Urteil des BSG vom 22.03.2018

Rentenversicherung - arbeitnehmerähnlicher Selbstständiger - Existenzgründungsphase - Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs 1a S 1 Nr 1 SGB 6 - Beginn des Dreijahreszeitraums

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 22.3.2018, B 5 RE 1/17 R
ECLI:DE:BSG:2018:220318UB5RE117R0
Rentenversicherung - arbeitnehmerähnlicher
Selbstständiger - Existenzgründungsphase - Befreiung von
der Versicherungspflicht nach § 6 Abs 1a S 1 Nr 1 SGB 6 -
Beginn des Dreijahreszeitraums
Leitsätze
Der Dreijahreszeitraum, für den sog arbeitnehmerähnliche
Selbstständige in der Existenzgründungsphase von der
Rentenversicherungspflicht befreit werden können, beginnt
unabhängig vom Eintritt der Versicherungspflicht mit der
erstmaligen Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit, in deren
Zusammenhang regelmäßig kein versicherungspflichtiger
Arbeitnehmer beschäftigt und die auf Dauer und im Wesentlichen
nur für einen Auftraggeber erbracht wird.
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Thüringer
Landessozialgerichts vom 11. Januar 2017 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an
dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten noch darüber, ob die Beklagte den Kläger für
die Zeiträume 1.6.2007 bis 31.12.2007 und 1.1.2009 bis 30.6.2009
von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Rentenversicherung befreien und der Kläger für diese Zeit Beiträge
zahlen muss.
2
Der Kläger ist geboren am 30.11.1969 und seit dem 1.12.2003 als
Versicherungsfachmann selbstständig tätig. Zunächst vermittelte der
Kläger bis zum 31.12.2006 Versicherungen und
Finanzdienstleistungen der A. AG. Der Kläger beschäftigte ab dem
1.12.2003 bis 30.6.2006 eine Büroleiterin gegen eine Vergütung von
1000 Euro im Monat. Ab dem 1.7.2006 war die Büroleiterin für ein
monatliches Gehalt von 165 Euro tätig und erzielte auch zusammen
mit Arbeitsverdiensten aus anderen Beschäftigungen kein
Arbeitsentgelt in Höhe von mehr als 400 Euro monatlich.
3 Ab dem 1.1.2007 war der Kläger als Handelsvertreter in der
Vermittlung von Versicherungen und Geldanlagen für die H. aG und
deren Kooperationspartner tätig. Daneben arbeitete der Kläger ab
Dezember 2008 auch als Handelsvertreter für die Firma s.
Immobilien. In dieser Tätigkeit erzielte der Kläger keine positiven
Einkünfte.
4 Am 14.5.2007 reichte der Kläger bei der Beklagten einen
Fragebogen zur Feststellung der Pflichtversicherung kraft Gesetzes
als selbstständig Tätiger ein und gab an, seit dem 1.12.2003
Versicherungen zu vermitteln und keinen Arbeitnehmer zu
beschäftigen. Mit Schreiben vom 25.5.2007 teilte die Beklagte dem
Kläger mit, es bestehe die Möglichkeit, dass er aufgrund seiner
selbstständigen Tätigkeit als Versicherungsfachmann ab dem
1.12.2003 versicherungspflichtig sei. Weitere Angaben für die
Erteilung des Bescheides über die Versicherungspflicht würden
benötigt. Es bestehe die Möglichkeit von einkommensgerechten
Beitragszahlungen. Eine befristete Befreiung könne nicht erfolgen.
In einem Telefonat mit der Beklagten am 1.6.2007 teilte der Kläger
mit, er habe vom 1.12.2003 bis 31.12.2006 einen
rentenversicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigt. Mit
Bescheid vom 16.7.2007 stellte die Beklagte fest, dass vom
1.12.2003 bis 30.6.2006 keine Versicherungspflicht des Klägers
bestand, da im Zusammenhang mit der selbstständigen Tätigkeit
mindestens ein versicherungspflichtiger Arbeitnehmer beschäftigt
wurde. Ab dem 1.7.2006 bestehe Versicherungspflicht. In einem
weiteren Bescheid vom 16.7.2007 setzte die Beklagte für die Zeit
der versicherungspflichtigen Tätigkeit ab dem 1.7.2006 die
monatlichen Beitragshöhen fest. Dagegen erhob der Kläger am
monatlichen Beitragshöhen fest. Dagegen erhob der Kläger am
6.8.2007 Widerspruch und machte geltend, die Beitragspflicht dürfte
erst drei Jahre nach erstmaliger Aufnahme seiner selbstständigen
Tätigkeit, dh erst am 1.12.2006 bestehen. Die Beklagte sah darin
einen Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht ab
1.12.2003 und lehnte diesen mit Bescheid vom 1.11.2007 ab.
Dagegen erhob der Kläger erneut Widerspruch am 20.11.2007. Mit
Bescheid vom 25.1.2008 lehnte die Beklagte den "Antrag vom
06.06.2007 in Verbindung mit 20.11.2007" ab. Der Kläger habe
bereits eine selbstständige Tätigkeit als Versicherungsvertreter im
Zeitraum 1.12.2003 bis 31.12.2006 ausgeübt. Eine Befreiung für
diesen Zeitraum sei wegen verspäteter Antragstellung abgelehnt
worden. Für die Tätigkeit als Versicherungsvertreter als zweite
Existenzgründung ab 01.1.2007 sei eine Befreiung von der
Versicherungspflicht nicht möglich, da der Geschäftszweck
gegenüber der vorangegangenen Tätigkeit nicht wesentlich
verändert worden sei. Von der Aufnahme einer zweiten
selbstständigen Tätigkeit könne nicht ausgegangen werden. Den
dagegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 3.3.2009 zurück. Der
Widerspruchsbescheid erging auf den "Widerspruch gegen den
Bescheid vom 01.11.2007". Zur Begründung führte die Beklagte
aus, mit dem Widerspruch werde die Befreiung von der
Rentenversicherungspflicht ab dem 1.1.2007 begehrt. Dies sei nur
während der Existenzgründerphase von drei Jahren möglich. Der
Beginn des Dreijahreszeitraums richte sich nach der Aufnahme der
Tätigkeit, die zur Versicherungspflicht geführt habe. Dies gelte auch,
wenn noch nicht alle Voraussetzungen der Versicherungspflicht
vorgelegen haben. Eine befristete Befreiung sei nur für die erste und
die zweite aufgenommene Tätigkeit möglich. Von einer zweiten
Existenzgründung könne auch ausgegangen werden, wenn diese
unmittelbar an die Aufgabe der ersten selbstständigen Tätigkeit
anschließe, es sich jedoch bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise
um eine neue Gründung handele. Dies sei beim Kläger nicht der
Fall.
