Urteil des BSG vom 20.03.2018

Gesetzliche Unfallversicherung - Versicherungs- und Beitragspflicht - Vorstandsvorsitzender einer Aktiengesellschaft auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege oder des Gesundheitswesens - Wie-Unternehmer - keine selbständige Tätigkeit - sozialrechtliches Verwal

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 20.3.2018, B 2 U 13/16 R
ECLI:DE:BSG:2018:200318UB2U1316R0
Gesetzliche Unfallversicherung - Versicherungs- und
Beitragspflicht - Vorstandsvorsitzender einer
Aktiengesellschaft auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege oder
des Gesundheitswesens - Wie-Unternehmer - keine
selbständige Tätigkeit - sozialrechtliches
Verwaltungsverfahren - keine Regelung der
Versicherungspflicht im Beitragsbescheid -
Begründungselement - Offenlassen des Vorliegens eines
Verwaltungsakts - Geltendmachungsverzicht beider Parteien
im Revisionsverfahren - sozialgerichtliches Verfahren
Leitsätze
Ein Vorstandsvorsitzender einer Aktiengesellschaft, die auf dem
Gebiet der Wohlfahrtspflege oder des Gesundheitswesens tätig
ist, ist nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung
pflichtversichert.
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des
Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 14. September 2016
wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten
des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich dagegen, dass die Beklagte ihn in die
"Unternehmerversicherung" aufgenommen und zur Zahlung von
Beiträgen für die Jahre 2009 bis 2012 herangezogen hat.
2
Der Kläger ist Vorsitzender des Vorstandes einer Aktiengesellschaft
(AG), deren Tätigkeitsbereich die Förderung der Altenpflege und des
öffentlichen Gesundheitswesens ist. Am 30.12.2013 schrieb die
Beklagte an den Kläger unter dem Betreff "Ihre
Unternehmerpflichtversicherung Bestätigung der Zugehörigkeit zur
Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege"
und führte aus, ihre Zuständigkeit ergebe sich aus der Art der
ausgeübten Tätigkeit. Für den Kläger persönlich bestehe mit Wirkung
vom 1.1.2008 eine "Unternehmerpflichtversicherung". Die Beklagte
veranlagte den Kläger sodann als pflichtversicherten Unternehmer für
die Zeiträume 1.1.2007 bis 31.12.2012 sowie 1.1.2013 bis
31.12.2018 und forderte von ihm die Zahlung von Beiträgen für das
Jahr 2009 iHv 239,89 Euro, für das Jahr 2010 iHv 243,26 Euro, für
das Jahr 2011 iHv 245,50 Euro und für das Jahr 2012 iHv 246,62
Euro (Bescheide vom 30.12.2013). Der Kläger erhob Widerspruch,
mit dem er ausführte, er sei weder als Selbstständiger noch
unentgeltlich iS des § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII tätig. Er sei zwar
berechtigt, einen Antrag auf eine freiwillige Versicherung zu stellen,
stelle diesen Antrag jedoch ausdrücklich nicht. Die Beklagte wies den
Widerspruch zurück, weil der Kläger als unternehmerähnlich tätige
Person eine selbstständige Tätigkeit iS des § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII
ausübe (Widerspruchsbescheid vom 13.5.2014).
3
Das SG hat die Bescheide der Beklagten aufgehoben
(Urteil vom 18.6.2015). Zur Begründung hat es ua ausgeführt, der
Kläger sei als Vorstandsmitglied einer AG kein Beschäftigter iS des §
2 Abs 1 Nr 1 SGB VII bzw Wie-Beschäftigter iS des § 2 Abs 2 SGB
VII, sodass die AG deshalb nicht gemäß § 150 Abs 1 S 1 SGB VII für
ihn Beiträge zu entrichten habe. Er selbst habe jedoch ebenfalls keine
Beiträge zu entrichten, denn er sei nicht nach § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII
pflichtversichert, weil er nicht selbstständig tätig sei. Die Vorschrift des
§ 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII stelle lediglich die selbstständig Tätigen unter
Versicherungsschutz. Die "wie ein Unternehmer" tätigen
Selbstständigen seien aber gerade nicht selbstständig tätig und
gehörten daher bereits dem Wortlaut der Vorschrift nach nicht zum
Kreis der Pflichtversicherten. Aus Systematik und Wortlaut des § 2
SGB VII ergebe sich, dass "wie ein Unternehmer" selbstständig
Tätige den selbstständig Tätigen nur dann gleichgestellt sein sollten,
wenn dies im Gesetz ausdrücklich geregelt werde. Aus § 6 Abs 1 Nr 2
SGB VII, nach dem sich Personen, die in Kapital- oder
Personenhandelsgesellschaften regelmäßig wie Unternehmer
selbstständig tätig seien, auf Antrag freiwillig in der gesetzlichen
Unfallversicherung versichern könnten, folge, dass diese Personen
ohne entsprechende ausdrückliche gesetzliche Regelung generell
versicherungsfrei seien.
