Urteil des BSG vom 25.05.2018

Rückforderung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung - nachträgliche Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung - Befriedigung der Erstattungsansprüche anderer Leistungsträger - der Nachzahlung übersteigender Rückforderungsbetrag - atypi

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 25.5.2018, B 13 R 3/17 R
ECLI:DE:BSG:2018:250518UB13R317R0
Rückforderung einer Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung - nachträgliche Bewilligung einer Rente
wegen voller Erwerbsminderung - Befriedigung der
Erstattungsansprüche anderer Leistungsträger - der
Nachzahlung übersteigender Rückforderungsbetrag -
atypischer Fall
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-
Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. Dezember 2016
aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an
das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1
Im Streit stehen die Rücknahme eines Verwaltungsakts über
Zahlungsansprüche aus einer Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung aufgrund einer später - zum Teil mit Wirkung für
denselben Zeitraum - bewilligten Rente wegen voller
Erwerbsminderung und eine daraus folgende Erstattungsforderung.
2
Der beklagte Rentenversicherungsträger bewilligte der Klägerin mit
Bescheid vom 6.2.2007 eine unbefristete Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung ab dem 1.9.2006 iHv monatlich 525,28 Euro. Mit
Bescheid vom 4.7.2012 bewilligte er ihr rückwirkend ab dem
1.10.2011 "anstelle" der bisherigen Rente eine Rente wegen voller
Erwerbsminderung, ab 1.9.2012 mit einem monatlichen
Auszahlungsbetrag iHv 1172,84 Euro. Zugleich hob die Beklagte den
Bescheid vom 6.2.2007 "hinsichtlich des Zahlungsanspruchs" für die
Zeit ab 1.10.2011 auf und stellte für den Zeitraum vom 1.10.2011 bis
31.8.2012 eine zu erstattende Überzahlung iHv 6337,76 Euro fest
(Anlage 10 des Bescheids vom 4.7.2012). Sie wies darauf hin, dass
die Nachzahlung für die Zeit vom 1.10.2011 bis 31.8.2012 iHv 12
675,61 Euro vorläufig nicht ausgezahlt werde, da zunächst
Ansprüche der Krankenkasse der Klägerin zu klären seien.
3
Nachdem sie der Krankenkasse von dem neben der Rente wegen
teilweiser Erwerbsminderung für die Zeit vom 31.10.2011 bis
28.6.2012 gezahlten Krankengeld (insgesamt 11 412,25 Euro)
entsprechend deren Gesuch 9142,66 Euro erstattet hatte, hob die
Beklagte den Bescheid über die Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung vom 6.2.2007 "hinsichtlich des
Zahlungsanspruchs für die Zeit ab 1.10.2011" (erneut) auf und stellte
(nochmals) eine zu erstattende Überzahlung iHv 6337,76 Euro fest.
Die Forderung aus der "Überzahlung" dieser Rente rechnete sie
gegen den nach Erfüllung des Erstattungsanspruchs der
Krankenkasse noch verbliebenen Nachzahlungsanspruch aus der
Rente wegen voller Erwerbsminderung auf. Schließlich forderte sie
von der Klägerin die Erstattung der "restliche(n) Überzahlung" iHv
noch 2804,81 Euro (Bescheid vom 10.8.2012). Die Widersprüche der
Klägerin gegen die Bescheide vom Juli und August 2012 blieben
ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 17.4.2013).
4
Die hiergegen gerichtete Klage hat das SG abgewiesen
(Urteil vom 19.5.2015). Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG
das Urteil des SG und die Bescheide der Beklagten vom 4.7.2012
und 10.8.2012 jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
17.4.2013 aufgehoben, "soweit eine Erstattungsforderung in Höhe
von 2804,81 EUR festgesetzt wurde". Zur Begründung hat es ua
ausgeführt, die Aufhebungsentscheidungen seien teilweise
rechtswidrig. Zwar habe die Klägerin mit der höheren Rente wegen
voller Erwerbsminderung ab Oktober 2011 Einkommen erzielt,
welches nach § 89 SGB VI zum Wegfall des Anspruchs auf Zahlung
der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung geführt habe. Deshalb
habe die Beklagte den Auszahlungsanspruch aus dieser Rente nach
§ 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X aufheben dürfen, jedoch wegen des zuvor
befriedigten Erstattungsanspruchs der Krankenkasse nur in Höhe des
der Klägerin danach verbliebenen Nachzahlungsbetrags iHv 3532,95
Euro (Urteil vom 20.12.2016).
