die
nachträgliche Zahlung von Leistungen grundsätzlich ins Ermessen
der Beklagten stellt, bedarf keiner abschließenden Entscheidung,
weil die Beklagte Leistungen bis 31.12.2004 (zunächst) nach dem
BSHG gewährt hat und erst durch Bescheid vom 23.5.2005 (im
Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X) Leistungen
nach dem GSiG unter Berücksichtigung bereits nach dem BSHG
erbrachter Leistungen bewilligt hat. Mit diesem Bescheid hat sie die
früheren Sozialhilfebescheide ersetzt und gleichzeitig, ohne dass
dies einer ausdrücklichen Verfügung bedurft hätte, zusätzliche
Sozialhilfeleistungen abgelehnt. Das Verfahren nach § 44 SGB X,
mit dem höhere Leistungen begehrt werden, betrifft mithin
Leistungen des BSHG, für das der Senat die Anwendung des § 44
SGB X bereits angenommen hat (BSG, aaO, RdNr 19).
33
Nach § 44 Abs 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er
unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem
Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt
ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und deshalb
Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Ob dies der
Fall ist, vermag der Senat angesichts fehlender Feststellungen des
LSG zu den Anspruchsvoraussetzungen allgemein und zur Höhe
des Anspruchs, insbesondere zu einem etwa bestehenden
Mehrbedarf nicht zu beurteilen. Entsprechende Feststellungen wird
das LSG nachzuholen und dabei zu berücksichtigen haben, dass es
insoweit nicht auf eine Kenntnis des Sozialhilfeträgers bezüglich des
Mehrbedarfs, der ergänzende bzw höhere Leistungen nach § 22
Abs 1 Satz 2 BSHG bzw § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII zulässt,
ankommt. Die für die Erbringung von Leistungen notwendige
Kenntnis (§ 5 BSHG; § 18 SGB XII) wird schon durch die der
Beklagten bekannte Hilfebedürftigkeit vermittelt
(vgl BSGE 104, 207 ff RdNr 16 = SozR 4-3530 § 6 Nr 1). § 18 SGB
XII bzw § 5 BSHG sollen zum Schutz des Hilfebedürftigen einen
niedrigschwelligen Zugang zum Sozialhilfesystem sicherstellen,
sodass es für die Annahme einer Kenntnis ausreichend ist, dass die
Notwendigkeit der Hilfe dargetan oder sonst erkennbar ist
(BSG SozR 4-3500 § 18 Nr 1 RdNr 23). Sollte das LSG zu dem
Ergebnis gelangen, dass dem Kläger zu Unrecht Leistungen
vorenthalten wurden, wird es die von dem Senat in seinem Urteil
vom 29.9.2009 (BSGE 104, 213 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20)
aufgestellten Grundsätze beachten müssen.
34
Für den Zeitraum von Januar bis Mai 2005, in dem der Kläger
Leistungen nach dem SGB II bezogen hat, wird das LSG zu prüfen
haben, ob er (der Kläger) als Erwerbsfähiger oder als Angehöriger
dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II war. Dann
scheiden nach § 21 SGB XII Leistungen der Beklagten für die
Vergangenheit auch in Anwendung des § 44 SGB X für den
genannten Zeitraum aus. War der Kläger aber auf nicht absehbare
Zeit nicht in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des
allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich
erwerbstätig zu sein (§ 8 SGB II), und sind ihm deshalb (bei
Vorliegen der übrigen Leistungsvoraussetzungen) statt der
Leistungen nach dem SGB XII zu Unrecht
(§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB II)Leistungen nach dem SGB II bewilligt
worden, ist dem Bewilligungsbescheid vom 23.5.2005 gleichzeitig
die konkludente Ablehnung von Leistungen (auch eines
Mehrbedarfs) für die Zeit vom 1.1. bis 31.5.2005 zu entnehmen, die
einer Korrektur nach § 44 Abs 1 SGB X zugänglich ist.
35
Das LSG wird schließlich auch prüfen müssen, ob wegen einer
etwaigen Nichtbeteiligung sozial erfahrener Personen im
Widerspruchsverfahren (§ 116 Abs 2 SGB XII) ein von Amts wegen
zu berücksichtigender Mangel des Vorverfahrens vorliegt
(dazu BSGE 106, 62 ff RdNr 12 = SozR 4-3500 § 82 Nr 6), und ggf
auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden
haben.