4
Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen
(Urteil vom 14.9.2016). Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger
sei als Vorstandsvorsitzender der AG in der gesetzlichen
Unfallversicherung als selbstständig Tätiger nach § 2 Abs 1 Nr 9 SGB
VII versichert. Jedoch habe nicht er, sondern die AG als
Unternehmerin iS des § 150 Abs 1 S 1 SGB VII die Beiträge zu
zahlen. Die Voraussetzungen des § 168 Abs 1 SGB VII seien nicht
erfüllt, weil ein Beitragsbescheid an den Beitragspflichtigen zu richten
sei, eine eigene Beitragspflicht des Klägers jedoch nicht bestehe. Der
Kläger sei nicht Unternehmer iS des § 150 Abs 1 S 2 SGB VII, denn
nicht ihm, sondern der AG gereiche das Ergebnis der Tätigkeit
unmittelbar zum Vor- oder Nachteil. § 150 Abs 1 S 2 SGB VII sei auch
nicht im Hinblick auf die Regelung des § 150 Abs 2 S 2 SGB VII
entsprechend anwendbar, weil keine Regelungslücke bestehe.
Freiwillig Versicherte nach § 6 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB VII seien mit
Pflichtversicherten nach § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII nicht vergleichbar,
weil die Pflichtversicherung nicht von einem freien Entschluss
abhänge.
5
Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 150 Abs 1
SGB VII und des § 75 Abs 2 SGG. Der Kläger sei gemäß § 2 Abs 1 Nr
9 SGB VII pflichtversichert und habe für seine Pflichtversicherung
selbst Beiträge zu zahlen. Soweit eine Norm über die Beitragspflicht
der unternehmerähnlich selbstständig Tätigen fehle, sei § 150 Abs 1
S 2 SGB VII entsprechend anwendbar, weil eine Regelungslücke bzw
ein gesetzgeberisches Versehen bestehe. Das LSG hätte von seiner
Rechtsansicht her die AG beiladen müssen, weil es davon
ausgegangen sei, dass die AG als Arbeitgeber der eigentliche
Beitragsschuldner sei. Eine Entscheidung des Gerichts könne aber
der AG und dem Kläger gegenüber nur einheitlich ergehen iS des §
75 Abs 2 SGG. Denn habe der Kläger selbst keine Beiträge gemäß §
150 Abs 1 S 2 SGB VII zu zahlen, bestehe nach § 150 Abs 1 S 1
SGB VII die Beitragspflicht der AG als Unternehmerin.
6
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom
14. September 2016 und des Sozialgerichts Halle vom 18.
Juni 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
8
Er hält das Urteil des LSG im Ergebnis für zutreffend. Als
Vorstandsmitglied der AG sei er weder Selbstständiger noch
Beschäftigter. Personen, die in Kapital- oder
Personenhandelsgesellschaften regelmäßig wie Unternehmer
selbstständig tätig seien, seien nicht Unternehmer iS des § 136 Abs 3
Nr 1 SGB VII und nicht versicherungspflichtig nach § 2 Abs 1 Nr 9
SGB VII. Aus der fehlenden Versicherungspflicht folge, dass keine
Beitragspflicht bestehe.
Entscheidungsgründe
9 Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Im Ergebnis
zu Recht hat das LSG entschieden, dass die Veranlagungs- und
Beitragsbescheide vom 30.12.2013 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 13.5.2014 aufzuheben sind, weil sie
rechtswidrig sind. Der Kläger ist nicht zur Entrichtung von Beiträgen
zur gesetzlichen Unfallversicherung verpflichtet, weil er nicht Mitglied
der Beklagten ist. Er ist nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung
nach § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII versichert.