5
Mit seiner zum SG Altenburg erhobenen Klage hat der Kläger
zunächst beantragt, "den Bescheid vom 01.11.2007" in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 3.3.2009 aufzuheben. Mit
Bescheid vom 11.4.2012 hat die Beklagte die Versicherungsfreiheit
des Klägers in der Zeit vom 1.1.2008 bis 31.12.2008 festgestellt, da
die selbstständige Tätigkeit in geringfügigem Umfang ausgeübt
wurde, und die seit 1.7.2006 rückständigen Beiträge sowie die
laufenden Beitragshöhen festgesetzt und ausgeführt, der Bescheid
werde Gegenstand des anhängigen sozialgerichtlichen Verfahrens.
Mit Bescheid vom 14.11.2013 hat die Beklagte neue Beitragshöhen
ab 1.11.2007 und mit einem weiteren Bescheid vom 14.11.2013
erneut die Beiträge ab 1.7.2006 sowie eine Nachzahlung von
insgesamt 14 327,06 Euro festgesetzt. In beiden Bescheiden hat die
Beklagte ausgeführt, sie würden Gegenstand des anhängigen
sozialgerichtlichen Verfahrens. Mit Beschluss vom 12.3.2014 hat
das SG Altenburg das Verfahren ausgesetzt. Die Beklagte hat mit
Widerspruchsbescheid vom 12.6.2014 den Widerspruch gegen den
Bescheid vom 16.7.2007, soweit ihm nicht durch die Bescheide vom
11.4.2012 und vom 14.11.2013 abgeholfen worden ist,
zurückgewiesen. Zuletzt hat der Kläger in der mündlichen
Verhandlung vor dem SG beantragt, den Bescheid der Beklagten
vom 25.1.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
3.3.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn für den
Zeitraum vom 1.1.2007 bis zum 31.12.2007 und vom 1.1.2009 bis
zum 31.12.2009 von der Versicherungspflicht zu befreien sowie den
Bescheid vom 14.11.2013 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12.6.2014 aufzuheben, soweit darin
für die Zeiträume vom 1.1.2007 bis 31.12.2007 und vom 1.1.2009
bis 31.10.2012 Beiträge gefordert werden.
6
Das SG hat die Beklagte verurteilt, den Kläger für die Zeiträume
1.6.2007 bis 31.12.2007 und 1.1.2009 bis 30.6.2009 von der
Versicherungspflicht zu befreien und den Bescheid vom 25.1.2008
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3.3.2009
aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht. Es hat
zudem den Bescheid vom "14.11.2014" in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12.6.2014 aufgehoben, soweit er
eine Beitragserhebung für die Zeiträume 1.6.2007 bis 31.12.2007
und 1.1.2009 bis 30.6.2009 beinhaltet. Im Übrigen hat das SG die
Klage abgewiesen (Urteil vom 14.10.2014). Das SG hat dies im
Wesentlichen damit begründet, dass die erstmalige Aufnahme einer
Tätigkeit, die die Voraussetzungen der Versicherungspflicht erfüllte,
am 1.7.2006 erfolgt sei. Hiernach bestimme sich der Beginn des
Dreijahreszeitraums für die Befreiung von der Versicherungspflicht.
Die Befreiung wirke vorliegend vom Eingang des Antrags an. Der
Kläger habe zwar erstmals in seinem Widerspruch vom 6.8.2007
den Wunsch nach einer Befreiung von der
Rentenversicherungspflicht zum Ausdruck gebracht. Der Kläger
werde im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs jedoch
so gestellt, als hätte er den Befreiungsantrag bereits am 1.6.2007
gestellt. Aus der telefonischen Mitteilung des Klägers von diesem
Tag sei für die Beklagte erkennbar gewesen, dass der Kläger seine
Beitragsbelastung möglichst gering halten wollte und dass in Folge
der zunächst gegebenen, dann aber weggefallenen Beschäftigung
eines versicherungspflichtigen Arbeitnehmers mit der Folge des
Eintritts der Versicherungspflicht des Klägers diese Befreiung von
der Versicherungspflicht in Betracht gekommen sei. Eine
entsprechende Antragstellung sei eine erkennbare, naheliegende
Gestaltungsmöglichkeit, die der Kläger aller Voraussicht nach
wahrgenommen hätte.
7 Die Berufung der Beklagten hat das Thüringer LSG zurückgewiesen
und auf die Begründung des SG Bezug genommen
(Urteil vom 11.1.2017). Ergänzend hat das LSG ausgeführt, die
Befreiungsvorschrift des § 6 Abs 1a SGB VI setze systematisch
voraus, dass der Selbstständige versicherungspflichtig sein müsse.
Dies sei nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI nicht der Fall, wenn der
Selbstständige einen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer
beschäftige.
8
Dagegen hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt eine
Verletzung von § 6 Abs 1a S 1 Nr 1 SGB VI. Der Wortlaut dieser
Vorschrift spreche stärker dafür, dass für den Beginn des
Dreijahreszeitraums auf die Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit
abzustellen sei. Anderenfalls hätte das Gesetz zum Ausdruck
bringen müssen, dass der Dreijahreszeitraum mit dem erstmaligen
Eintreten der Versicherungspflicht beginne. Langjährig
Selbstständige würden sonst noch als Existenzgründer behandelt,
sofern sie zB erst nach vielen Jahren einen versicherungspflichtigen
Arbeitnehmer entlassen und erst dadurch versicherungspflichtig
werden. Selbst für Tätigkeiten, die vor dem 1.1.1999 aufgenommen
wurden, sei eine Befreiung bei Versicherungspflicht ab 1.1.1999
möglich gewesen, soweit der Dreijahreszeitraum nach Aufnahme
der selbstständigen Tätigkeit noch nicht überschritten gewesen sei.