5
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 48 Abs 1 S 2
Nr 3 SGB X. Noch zutreffend gehe das angefochtene Urteil des LSG
davon aus, dass sie den Bescheid vom 6.2.2007 grundsätzlich nach
§ 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X habe aufzuheben dürfen. Entgegen der
Auffassung des LSG habe sie aber einen Anspruch auf Erstattung
der insgesamt überzahlten 6337,76 Euro. Nur wenn sie berechtigt sei,
von der Klägerin auch die streitbefangenen 2804,81 Euro
zurückzufordern, verbleibe dieser per Saldo (gezahlte Rente wegen
teilweiser Erwerbsminderung zzgl Krankengeld abzgl
Erstattungsforderung) der Leistungsumfang, der ihr von Rechts
wegen zustehe, und ihr - der Beklagten - kein finanzieller Nachteil.
6
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom
20. Dezember 2016 aufzuheben und die Berufung der Klägerin
gegen das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 19. Mai 2015
zurückzuweisen.
7
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
9 Die Revision der Beklagten ist zulässig und im Sinne der Aufhebung
und Zurückverweisung an das LSG (§ 170 Abs 4 S 1 SGG)
begründet. Der Senat vermochte auf Grundlage der tatsächlichen
Feststellungen des LSG nicht abschließend darüber zu befinden, ob
dieses das klageabweisende Urteil des SG und die angefochtenen
Bescheide der Beklagten zu Recht teilweise aufgehoben hat.
10
1. Gegenstand des Rechtsstreits im Revisionsverfahren ist im
Hinblick auf die allein von der Beklagten eingelegten Revision deren
Bescheid vom 10.8.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 17.4.2013 nur noch in dem Umfang, in dem das LSG diesen
aufgehoben hat. Die im Bescheid vom 4.7.2012 verlautbarten
Verwaltungsakte über die vollständige Aufhebung des
Zahlungsanspruchs aus der Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung für die Zeit ab 1.10.2011 sowie über die
vollständige Erstattung der sich hieraus bis zum 31.8.2012
ergebenden Überzahlung iHv 6337,76 Euro sind durch die
gleichlautenden Verwaltungsakte des Bescheids vom 10.8.2012 in
Gänze ersetzt worden
(sog Zweitbescheid, vgl hierzu zB BSG Urteil vom 7.4.2016 - B 5 R
26/15 R - SozR 4-2600 § 89 Nr 3 RdNr 18 ff mwN)
und dadurch "auf andere Weise erledigt" (§ 39 Abs 2 SGB X).
11
Diese beiden Verwaltungsakte des Bescheids vom 10.8.2012 hat
das LSG (nur) teilweise aufgehoben. Denn unter Heranziehung der
Gründe ist der Tenor des angegriffenen Urteils ("soweit eine
Erstattungsforderung in Höhe von 2804,81 EUR festgesetzt wurde")
dahingehend auszulegen (zur Auslegung von Urteilen vgl
zB BSG Urteil vom 21.6.2016 - B 10 EG 3/15 R - SozR 4-7837 § 2
Nr 31 RdNr 11 mwN)
, dass die Aufhebung nicht nur die Feststellung eines
Erstattungsanspruchs durch die Beklagte, sondern auch den
diesem Anspruch zugrundeliegenden Verwaltungsakt über die
Aufhebung des Zahlungsanspruchs aus der Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung erfassen sollte. Diesen Verwaltungsakt wie auch
den über den Erstattungsanspruch hat das LSG nur insoweit als
rechtswidrig angesehen und aufgehoben, als der "Wert" des
entfallenden Zahlungsanspruchs die um das erstattete Krankengeld
verminderte Nachzahlung aus der Rente wegen voller
Erwerbsminderung - also 3532,95 Euro - überstieg.
12
2. Der Rechtsstreit unterliegt der Zurückverweisung, weil der Senat
auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend
entscheiden konnte, ob die Aufhebung des Zahlungsanspruchs aus
der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für die
Vergangenheit (hierzu a) und die Erstattungsforderung (hierzu b) -
wie von der Beklagten geltend gemacht - in voller Höhe rechtmäßig
sind.