10
1. Die in dem Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfenden
Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor. Insbesondere war
die Berufung des Klägers ohne Zulassung gemäß § 143 SGG
statthaft. Gegenstand der Berufung waren die Veranlagungs- und
Beitragsbescheide vom 30.12.2013, die die Beitragserhebung für
mehr als ein Jahr betrafen (§ 144 Abs 1 S 1 Nr 1 iVm S 2 SGG).
11
Im Revisionsverfahren ist über die Rechtmäßigkeit der
Veranlagungsbescheide sowie der Beitragsbescheide für die Jahre
2009 bis 2012 vom 30.12.2013 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 13.5.2014 zu entscheiden. Entgegen
der Auffassung des LSG regeln diese Bescheide allerdings nicht die
Versicherungspflicht des Klägers, sondern setzen sie voraus. Zur
Bestimmung des objektiven Regelungsgehaltes eines
Verwaltungsaktes kommt es darauf an, wie Adressaten und
Drittbetroffene ihn nach Treu und Glauben verstehen mussten bzw
durften. Unklarheiten gehen zulasten der Behörde
(vgl BSG vom 3.4.2014 - B 2 U 25/12 R - BSGE 115, 256 = SozR 4-
2700 § 136 Nr 6, RdNr 15 mwN)
. Der Wortlaut der Veranlagungs- und Beitragsbescheide spricht
gegen eine Regelung der Versicherungspflicht des Klägers iS des §
31 SGB X. Die Veranlagungsbescheide benennen die Veranlagung
zur Gefahrklasse entsprechend den jeweils geltenden im Einzelnen
benannten Gefahrtarifen als Grundlage der Beitragsberechnung. In
den Beitragsbescheiden werden nur die Berechnungselemente und
die Beitragshöhe benannt. Soweit in den Bescheiden auf die
Unternehmerversicherung des Klägers verwiesen wird, treffen sie
keine Regelung über die Versicherungspflicht des Klägers, sondern
führen diese lediglich als Grund für die Veranlagung und
Beitragserhebung an.
12
Ob die Beklagte in dem nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung
versehenen weiteren Schreiben vom 30.12.2013 die
Versicherungspflicht des Klägers verbindlich festgestellt und der
Kläger diese Regelung im Klageverfahren angefochten hat, konnte
der Senat dahinstehen lassen. Die Vorinstanzen haben über eine
Klage gegen den möglicherweise in diesem Schreiben enthaltenen
Verwaltungsakt nicht entschieden und der Kläger hat im
Revisionsverfahren keine Entscheidung hierüber begehrt. Vielmehr
haben die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat
erklärt, dass sie wechselseitig keine Rechte aus diesem Schreiben
ableiten werden.
13
2. Die Veranlagungs- und Beitragsbescheide der Beklagten vom
30.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
13.5.2014 sind rechtswidrig, wobei dahinstehen kann, ob der Kläger
vor Erlass der Bescheide gemäß § 24 SGB X hinreichend angehört
wurde, denn eine materiell-rechtliche Verpflichtung zur Zahlung von
Beiträgen zur gesetzlichen Unfallversicherung bestand für ihn
ohnehin nicht. Der Kläger ist nicht nach § 150 Abs 1 S 1 SGB VII als
Unternehmer beitragspflichtig, weil er kein Unternehmer ist
(hierzu unter a). Der Kläger ist auch nicht selbst beitragspflichtig
gemäß § 150 Abs 1 S 2 SGB VII, weil er nicht nach § 3 Abs 1 Nr 1
SGB VII in Verbindung mit einer Satzungsbestimmung der
Beklagten versichert war bzw er sich nicht nach § 6 Abs 1 SGB VII
freiwillig versichert hat. Er ist auch kein nach § 2 SGB VII
versicherter Unternehmer, denn er war nicht gemäß § 2 Abs 1 Nr 9
SGB VII als Person, die selbstständig oder unentgeltlich im
Gesundheitswesen oder in der Wohlfahrtspflege tätig ist,
pflichtversichert (hierzu unter b). Auch eine Beitragspflicht in
entsprechender Anwendung des § 150 Abs 1 S 2 SGB VII scheidet
aus (hierzu unter c).