Die Befreiungsmöglichkeit bestehe nach den Gesetzesmaterialien
(BT-Drucks 14/1855, S 9)nur für die Übergangsphase zu Beginn
einer selbstständigen Tätigkeit (Existenzgründungsphase) und solle
die Konzentration der finanziellen Mittel auf den Aufbau des
Betriebes ermöglichen. Zudem beruhe die Einbeziehung der
Selbstständigen mit einem Auftraggeber in die Versicherungspflicht
darauf, dass diese nicht weniger sozial schutzbedürftig seien als die
anderen von § 2 SGB VI erfassten Personen. Eine wie vom LSG
angenommene Befreiungsmöglichkeit würde deshalb einem
langjährig Schutzbedürftigen die Möglichkeit einräumen, sich selbst
des sozialen Schutzes zu berauben. Die Beklagte sieht ihre
Rechtsauffassung bestätigt in der Vorschrift des § 6 Abs 1a S 3
SGB VI. Trete nach Ende einer Versicherungspflicht nach § 2 S 1 Nr
10 SGB VI eine Versicherungspflicht nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI ein,
werde die Zeit, in der die dort genannten Merkmale bereits vor dem
Eintritt der Versicherungspflicht nach dieser Vorschrift vorgelegen
haben, auf den Dreijahreszeitraum nicht angerechnet. Die Beklagte
verweist auch auf die Regelung des § 165 Abs 1 S 2 SGB VI. Auch
hier werde allein auf die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit
abgestellt.
9 Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 11. Januar 2017
aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 14.
Oktober 2014 abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
10
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
11
Der Kläger trägt vor, in den Gesetzesmaterialien
(BT-Drucks 14/1855, S 9)werde ausdrücklich ausgeführt, der Beginn
des Dreijahreszeitraums richte sich nach der erstmaligen Erfüllung
der Merkmale des § 2 S 1 Nr 9 SGB VI. Es sei nicht einzusehen,
weshalb der in der Krise befindliche Selbstständige, der
versicherungspflichtige Arbeitnehmer entlassen muss und plötzlich
versicherungspflichtig wird, vor zusätzlichen Beiträgen nicht
geschützt werden soll.
Entscheidungsgründe
12
Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung
des angefochtenen LSG-Urteils und der Zurückverweisung des
Rechtsstreits an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung begründet.
13
Die Voraussetzungen für eine Befreiung des Klägers von der
Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs 1a S 1 Nr 1 SGB VI liegen
zwar in der Zeit vom 1.6.2007 bis 31.12.2007 und vom 1.1.2009 bis
30.6.2009 dem Grunde nach vor. Der Senat kann auf der Grundlage
der vom LSG festgestellten Tatsachen jedoch nicht abschließend
beurteilen, wann ein Befreiungsantrag des Klägers bei der
Beklagten eingegangen ist, dh ab welchem Zeitpunkt eine von der
Beklagten zu erteilende Befreiung wirkt (§ 6 Abs 4 SGB VI) und der
Kläger infolge dessen keine Beiträge zu zahlen hat. Deshalb ist das
Urteil des LSG insgesamt aufzuheben und der Rechtsstreit an
dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 S 2 SGG).
14
A. Im Revisionsverfahren ist darüber zu entscheiden, ob die
Beklagte mit Bescheid vom 25.1.2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 3.3.2009 die Befreiung des Klägers
von der Rentenversicherungspflicht vom 1.6.2007 bis 31.12.2007
und vom 1.1.2009 bis 30.6.2009 rechtswidrig abgelehnt und den
Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt hat. Weiterer
Prüfungsinhalt ist der Bescheid der Beklagten vom 14.11.2013 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.6.2014, soweit
darin für diese Zeiträume Rentenversicherungsbeiträge festgesetzt
wurden.
15
I. Der Kläger hat mit seiner am 25.3.2009 beim SG Altenburg
erhobenen Klage den Bescheid vom 25.1.2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 3.3.2009 fristgerecht angefochten.
Zwar hat der Kläger mit seinem Schriftsatz vom 24.3.2009
ausdrücklich Klage erhoben "gegen den Bescheid der Beklagten
vom 01.11.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
03.03.2009". Während die Beklagte in ihrem Bescheid vom
1.11.2007 die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht ab dem
1.12.2003 wegen einer verspäteten Antragstellung vom 6.8.2007
ablehnte, war Gegenstand des Widerspruchsbescheides vom
3.3.2009 die Überprüfung der abgelehnten Befreiung erst für die Zeit
ab dem 1.1.2007. Entgegen der Formulierung im Eingangssatz zum
Widerspruchsbescheid vom 3.3.2009 "hat Ihren Widerspruch gegen
den Bescheid vom 1.1.2007 geprüft und beschlossen" erging der
Widerspruchsbescheid auf den Widerspruch des Klägers gegen den
Bescheid vom 25.1.2008. Nur dieser Bescheid enthält eine
Entscheidung über den Antrag des Klägers auf Befreiung von der
Rentenversicherungspflicht in seiner Tätigkeit für die H. aG ab dem
1.1.2007. Der Widerspruchsbescheid vom 3.3.2009 nennt das
falsche Datum des Ausgangsbescheides "01.11.2007" statt
"25.1.2008". Diesen offensichtlichen Schreibfehler hat der Kläger in
seiner Klage zum SG Altenburg übernommen. Wie auch die
Klagebegründung im Schriftsatz vom 11.8.2009 zeigt, begehrte der
Kläger eindeutig allein die Befreiung von der Versicherungspflicht ab
dem 1.1.2007 und damit die Aufhebung des Bescheides vom
25.1.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
3.3.2009. Mit seinem erstmals in der mündlichen Verhandlung
gestellten Verpflichtungsantrag hat der Kläger den Klageantrag
zulässig erweitert nach § 99 Abs 3 Nr 2 SGG
(vgl Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12.