13
a) Als Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Zahlungsanspruchs
aus der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für die
Vergangenheit kommt allein § 48 Abs 1 SGB X
(idF der Neubekanntmachung vom 18.1.2001, BGBl I 130) in
Betracht. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in
den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem
Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit
Wirkung für die Zukunft aufzuheben (§ 48 Abs 1 S 1 SGB X). Nach §
48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X soll ein Verwaltungsakt mit Wirkung vom
Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse - binnen Jahresfrist -
aufgehoben werden, soweit nach Antragstellung oder Erlass des
Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das
zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben
würde (hierzu aa). Die Beklagte war grundsätzlich auch zur
Aufhebung des Zahlungsanspruchs in voller Höhe berechtigt
(hierzu bb). Jedoch könnte ein atypischer Fall vorliegen, was der
Senat aufgrund der Feststellungen des LSG nicht abschließend
beurteilen kann (hierzu cc).
14
aa) Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gegenüber denen,
die dem Verwaltungsakt über die Leistung einer Rente wegen
teilweiser Erwerbsminderung zugrundelagen, besteht in dem ab
1.10.2011 aufgrund einer Verschlechterung des
Gesundheitszustandes der Klägerin (nachträglich) hinzutretenden
Zahlungsanspruch aus einer Rente wegen voller
Erwerbsminderung. Zu diesem Zeitpunkt waren kraft Gesetzes das
(Stamm-)Recht auf Rente wegen voller Erwerbsminderung nach §
43 Abs 2 SGB VI und in dessen Folge monatlich
Einzel(zahlungs)ansprüche hieraus entstanden, die die Beklagte
rückwirkend mit Bescheid vom 4.7.2012 feststellte
(zur Unterscheidung zwischen Renten-Stammrecht und -
zahlungsanspruch vgl Senatsurteil vom 21.1.1993 - 13 RJ 19/91 -
BSGE 72, 39 = SozR 3-2200 § 1265 Nr 9; BSG Urteil vom 23.6.1994
- 4 RA 70/93 - SozR 3-2600 § 300 Nr 3; BSG Urteil vom 30.9.1997 -
4 RA 6/96 - SozR 3-2200 § 1304a Nr 3)
. Neben der höheren Rente wegen voller Erwerbsminderung war die
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nicht (mehr) zu leisten
(§ 89 Abs 1 S 1 SGB VI, damals idF durch Gesetz vom 21.7.2004,
BGBl I 1791)
, weshalb die aus dem Stammrecht auf Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung resultierenden Einzelansprüche während der
Dauer des Bezugs der vollen Erwerbsminderungsrente materiell-
rechtlich nicht zur Entstehung gelangten
(zum Ganzen vgl BSG Urteil vom 7.4.2016 - B 5 R 26/15 R - SozR 4-
2600 § 89 Nr 3 RdNr 31 mwN)
.
15
Damit war die Beklagte nicht nur zur Aufhebung der Verfügung über
den Zahlungsanspruch aus der Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung für die Zukunft, sondern - zumindest
grundsätzlich - auch für die Vergangenheit berechtigt. Denn dieser
"Anspruch" aus der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ist
durch die nachträglich gewährte höhere Rente iS des § 48 Abs 1 S 2
Nr 3 SGB X weggefallen
(vgl zur Anwendbarkeit des § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X in Fällen des
Ruhens einer Sozialleistung aufgrund nachträglicher
Rentengewährung BSG Urteil vom 19.2.1986 - 7 RAr 55/84 - SozR
1300 § 48 Nr 22 - Juris RdNr 19; BSG Urteil vom 13.8.1986 - 7 RAr
33/85 - BSGE 60, 180 = SozR 1300 § 48 Nr 26 - Juris RdNr 16 ff)
. Dabei gilt nach § 48 Abs 1 S 3 SGB X als Zeitpunkt der Änderung
der Verhältnisse der Beginn des Anrechnungszeitraums, vorliegend
also der Beginn der Rente wegen voller Erwerbsminderung am
1.10.2011
(vgl BSG Urteil vom 6.11.1985 - 10 RKg 3/84 - BSGE 59, 111 =
SozR 1300 § 48 Nr 19 - Juris RdNr 15; BSG Urteil vom 5.6.2003 - B
11 AL 70/02 R - Juris RdNr 15)
.