14
a) Gemäß § 150 Abs 1 S 1 SGB VII sind beitragspflichtig die
Unternehmer, für deren Unternehmen Versicherte tätig sind oder zu
denen Versicherte in einer besonderen, die Versicherung
begründenden Beziehung stehen. Unternehmer ist gemäß § 136
Abs 3 Nr 1 SGB VII derjenige, dem das Ergebnis des Unternehmens
unmittelbar zum Vor- oder Nachteil gereicht. Zu dem Personenkreis
der Unternehmer iS des § 150 Abs 1 S 1 SGB VII gehört der Kläger
nicht. Er war nach den nicht mit zulässigen und begründeten und
damit den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG)
als Vorstandsvorsitzender einer AG tätig. Unternehmer einer
juristischen Person ist jedoch diese selbst, nicht aber das sie
vertretende Organ
(vgl zB BSG vom 25.10.1989 - 2 RU 12/89 - USK 8998).
15
Vorstandsmitglieder einer AG sind in Tätigkeiten für das
Unternehmen, dessen Vorstand sie angehören, auch wenn sie nicht
am wirtschaftlichen Erfolg beteiligt sind und gegen Entgelt aufgrund
eines Dienstvertrages tätig werden, keine Beschäftigten iS des § 2
Abs 1 Nr 1 SGB VII, sondern werden wie selbstständige
Unternehmer tätig
(vgl BSG vom 14.12.1999 - B 2 U 38/98 R - BSGE 85, 214 = SozR
3-2200 § 539 Nr 48 zu § 539 Abs 1 Nr 1
Reichsversicherungsordnung )
. Dennoch sind diese wie Unternehmer tätigen Vorstandsmitglieder
aber keine Unternehmer iS des § 136 Abs 3 Nr 1 SGB VII
(vgl auch BSG vom 1.2.1996 - 2 RU 7/95 - SozR 3-2200 § 723 Nr 2)
und deshalb auch nicht selbst beitragspflichtige Unternehmer iS des
§ 150 Abs 1 S 1 SGB VII.
16
b) Die Voraussetzungen einer Beitragspflicht des Klägers nach §
150 Abs 1 S 2 SGB VII sind ebenfalls nicht erfüllt. Nach § 150 Abs 1
S 2 SGB VII sind selbst beitragspflichtig auch die nach § 3 Abs 1 Nr
1 SGB VII und § 6 Abs 1 SGB VII Versicherten sowie die nach § 2
SGB VII versicherten Unternehmer. Der Kläger ist kein Unternehmer,
der nach § 3 Abs 1 Nr 1 SGB VII aufgrund einer Regelung in der
Satzung der Beklagten pflichtversichert ist. Ebenfalls hat er sich
nicht nach § 6 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB VII freiwillig versichert, einen
solchen freiwilligen Beitritt vielmehr ausdrücklich abgelehnt.
17
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der Kläger auch kein
nach § 2 SGB VII versicherter Unternehmer iS des § 150 Abs 1 S 2
SGB VII. Der Kläger ist bereits kein Unternehmer, sondern als
Vorstand einer AG lediglich wie ein Unternehmer tätig. Er ist
entgegen der Auffassung des LSG und der Beklagten auch nicht
nach § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII versichert. Nach der hier allein als
Versicherungstatbestand in Betracht kommenden Vorschrift des § 2
Abs 1 Nr 9 SGB VII sind in der gesetzlichen Unfallversicherung
versichert Personen, die selbstständig oder unentgeltlich,
insbesondere ehrenamtlich im Gesundheitswesen oder in der
Wohlfahrtspflege tätig sind. Der Kläger gehört nicht zu diesem
Personenkreis. Er ist nicht unentgeltlich, sondern als
Vorstandsvorsitzender einer AG, deren Tätigkeitsbereich die
Förderung der Altenpflege und des öffentlichen Gesundheitswesens
durch den Betrieb von Einrichtungen der Altenhilfe sowie der
Erbringung ambulanter Pflegeleistungen ist, im Gesundheitswesen
bzw in der Wohlfahrtspflege aufgrund eines Dienstvertrages tätig. Er
ist damit zwar "wie ein Unternehmer", jedoch nicht selbstständig iS
des § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII tätig. Selbstständig tätig sind in
Abgrenzung zu abhängig Beschäftigten Unternehmer, denen das
Ergebnis des Unternehmens, für das sie tätig sind, unmittelbar zum
Vor- oder Nachteil gereicht
(vgl § 136 Abs 3 Nr 1 SGB VII; hierzu etwa BSG vom 31.1.2012 - B 2
U 3/11 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 18 RdNr 17 - selbstständige
Tagesmutter iS des § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII)
. Der Kläger ist aufgrund eines Dienstvertrages mit festem Gehalt
tätig, ihm gereicht das wirtschaftliche Ergebnis seiner AG gerade
nicht unmittelbar zum Vorteil.