Aufl 2017, § 99 RdNr 4)
.
16
Der Kläger begehrt nur noch eine Befreiung von der
Rentenversicherungspflicht für die Zeiträume vom 1.6.2007 bis
31.12.2007 und vom 1.1.2009 bis 30.6.2009. Nach der Feststellung
der Versicherungsfreiheit des Klägers in der Zeit vom 1.1.2008 bis
31.12.2008 mit Bescheid der Beklagten vom 11.4.2012 hat sich der
Bescheid vom 25.1.2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 3.3.2009 für diesen Zeitraum erledigt.
17
II. Weiterer Prüfungsinhalt ist der alle früheren Bescheide über die
Festsetzung von Rentenversicherungsbeiträgen für die streitigen
Zeiträume ersetzende Bescheid der Beklagten vom 14.11.2013 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.6.2014. Entgegen
dem Hinweis der Beklagten, der Bescheid würde nach § 96 Abs 1
SGG Gegenstand des anhängigen sozialgerichtlichen Verfahrens,
ist der Regelungsgegenstand nicht identisch mit dem Inhalt des
zunächst allein mit der Klage angegriffenen Bescheides vom
25.1.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
3.3.2009 über die Ablehnung der Befreiung von der
Versicherungspflicht. Die Nichtanwendbarkeit des § 96 Abs 1 SGG
schließt es aber nicht aus, dass diese Bescheide im Wege einer
(gewillkürten) Klageänderung nach § 99 Abs 1 iVm Abs 2 SGG zum
Gegenstand eines anhängigen Prozesses gemacht werden, wenn
sich die übrigen Beteiligten - wie hier - in der mündlichen
Verhandlung darauf eingelassen haben
(vgl BSG Urteil vom 7.2.2012 - B 13 R 85/09 R - SozR 4-1200 § 52
Nr 5, RdNr 35 und vom 20.3.1996 - 6 RKa 51/95 - BSGE 78, 98, 103
= SozR 3-2500 § 87 Nr 12 S 38 f)
.
18
Nach Aussetzung des Verfahrens vor dem SG wurde das noch
fehlende Widerspruchsverfahren nachgeholt. Mit
Widerspruchsbescheid vom 12.6.2014 hat die Beklagte den
Widerspruch gegen den Bescheid vom 16.7.2007, soweit ihm nicht
durch die Bescheide vom 11.4.2012 und vom 14.11.2013
abgeholfen worden ist, zurückgewiesen. Damit liegen alle, auch im
Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachtenden
Sachurteilsvoraussetzungen vor.
19
B. Für die von den Vorinstanzen ausgeurteilten Zeiten vom 1.6.2007
bis 31.12.2007 und vom 1.1.2009 bis 30.6.2009 kommt ein
Anspruch des Klägers auf Befreiung von der
Rentenversicherungspflicht als sog arbeitnehmerähnlicher
Selbstständiger nach § 6 Abs 1a S 1 Nr 1 SGB VI
(idF von Art 2 Nr 2 des Gesetzes zur Förderung der Selbständigkeit
vom 20.12.1999, BGBl I 2)
grundsätzlich in Betracht. Danach werden von der
Versicherungspflicht befreit Personen, die nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI
versicherungspflichtig sind, für einen Zeitraum von drei Jahren nach
erstmaliger Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit, die die
Merkmale des § 2 S 1 Nr 9 SGB VI erfüllen. Die Befreiung wirkt vom
Vorliegen der Befreiungsvoraussetzungen an, wenn sie innerhalb
von drei Monaten beantragt wird, sonst vom Eingang des Antrags an
(§ 6 Abs 4 SGB VI idF von Art 1 des Gesetzes zur Reform der
gesetzlichen Rentenversicherung - Rentenreformgesetz 1992 - vom
18.12.1989, BGBl I 2261).
20
I. Als einzige tatbestandsmäßige Voraussetzung von § 6 Abs 1a S 1
Nr 1 SGB VI ist die Versicherungspflicht nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI
durch die entsprechenden Regelungen in den Bescheiden vom
16.7.2007 aufgrund ihrer Tatbestandswirkungen im Verhältnis der
Beteiligten und für die Gerichte verbindlich geklärt. Eine weitere
Prüfung ist damit weder zulässig noch erforderlich. Der Streit der
Beteiligten betrifft folgerichtig allein die Rechtsfolge des § 6 Abs 1a S
1 Nr 1 SGB VI und dort die Frage nach dem Beginn des für eine
Befreiung äußerstenfalls in Betracht kommenden Zeitraums. Der
Normwortlaut der Nr 1 "für einen Zeitraum von drei Jahren nach
erstmaliger Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit, die die
Merkmale des § 2 Satz 1 Nr. 9 erfüllt", gibt entgegen der Auffassung
des LSG weder Anlass, auch insofern den Eintritt von
Versicherungspflicht zu verlangen, noch rechtfertigt er entgegen der
Revision ein Verständnis, demzufolge bereits die bloße Aufnahme
einer selbstständigen Tätigkeit genügen könnte.