16
bb) Anders als das LSG angenommen hat, berechtigt und
verpflichtet § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X die Beklagte grundsätzlich
auch zur Aufhebung des Zahlungsanspruchs in voller Höhe
(6337,76 Euro) und nicht nur iHv 3532,95 Euro. Zwar schränkt diese
Vorschrift den Vertrauensschutz in den ursprünglichen
Verwaltungsakt ein, "soweit" nachträglich Einkommen oder
Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung
des Anspruchs geführt haben würde; der Betroffene soll nur in dem
Umfang, in dem er oder die für seinen Anspruch relevante Person
(auch wirtschaftlich) eine "doppelte" Zahlung erhalten hat, der
Aufhebung der Bewilligung ausgesetzt sein
(Senatsurteil vom 23.3.1995 - 13 RJ 39/94 - SozR 3-1300 § 48 Nr 37
- Juris RdNr 47;
BSG Urteil vom 15.12.1999 - B 11 AL 57/99 R - SozR 3-4100 § 138
Nr 14 - Juris RdNr 24 mwN)
. Der Aufhebungstatbestand ist also nur dann erfüllt, wenn der
Betroffene sowohl die ursprüngliche Sozialleistung (hier Rente
wegen teilweiser Erwerbsminderung) als auch die andere zum
Wegfall des erstgenannten Anspruchs führende Leistung (hier
Rente wegen voller Erwerbsminderung) bezogen hat.
Voraussetzung der Leistung ist ferner, dass sich die Leistung, die
zum Wegfall des Anspruchs geführt haben würde, mit dem
weggefallenen Anspruch deckt. Denn in diesem Umfang hat der
Betroffene einen doppelten wirtschaftlichen Vorteil.
Dementsprechend ist das Aufhebungsrecht für die Vergangenheit im
Rahmen des § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X auf die Höhe der
nachträglich bewilligten Leistung beschränkt, wenn die wegfallende
Leistung höher ist als diejenige, die den Wegfall bewirkt
(BSG Urteil vom 13.8.1986 - 7 RAr 33/85 - BSGE 60, 180 = SozR
1300 § 48 Nr 26 - Juris RdNr 23)
.
17
Diese Grenze wird hier nicht deshalb berührt, weil der
"Nachzahlungsbetrag" durch die Erstattung des Krankengelds an
die Krankenkasse reduziert worden ist. Denn soweit ein
Erstattungsanspruch besteht, gilt der Zahlungsanspruch auf die
Rente wegen voller Erwerbsminderung als erfüllt
(§ 107 Abs 1 SGB X); auch insoweit liegt eine
"Einkommenserzielung" der Klägerin vor. Der Begriff des
Einkommens iS von § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X ist weit zu fassen; er
umfasst auch geldwerte Zuflüsse
(Brandenburg in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl 2017, §
48 SGB X RdNr 136)
und mittelbare Einkommens- und Vermögenszuwächse
(BSG Urteil vom 31.10.1991 - 7 RAr 46/90 - Juris RdNr 24) wie das
Freiwerden von einer Forderung. Als "erzielt" ist daher auch
Einkommen anzusehen, das einem Leistungsträger
verrechnungsweise durch einen anderen Leistungsträger direkt
überwiesen wird
(BSG Urteil vom 13.8.1986 - 7 RAr 33/85 - BSGE 60, 180 = SozR
1300 § 48 Nr 26 - Juris RdNr 23; BSG Urteil vom 31.10.1991 - 7 RAr
46/90 - Juris RdNr 23; Merten in Hauck/Noftz, SGB, Stand 05/17, K §
48 SGB X RdNr 46)
, wie es hier die Beklagte im Hinblick auf die Erstattungsforderung
der Krankenkasse der Klägerin getan hat.
18
Unter Einschluss der somit zu berücksichtigenden Erstattung an die
Krankenkasse überstieg der Einkommenszuwachs aus der
Nachzahlung der Rente wegen voller Erwerbsminderung den Wert
des nach § 48 SGB X aufgehobenen Auszahlungsanspruchs der
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Die Klägerin hatte ab
dem 1.10.2011 Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung
mit einem monatlichen Zahlbetrag iHv 1147,77 Euro bzw ab
1.7.2012 iHv 1172,84 Euro, in Summe 12 675,61 Euro für die
Monate Oktober 2011 bis August 2012. In dieser Höhe erzielte sie
auch einen Einkommenszuwachs, zum einen durch die Erstattung
an die Krankenkasse iHv 9142,66 Euro (§ 107 Abs 1 SGB X) und
zum anderen durch die gegen die Rückforderung der Beklagten
aufgerechnete verbleibende Nachzahlung iHv 3532,95 Euro.