18
Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten kann der Kläger auch
nicht als "wie ein Unternehmer Tätiger" entsprechend unter den
Versicherungstatbestand des § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII subsumiert
werden. Dies folgt zum einen schon aus dem Wortlaut des § 2 Abs 1
Nr 9 SGB VII, der ausdrücklich nur auf Personen abstellt, die
"selbstständig" oder "unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich" tätig
sind. Die Entstehungsgeschichte des § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII
bestätigt vielmehr, dass der Personenkreis der lediglich wie
Unternehmer Tätigen gerade nicht zu den nach § 2 Abs 1 Nr 9 SGB
VII versicherten selbstständig tätigen Personen gehören sollte. Den
Gesetzesmaterialien zu § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII ist zu entnehmen,
dass mit dieser Vorschrift der Regelungsgehalt des § 539 Abs 1 Nr 7
RVO übernommen und klargestellt werden sollte, dass ergänzend
zu § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII nur die selbstständig oder unentgeltlich
Tätigen von § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII erfasst werden, weil die
Beschäftigten bereits nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versichert sind
(vgl Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum UVEG, BT-Drucks
13/2204 S 75)
. Dass neben den unentgeltlich Tätigen und den als Unternehmer
Selbstständigen die lediglich "wie Unternehmer" Tätigen von der
Norm mit erfasst werden sollten, kann hieraus nicht geschlossen
werden. Der Personenkreis der "wie ein Unternehmer Tätigen" ist in
der gesetzlichen Unfallversicherung sowohl nach den Regelungen
der früheren RVO als auch nach den nunmehr geltenden
Vorschriften des SGB VII nicht den selbstständigen Unternehmern
gleichgestellt worden.
19
Dies wird bestätigt durch die vom Gesetzgeber vorgenommenen
Änderungen der § 539 Abs 1 Nr 5 RVO und § 545 Abs 1 RVO durch
das Renten-Überleitungsgesetz (RÜG) vom 25.7.1991 (BGBl I 1606)
, deren Regelungsgehalt später in § 2 Abs 1 Nr 5 Buchst c SGB VII
und § 6 Abs 1 Nr 2 SGB VII übernommen wurde, worauf schon das
SG zutreffend hingewiesen hat. Durch § 539 Abs 1 Nr 5 RVO und §
2 Abs 1 Nr 5 Buchst c SGB VII sind Personen, die in
landwirtschaftlichen Unternehmen in der Rechtsform von Kapital-
oder Personenhandelsgesellschaften regelmäßig wie ein
Unternehmer selbstständig tätig sind, in die Pflichtversicherung der
landwirtschaftlichen Unternehmer einbezogen worden. Der
Gesetzgeber hat dabei die Formulierung "wie Unternehmer
selbständig tätig" ausdrücklich auf den Regelungsgehalt des § 539
Abs 1 Nr 5 RVO - heute § 2 Abs 1 Nr 5 Buchst c SGB VII -
beschränkt. Dem Personenkreis der in Kapital- oder
Personenhandelsgesellschaften regelmäßig wie ein Unternehmer
selbstständig Tätigen ist nach § 545 Abs 1 Nr 2 RVO - heute § 6 Abs
1 Nr 2 SGB VII - hingegen lediglich die Möglichkeit eröffnet worden,
sich freiwillig in der gesetzlichen Unfallversicherung zu versichern.