21
1. Generell ergibt sich Versicherungspflicht erst aus der
Zusammenschau einer Mehrheit normativer Anordnungen und kann
erst dann bejaht werden, wenn neben den Voraussetzungen eines
die Versicherungspflicht anordnenden Grundtatbestandes nicht
gleichzeitig gesetzliche Tatbestands- oder Rechtsfolgenreduktionen
eingreifen, Regelungen zur Versicherungsfreiheit einschlägig sind,
oder eine im Einzelfall vorrangige Befreiung zu beachten ist. Eine
derartige vom Grundtatbestand des § 2 S 1 Nr 9 SGB VI
ausgehende - hiermit aber nicht endende - umfassende Prüfung der
Versicherungspflicht erfordert § 6 Abs 1a S 1 SGB VI lediglich als
tatbestandsmäßige Voraussetzung eines Befreiungsanspruchs
("Personen, die nach § 2 Satz 1 Nr. 9 versicherungspflichtig sind
…"). Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Norm (vgl bereits
BSGE 95, 238, 243 = SozR 4-2600 § 2 Nr 5, RdNr 22)und daraus,
dass rechtlich und sprachlogisch eine "Befreiung" nur beim
Bestehen von Versicherungspflicht in Betracht kommen kann
(so auch die stRspr des BSG, etwa Urteil vom 24.11.2005 - B 12 RA
9/03 R - SozR 4-2600 § 6 Nr 5 RdNr 16 und BSG Urteil vom
28.6.1990 - 4 RA 12/90 - Juris RdNr 16)
. Dagegen nimmt das Gesetz für den Beginn des
Dreijahreszeitraums auf der Rechtsfolgenseite lediglich die
"Merkmale des § 2 Satz 1 Nr. 9" in Bezug, verweist also auf die
tatbestandlichen Voraussetzungen allein dieser Norm und fordert
weder eine darüber hinausgehende "Versicherungspflicht" noch
lässt es bereits die bloße Aufnahme einer von dieser Norm nicht
erfassten selbstständigen Tätigkeit genügen.
22
2. Dass der Kläger versicherungspflichtig nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI
ist, ist durch die entsprechenden Regelungen in den Bescheiden
vom 16.7.2007 aufgrund ihrer Tatbestandswirkungen im Verhältnis
der Beteiligten und für die Gerichte verbindlich geklärt. Der Kläger
hat gegen die Feststellung der Versicherungspflicht ab dem
1.7.2006 keinen Widerspruch erhoben. Dies ergibt sich aus dem
Vorbringen des Klägers in seinem Widerspruch vom 6.8.2007. Für
den Inhalt eines Antrages ist maßgebend, wie ihn die Behörde unter
Berücksichtigung aller erkennbaren Umstände sowie nach Treu und
Glauben zu verstehen hat
(vgl BSG Urteil vom 30.10.2014 - B 5 R 8/14 R - BSGE 117, 192 =
SozR 4-1500 § 163 Nr 7 RdNr 34)
. Der Kläger führte in seinem Schreiben aus, er widerspreche dem
"Bescheid zur Zahlung der Rentenversicherungsbeiträge" und bitte
"um nochmalige Prüfung des Zeitpunktes der Zahlungspflicht". Über
diesen Widerspruch, gerichtet gegen die Beitragsfestsetzung, hat
die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12.6.2014
entschieden. Der im Widerspruch vom 6.8.2007 enthaltene weitere
Vortrag enthält kein Rechtsschutzgesuch in Form eines
Widerspruchs, sondern einen Antrag auf Befreiung von der
Versicherungspflicht. Deren weitere Prüfung ist damit weder zulässig
noch erforderlich.
23
II. Die Zeiträume für eine Befreiung des Klägers von der
Rentenversicherungspflicht vom 1.6.2007 bis 31.12.2007 und vom
1.1.2009 bis 30.6.2009 lagen noch innerhalb eines Zeitraums von
drei Jahren nach erstmaliger Aufnahme einer selbstständigen
Tätigkeit, die die Merkmale des § 2 S 1 Nr 9 SGB VI erfüllt (dazu 1.).
Aufgrund der Feststellungen des LSG vermag der Senat jedoch
nicht abschließend zu beurteilen, ob - wie vom LSG entschieden - im
Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ein
Befreiungsantrag des Klägers bereits mit Datum vom 1.6.2007
anzunehmen oder ein solcher erst später gestellt worden ist
(dazu 2.).
24
1. Der Dreijahreszeitraum einer möglichen Befreiung beginnt
vorliegend mit der Erfüllung auch der negativen
Tatbestandsvoraussetzung des § 2 S 1 Nr 9a SGB VI "… im
Zusammenhang mit ihrer selbständigen Tätigkeit regelmäßig keinen
versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen …" am
1.7.2006 und endet am 30.6.2009
(§ 187 Abs 2 S 1 BGB, § 188 Abs 2 BGB iVm § 26 Abs 1 SGB X).
Innerhalb dieses Zeitraums kann der Kläger für Zeiten einer
gleichzeitigen Versicherungspflicht nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI und
damit für die beiden vorliegend streitigen Zeiträume ungeachtet des
Umstandes befreit werden, dass beide einen mehrjährigen Abstand
zur erstmaligen Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit als
Handelsvertreter aufweisen. Der Begriff der
"Existenzgründungsphase", auf den sich die Beklagte unter
Bezugnahme auf die Materialien beruft, ist vorliegend nur insofern
einschlägig, als er in § 6 Abs 1a S 1 Nr 1 SGB VI eine normative
Ausgestaltung gefunden hat und bestimmt nicht etwa umgekehrt
den Regelungsgehalt dieser Norm. Ein weiterer Befreiungszeitraum
nach § 6 Abs 1a S 2 SGB VI kommt vorliegend nicht in Betracht, weil
die selbstständige Tätigkeit des Klägers ausgehend von den
bindenden Feststellungen des LSG mit dem bloßen Wechsel zu
einem anderen Auftraggeber am 1.1.2007 keine relevante Änderung
des Geschäftszwecks erfahren hat und es sich damit nach der
ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung in S 4 aaO nicht um eine
"2. selbständige Tätigkeit" handelt.
25
a) Schon die Gesetzesbindung der Verwaltung und der Gerichte
verbietet es, den Befreiungszeitraum statt "mit der erstmaligen
Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit, die die Merkmale des § 2
Satz 1 Nr. 9 erfüllt," bereits mit der erstmaligen Aufnahme einer
selbstständigen Tätigkeit beginnen und den erläuternden
Relativsatz unberücksichtigt zu lassen. Nach dem eindeutigen
Wortlaut des § 6 Abs 1a S 1 Nr 1 SGB VI werden von der
Versicherungspflicht befreit Personen, die nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI
versicherungspflichtig sind, für einen Zeitraum von drei Jahren "nach
erstmaliger Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit, die die
Merkmale des § 2 S 1 Nr 9 SGB VI erfüllt".
26
Wäre der maßgebliche Beginn des Befreiungszeitraums von drei
Jahren die erstmalige Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit als
solcher, dh hier der Beginn der Tätigkeit des Klägers zur Vermittlung
von Versicherungen und Finanzdienstleistungen der A. AG am
1.12.2003, hätte als Gesetzeswortlaut "nach erstmaliger Aufnahme
einer selbstständigen Tätigkeit" als abschließende Formulierung
genügt. Der Gesetzgeber hat jedoch einen Relativsatz angefügt und
an die erstmalige Aufnahme nur einer solchen selbstständigen
Tätigkeit angeknüpft, "die die Merkmale des § 2 S 1 Nr 9 SGB VI
erfüllt". Damit wird - entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten -
im Wortlaut unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass der
mögliche Befreiungszeitraum erst beginnt, wenn der (Grund-
)Tatbestand der Versicherungspflicht nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI
vollständig erfüllt ist.
27
Der Beklagten ist zuzugestehen, dass auch der Zeitraum "von drei
Kalenderjahren nach dem Jahr der Aufnahme der selbstständigen
Tätigkeit," für den nach § 165 Abs 1 S 2 SGB VI grundsätzlich ein
Arbeitseinkommen in Höhe von 50 vH der Bezugsgröße als
beitragspflichtige Einnahmen anzusetzen sind, nicht den Eintritt von
Versicherungspflicht aufgrund der in Frage stehenden
selbstständigen Tätigkeit voraussetzt
(BSG Urteil vom 10.12.1998 - B 12 RJ 2/98 R - SozR 3-2600 § 165
Nr 1 RdNr 15)
. Indessen ergibt sich auch aus dieser Entscheidung nicht etwa,
dass der Drei-Jahres-Zeitraum des § 165 Abs 1 S 2 SGB VI
ausgehend von einer Tätigkeit hätte bestimmt werden können, die
nicht den Grundtatbestand der Versicherungspflicht
(dort: § 1 Abs 1 S 1 des Handwerkerversicherungsgesetzes in der
bis 31.12.1991 geltenden Fassung)
erfüllte. Insofern ergibt sich kein Unterschied zur vorliegenden
Fragestellung.
28
b) Die Gesetzesmaterialien geben keinen durchgreifenden Hinweis
auf ein anderes Verständnis der hier in Frage stehenden Regelung.
Nach dem Gesetzentwurf soll § 6 Abs 1a S 1 Nr 1 SGB VI eine
vorübergehende Befreiung in der "Existenzgründungsphase"
ermöglichen und es dem Selbstständigen ermöglichen, seine
finanziellen Mittel auf den Aufbau des Betriebes zu konzentrieren
(vgl Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, BT-Drucks 14/1855, S 9)
. Die Materialien gehen dabei von der Annahme aus, dass der
Existenzgründer bereits mit der Aufnahme seiner Tätigkeit
versicherungspflichtig nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI ist. Dies ist - wie der
Sachverhalt vorliegend zeigt - jedoch nicht zwingend der Fall.
Deshalb ist auch in dem Gesetzentwurf ausdrücklich ausgeführt, der
Beginn des Dreijahreszeitraums richte sich nach der erstmaligen
Erfüllung der Merkmale des § 2 S 1 Nr 9 SGB VI
(vgl Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, BT-Drucks 14/1855, S 9)
.
29
Der Beklagten ist ebenfalls zuzugestehen, dass auch die weitere
Gesetzesbegründung, wonach das Befreiungsrecht für die
Übergangszeit auch Personen zustehen sollte, die sich bereits vor
dem 1.1.1999, dh vor Inkrafttreten der Versicherungspflicht nach § 2
S 1 Nr 9 SGB VI, selbstständig gemacht haben, dies allerdings nur
"soweit der Dreijahreszeitraum nach Aufnahme der selbständigen
Tätigkeit nicht überschritten ist"
(vgl Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, BT-Drucks 14/1855, S 9)
, mit dem Erfordernis einer Versicherungspflicht am Beginn des
Befreiungszeitraums kaum vereinbar wäre. Auch wenn eine
Versicherungspflicht vor dem (rückwirkenden) Inkrafttreten von § 2 S
1 Nr 9 SGB VI
(idF von Art 2 Nr 1 Buchst a des Gesetzes zur Förderung der
Selbständigkeit vom 20.12.1999, BGBl I 2)
nicht begründet werden konnte, lässt sich jedoch auch eine vor dem
1.1.1999 ausgeübte Tätigkeit ohne Weiteres unter das
Tatbestandsmerkmal "Tätigkeit, die die Merkmale des § 2 Satz 1 Nr.
9 erfüllt" subsumieren.
30
c) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 6 Abs 1a S 3 SGB VI
(idF von Art 4 Nr 4 des Zweiten Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002, BGBl I 4621)
.
31
Hiernach gilt Folgendes: Tritt nach Ende einer Versicherungspflicht
nach § 2 S 1 Nr 10 SGB VI eine Versicherungspflicht nach § 2 S 1
Nr 9 SGB VI ein, wird die Zeit, in der die dort genannten Merkmale
bereits vor dem Eintritt der Versicherungspflicht nach dieser
Vorschrift vorgelegen haben, auf den in S 1 Nr 1 genannten
Zeitraum nicht angerechnet. Nach § 2 S 1 Nr 10 SGB VI
(idF von Art 4 Nr 1 des Zweiten Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002, BGBl I 4622,
aufgehoben mWv 1.4.2012 durch Art 9 Nr 1 Buchst a Doppelbuchst
bb Gesetz vom 20.12.2011, BGBl I 2854)
waren Personen für die Dauer des Bezugs eines
Existenzgründungszuschusses nach § 421l SGB III
versicherungspflichtig. Nach § 2 S 1 Nr 1 bis 9 SGB VI war nicht
versicherungspflichtig, wer in dieser Tätigkeit nach S 1 Nr 10
versicherungspflichtig war (§ 2 S 2 SGB VI
idF von Art 4 Nr 1 des Zweiten Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002, BGBl I 4622).