Dieser Regelungen hätte es nicht bedurft, wenn
Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung bereits
nach § 539 Abs 1 Nr 5 RVO aF und § 545 Abs 1 RVO aF auch für
die wie Unternehmer Tätigen bestanden hätte, weil sie den
Unternehmern gleichgestellt gewesen wären. Dies war jedoch
gerade nicht der Fall
(vgl BSG vom 1.2.1996 - 2 RU 7/95 - SozR 3-2200 § 723 Nr 2).
20
Durch das RÜG sollte nur den in einem landwirtschaftlichen
Unternehmen in der Rechtsform der Kapital- oder
Personenhandelsgesellschaft regelmäßig wie ein Unternehmer
selbstständig Tätigen der Zugang zur Pflichtversicherung ermöglicht
werden. Den übrigen in Kapital- oder
Personenhandelsgesellschaften regelmäßig wie ein Unternehmer
selbstständig Tätigen wurde lediglich die Möglichkeit der freiwilligen
Versicherung eröffnet (vgl auch BT-Drucks 12/405 S 153 Zu Nr 2).
Eine besondere Schutzbedürftigkeit, der durch eine
Pflichtversicherung Rechnung zu tragen ist, hat der Gesetzgeber
mithin nur bei den in landwirtschaftlichen Unternehmen Tätigen im
Hinblick auf die bestehenden Strukturen der Landwirtschaft im
Beitrittsgebiet erkannt. Weitere Versicherungstatbestände für wie
Unternehmer Tätige hat er nicht vorgesehen und diese auch nicht
generell mit selbstständigen Unternehmern gleichgestellt. So hat er
auch keine Möglichkeit geschaffen, diesen Personenkreis gemäß §
3 SGB VII durch Satzung in die Pflichtversicherung einzubeziehen.
Vielmehr hat er für diese Gruppe allein die Möglichkeit der freiwilligen
Versicherung nach § 545 RVO - jetzt § 6 Abs 1 Nr 2 SGB VII -
eröffnet, die der Kläger hier ausdrücklich ablehnt.
21
Der Senat entnimmt dem Gesamtzusammenhang und dem Wortlaut
der Regelungen in § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII
(im Gegensatz gerade zur Formulierung in § 2 Abs 1 Nr 5 Buchst c
SGB VII)
und § 6 Abs 1 Nr 2 SGB VII sowie den Gesetzesmaterialien zum
RÜG den eindeutigen Willen des Gesetzgebers, dass für die Gruppe
der in Kapitalunternehmen "wie Unternehmer Tätigen" lediglich die
Möglichkeit bestehen soll, der gesetzlichen Unfallversicherung
freiwillig beizutreten. Sollte es der Gesetzgeber für erforderlich
halten, diesen Personenkreis, zu dem der Kläger, aber auch zB als
Geschäftsführer und Alleingesellschafter einer GmbH wie ein
Unternehmer Tätige gehören, in die Pflichtversicherung der
gesetzlichen Unfallversicherung einzubeziehen, wie dies für in
landwirtschaftlichen Unternehmen Tätige in § 2 Abs 1 Nr 5 Buchst c
SGB VII erfolgt ist, bedürfte es hierfür einer ausdrücklichen
gesetzlichen Regelung. Denn hält der Gesetzgeber aus Gründen
der Schutzbedürftigkeit eine Zwangsmitgliedschaft dieser
Personengruppe für erforderlich, so müsste hierfür - etwa durch eine
Ergänzung bzw Klarstellung des Wortlauts des § 2 Abs 1 Nr 9 SGB
VII - eine für den damit verbundenen Eingriff in die durch Art 2 Abs 1
GG geschützte Handlungsfreiheit ausreichende Rechtsgrundlage
erst geschaffen werden.