Die frühere Regelung in § 2 S 2 SGB VI, wonach die
Versicherungspflicht nach § 2 S 1 Nr 10 SGB VI der
Versicherungspflicht nach den Tatbeständen des § 2 S 1 Nr 1 bis 9
SGB VI vorging, war deshalb erforderlich, weil eine Tätigkeit zugleich
sowohl die Merkmale von § 2 S 1 Nr 10 SGB VI als auch die
Merkmale des § 2 S 1 Nr 9 SGB VI erfüllen konnte. § 6 Abs 1a S 3
SGB VI sollte deshalb Existenzgründern einer "Ich-AG", die
aufgrund des Bezugs des Existenzgründungszuschusses
versicherungspflichtig in der gesetzlichen Rentenversicherung
waren, nach Fortfall dieser Versicherungspflicht das Befreiungsrecht
nach § 6 Abs 1a S 1 Nr 1 SGB VI auch dann in vollem Umfang
erhalten, wenn der Existenzgründer schon während der Zeit, in der
für ihn Versicherungspflicht nach § 2 S 1 Nr 10 SGB VI bestanden
hat, "die Merkmale des § 2 S 1 Nr 9 SGB VI erfüllt hat"
hat, "die Merkmale des § 2 S 1 Nr 9 SGB VI erfüllt hat"
(vgl Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, BT-Drucks 15/26, S 27).
Dass auch in derartigen Fällen Versicherungspflicht auf der
Grundlage von § 2 S 1 Nr 9 SGB VI nicht bereits am Beginn des
Befreiungszeitraums bestanden haben kann, ergibt sich bei dieser
Sachlage ohne Weiteres schon deshalb, weil S 3 tatbestandsmäßig
gerade eine zeitliche Aufeinanderfolge der in Frage stehenden
Versicherungspflichten voraussetzt. Wohl aber begegnet eine
zeitliche Parallelität von Umständen, die die Voraussetzungen von §
2 S 1 Nr 9 SGB VI erfüllen und einer Versicherungspflicht nach § 2 S
1 Nr 10 SGB VI aF keinen rechtlichen Hindernissen. Auch die
Sonderregelung in § 6 Abs 1a S 3 SGB VI bildet damit die
unterschiedlichen Anknüpfungssachverhalte des § 6 Abs 1a S 1
SGB VI - Versicherungspflicht nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI einerseits
und Erfüllung der Voraussetzungen dieser Norm andererseits -
gerade exakt ab und konfundiert sie nicht etwa.
32
d) Ein anderes Ergebnis folgt schließlich entgegen der
Argumentation der Beklagten auch nicht daraus, dass selbstständig
Tätige, die - wie der Kläger - erst Jahre nach Beginn ihrer
Selbstständigkeit versicherungspflichtig nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI
werden, die Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs 1a
S 1 Nr 1 SGB VI für diesen späten Zeitraum beanspruchen können,
obwohl sie sich nicht mehr in der besonderen Situation der
"eigentlichen Existenzgründungsphase" befinden, sodass weder
Mehrfachversicherungen (neben einer daneben noch bestehenden
Versicherungspflicht wegen Beschäftigung) noch wirtschaftliche
Schwierigkeiten während der Existenzgründungsphase bestehen
können.
33
Der Gesetzgeber hat jedoch darauf verzichtet, für den konkreten
Zusammenhang einen Rechtsbegriff der Existenzgründungsphase
in einem von der Beklagten bevorzugten weiten Sinn
auszugestalten. Ebenso fehlt es an einem allgemeinen
Rechtsbegriff der Existenzgründungsphase. Soweit die sog
Materialien das Befreiungsrecht der nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI
Versicherungspflichtigen dennoch hiermit in Zusammenhang
bringen, kann es folglich nicht um eine Existenzgründungsphase in
Bezug auf die Aufnahme einer beliebigen, rechtlich irrelevanten,
selbstständigen Tätigkeit, sondern einzig um die Anfangsphase
einer tatbestandlich gerade § 2 S 1 Nr 9 SGB VI unterfallenden
Tätigkeit gehen. Allein ein derartiges Verständnis trägt - wie
dargelegt - dem Wortlaut von § 6 Abs 1a S 1 Nr 1 SGB VI wie
dessen Funktion gerade im Blick auf eine auf § 2 S 1 Nr 9 SGB VI
gründende Versicherungspflicht Rechnung. Im Ergebnis muss
folglich genügen, dass die Befreiung von der Versicherungspflicht in
Fällen der vorliegenden Art den von dieser Norm Erfassten
vorübergehend gerade in Bezug auf diese Tätigkeit Gestaltungs-
und Vorsorgefreiheit belässt und ist entgegen der Auffassung der
Beklagten nicht gleichzeitig erforderlich, dass - zumindest
typisierend - Probleme des Übergangs von einer abhängigen
Beschäftigung zu einer selbstständigen Tätigkeit behoben werden.
Erst recht kommt es nicht auf eine individuelle Schutzbedürftigkeit
der Betroffenen an. Wird diese schon von § 2 S 1 Nr 9 SGB VI nicht
vorausgesetzt, weil sie allein auf der Erfüllung des formalen
gesetzlichen Tatbestandes beruht, in dem nach Auffassung des
Gesetzgebers die soziale Schutzbedürftigkeit typisierend verkörpert
ist
(BSG Urteil vom 4.11.2009 - B 12 R 7/08 R - SozR 4-2600 § 2 Nr 13
RdNr 23)
, kann es auf die konkrete Situation auch nicht zur Begründung des
Befreiungstatbestandes ankommen.
34
2. Der Senat kann auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen
des LSG nicht beurteilen, wann der Kläger den für den konkreten
Beginn der Befreiung maßgeblichen Antrag (§ 6 Abs 4 S 1 SGB VI)
gestellt hat bzw rechtlich so zu behandeln ist, als habe er einen
wirksamen Antrag gestellt. Insbesondere fehlt es im Zusammenhang
eines grundsätzlich auch hier in Betracht kommenden
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs an weiteren Feststellungen
zum Inhalt des Telefonats vom 1.6.2007 und dessen näheren
Umständen. Abhängig vom Ergebnis der weiteren Sachaufklärung
kämen mehrere weitere Zeitpunkte einer - von der Beklagten offen
gelassenen - Antragstellung in Betracht.
35
a) Der Senat kann anhand der vom LSG festgestellten Tatsachen
nicht abschließend beurteilen, ob die Voraussetzungen eines
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hier erfüllt sind. Dessen (im
Wesentlichen dreigliedriger) Tatbestand fordert zunächst das
Vorliegen einer Pflichtverletzung, die dem zuständigen
Sozialleistungsträger zuzurechnen ist. Dadurch muss beim
Berechtigten ein sozialrechtlicher Nachteil oder Schaden eingetreten
sein. Schließlich muss durch Vornahme einer Amtshandlung des
Trägers der Zustand wiederhergestellt werden können, der
bestehen würde, wenn die Pflichtverletzung nicht erfolgt wäre
(vgl BSG Urteil vom 3.4.2014 - B 5 R 5/13 R - SozR 4-2600 § 137b
Nr 1, RdNr 37 mwN; BSGE 92, 182 = SozR 4-6940 Art 3 Nr 1, RdNr
25; BSGE 96, 44 = SozR 4-1300 § 27 Nr 2 RdNr 28)
.
36
Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch kommt insbesondere in
Betracht, wenn ein Leistungsträger durch Verletzung einer ihm aus
dem Sozialleistungsverhältnis obliegenden Haupt- oder
Nebenpflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung, nachteilige
Folgen für die Rechtsposition des Betroffenen herbeigeführt hat und
diese Rechtsfolgen durch ein rechtmäßiges Verwaltungshandeln
wieder beseitigt werden können
(stRspr vgl Senatsurteil vom 5.4.2000 - B 5 RJ 50/98 R - SozR 3-
1200 § 14 Nr 29, S 95 mwN; BSG Urteil vom 17.8.2000 - B 13 RJ
87/98 R).
Demgemäß ist ein Herstellungsanspruch von der Rechtsprechung
des BSG bejaht worden, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt
sind: (1) Vorliegen einer Pflichtverletzung, die sich der
Sozialleistungsträger im Verhältnis zum Berechtigten zurechnen
lassen muss, (2) Eintritt eines rechtlichen Schadens beim
Berechtigten, (3) Kausalzusammenhang zwischen der
Pflichtverletzung und dem Schadenseintritt und (4) Möglichkeit der
Herstellung des Zustands, der ohne die Pflichtverletzung eingetreten
wäre (stRspr - vgl mwN BSG SozR 4-2600 § 4 Nr 2, RdNr 21).
37
Zwar ist es zur Annahme einer fehlerhaften Verletzung der
Auskunfts- und Beratungspflicht ausreichend, dass überhaupt nicht
auf einen erkennbaren Beratungsbedarf eingegangen und der
Hinweis unterlassen wurde, dass auch etwas unternommen werden
müsse (vgl BSG aaO RdNr 26). Entsprechende Feststellungen des
LSG dazu jedoch fehlen. Zum Inhalt des Telefonats am 1.6.2007
stellte das LSG lediglich fest, der Kläger habe mitgeteilt, er habe vom
1.12.2003 bis 31.12.2006 einen rentenversicherungspflichtigen
Arbeitnehmer beschäftigt. Weitere Feststellungen zum Inhalt dieses
Telefonats fehlen. Diese wären aber insbesondere im Hinblick
darauf erforderlich gewesen, dass der Kläger mit dem Hinweis auf
die Beschäftigung eines versicherungspflichtigen Arbeitnehmers
Umstände vortrug, die die Versicherungspflicht nach § 2 S 1 Nr 9
SGB VI bereits ausschlossen. Auch wurde das Telefonat zu einem
Zeitpunkt geführt, zu dem die Prüfung einer Versicherungspflicht ab
1.12.2003 durch die Beklagte noch nicht abgeschlossen war. Nur
kurz zuvor hatte diese mit Schreiben an den Kläger vom 25.5.2007
um weitere Angaben für die Erteilung des Bescheides über die
Versicherungspflicht gebeten. Ob auch vor diesem Hintergrund zum
Zeitpunkt des Telefongesprächs am 1.6.2007 bereits ein
Beratungsbedürfnis des Klägers bestand, lässt sich ohne
entsprechende weitere Feststellungen des LSG nicht bestimmen.
38
b) Sollte das LSG nach näheren Feststellungen zum Inhalt des
Telefonats am 1.6.2007 zu dem Ergebnis kommen, dass die
Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht
gegeben sind, wird es im weiteren zu prüfen haben, ob ggf ein
entsprechender Befreiungsantrag erstmals im Widerspruch vom
6.8.2007 oder erst im Widerspruch vom 20.11.2007 formuliert wurde.
Die Beklagte selbst hat den maßgeblichen Zeitpunkt des
Befreiungsantrags im Übrigen offen gelassen, indem sie mit
Bescheid vom 25.1.2008 den "Antrag vom 06.08.2007 in
Verbindung mit 20.11.2007" ablehnte.
39
C. Nachdem der Senat auf der Grundlage der vom LSG
festgestellten Tatsachen nicht abschließend beurteilen kann, ab
welchem Zeitpunkt eine von der Beklagten zu erteilende Befreiung
wirkt (§ 6 Abs 4 SGB VI), kann auch nicht entschieden werden, ob
und ggf für welche Zeiträume der Kläger Beiträge nach §§ 173, 169
Nr 1 SGB VI zu tragen und zu zahlen hat.
40
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden
Entscheidung des LSG vorbehalten.