22
c) Eine Beitragspflicht des Unternehmens des Klägers oder des
Klägers persönlich folgt entgegen der Auffassung der Beklagten
auch nicht aus einer entsprechenden Anwendung des § 150 Abs 1
S 1 und 2 SGB VII "im Lichte des § 150 Abs 2 S 2 SGB VII". Die für
eine analoge Anwendung erforderliche "unbewusste"
Regelungslücke des Gesetzgebers besteht nicht. Vielmehr geht der
Gesetzgeber in § 150 Abs 1 SGB VII insofern von einem
schlüssigen Regelungskonzept aus. Hinsichtlich der versicherten
Beschäftigten einer juristischen Person regelt § 150 Abs 1 S 1 SGB
VII die Beitragspflicht so, dass die juristische Person als
Unternehmerin zur Zahlung der Beiträge verpflichtet ist. Nach § 150
Abs 1 S 2 SGB VII wäre der Kläger selbst beitragspflichtig, wenn er
sich freiwillig gemäß § 6 Abs 1 Nr 2 SGB VII versichert hätte oder ein
nach § 2 SGB VII versicherter Unternehmer wäre. Da nach dem
Wortlaut und Sinn und Zweck des § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII der Kläger
- wie ausgeführt - keiner Versicherungspflicht unterliegt, bedurfte es
insoweit keiner gesonderten Regelung einer Beitragspflicht. Der
Gesetzgeber stellt für die Personengruppe des Klägers den
Unfallversicherungsschutz in dessen Entscheidungsfreiheit
(§ 6 Abs 1 Nr 2 SGB VII). Angesichts der typisiert unterstellten
geringen Schutzbedürftigkeit der Personengruppe des Klägers
besteht insofern auch keine Notwendigkeit zu einer entsprechenden
Anwendung der Norm des § 150 Abs 1 SGB VII aus
übergeordneten, verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten. Der
Senat weist allerdings darauf hin, dass der Kläger damit aber auch
im Falle eines Unfalls im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als
Vorstandsvorsitzender nicht unter dem Schutz der gesetzlichen
Unfallversicherung steht.
23
4. Der Senat konnte auch abschließend in der Sache entscheiden,
obwohl die AG nicht beigeladen worden ist. Das Verfahren vor dem
LSG leidet entgegen der Ansicht der Beklagten nicht an einem im
Revisionsverfahren fortwirkenden Verfahrensmangel aufgrund eines
Verstoßes gegen § 75 Abs 2 Alt 1 SGG, der in der Revisionsinstanz
nicht beseitigt werden könnte (vgl § 168 S 1 SGG). Gemäß § 75 Abs
2 Alt 1 SGG sind Dritte, die an dem streitigen Rechtsverhältnis derart
beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur
einheitlich ergehen kann, zu dem Verfahren beizuladen. Die
Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung ist stets dann
gegeben, wenn durch die Entscheidung über das strittige
Rechtsverhältnis zugleich in die Rechtssphäre eines Dritten
unmittelbar eingegriffen wird
(BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 14/06 R - BSGE 97, 242 = SozR 4-
4200 § 20 Nr 1, RdNr 18)
. Der Senat konnte dahinstehen lassen, ob hier eine notwendige
Beiladung gemäß § 75 Abs 2 SGG durch das LSG hätte erfolgen
müssen, was aufgrund dessen Rechtsansicht zur Beitragspflicht der
AG möglicherweise geboten gewesen wäre. Die AG ist jedoch - wie
oben ausgeführt - unter keinem denkbaren rechtlichen
Gesichtspunkt Beitragsschuldnerin gemäß § 150 Abs 1 SGB VII,
weil der Kläger nicht ihr Beschäftigter iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII
war und auch eine Pflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII
ausscheidet. Einer Aufhebung und Zurückverweisung wegen einer
unterlassenen notwendigen Beiladung bedarf es nicht, wenn sich im
Revisionsverfahren ergibt, dass die zu treffende Entscheidung aus
Sicht des Revisionsgerichts den potenziell Beizuladenden in keiner
Weise benachteiligt
(vgl BSG vom 24.10.2013 - B 13 R 35/12 R - SozR 4-2600 § 118 Nr
12)
. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.
24
5. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG. Der Kläger
führt den Rechtsstreit in seiner Eigenschaft als von der Beklagten
zur Beitragszahlung in Anspruch genommener Versicherter iS des §
183 S 1 SGG. Er ist kein Unternehmer, der nicht kostenprivilegiert iS
des § 183 SGG wäre (vgl dazu zB BSG
vom 5.3.2018 - B 2 U 353/07 B - LSV RdSchr V 32/2008 und vom
17.5.2011 - B 2 U 18/10 R - BSGE 108, 194 = SozR 4-2700 § 6 Nr 2,
RdNr 63)
. Der Kläger wurde von der Beklagten auch nicht als Unternehmer,
sondern lediglich als nach § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII wie ein
Unternehmer tätiger Versicherter zur Beitragszahlung
herangezogen.