Demgegenüber war ihr zuvor im selben Zeitraum Rente wegen
teilweiser Erwerbsminderung nur iHv insgesamt 6337,76 Euro
gezahlt worden. Das zeitgleich gezahlte Krankengeld iHv 11 412,25
Euro ist dem nicht hinzuzurechnen. Denn dieses ist nicht
Gegenstand des angefochtenen Verwaltungsakts der Beklagten
über die rückwirkende Aufhebung des Zahlungsanspruchs aus der
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Vielmehr erfolgt die
Rückabwicklung der Bewilligung des Krankengelds - auf welches
die Klägerin vom Beginn der Rente wegen voller Erwerbsminderung
am 1.10.2011 an keinen Anspruch mehr hatte
(§ 50 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB V) - durch die Krankenkasse, welche sich
dafür richtigerweise mit einem Erstattungsersuchen an die Beklagte
gewandt hatte
(§ 103 Abs 1 Halbs 1 SGB X; vgl Prange in jurisPK-SGB X, 2. Aufl
2017, § 103 RdNr 75)
.
19
cc) Wenn jedoch - wie auch hier - die Erstattungsforderung des
Rentenversicherungsträgers gegenüber dem Versicherten nicht
vollständig aus dem verbliebenen Nachzahlungsbetrag der Rente
wegen voller Erwerbsminderung beglichen werden kann, besteht
besonderer Anlass zu prüfen
(vgl zu der den Gerichten obliegenden Prüfung, ob ein atypischer
Fall gegeben ist, zB BSG Urteil vom 5.4.2012 - B 10 EG 10/11 R -
SozR 4-7837 § 2 Nr 14 RdNr 47 mwN)
, ob ein atypischer Fall vorliegt. Dies vermochte der Senat aufgrund
der Feststellungen des LSG nicht zu beurteilen.
20
In ständiger Rechtsprechung geht das BSG in Übereinstimmung mit
der einhelligen Auffassung im Schrifttum davon aus, dass das Wort
"soll" in § 48 Abs 1 S 2 SGB X bedeutet, dass der Leistungsträger in
der Regel den Verwaltungsakt rückwirkend aufheben muss, er
jedoch in atypischen Fällen nach seinem Ermessen hiervon
abweichen kann
(vgl nur BSG Urteil vom 30.6.2016 - B 5 RE 1/15 R - SozR 4-1300 §
48 Nr 33 RdNr 22 mwN; Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8.
Aufl 2014, § 48 RdNr 20 mwN)
. Ob ein atypischer Fall vorliegt, ist stets nach dem Zweck der
jeweiligen Regelung des § 48 Abs 1 S 2 SGB X und nach den
Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. Diese müssen im Hinblick
auf die mit der rückwirkenden Aufhebung des Verwaltungsakts
verbundenen Nachteile, insbesondere der aus § 50 Abs 1 SGB X
folgenden Pflicht zur Erstattung der erbrachten Leistungen, vom
Normalfall derart abweichen, dass der betroffene
Leistungsempfänger deutlich schlechter dasteht, als es beim
Vorliegen eines Normalfalles der einschlägigen Regelung des § 48
Abs 1 S 2 SGB X der Fall wäre
(BSG Urteil vom 6.11.1985 - 10 RKg 3/84 - BSGE 59, 111 = SozR
1300 § 48 Nr 19 - Juris RdNr 19; Senatsurteil vom 31.1.2008 - B 13
R 23/07 R - ZFE 2008, 395 - Juris RdNr 30; BSG Urteil vom
30.6.2016 - B 5 RE 1/15 R - SozR 4-1300 § 48 Nr 33 RdNr 26 mwN)
.
21
Ein Anhaltspunkt für das Vorliegen eines atypischen Falls kann hier
bereits in dem Umstand gesehen werden, dass die
Erstattungsforderung bezüglich der ab 1.10.2011 ruhenden
niedrigeren Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nicht
vollständig aus dem verbliebenen Nachzahlungsbetrag der höheren
Rente wegen voller Erwerbsminderung für denselben Zeitraum
beglichen werden kann. Demgegenüber gewährleistet die
beschränkte Ermächtigung des § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X, wonach
die Aufhebung eines Verwaltungsakts nur "soweit" zulässig ist, wie
Einkommen und Vermögen erzielt worden ist (hierzu oben II.2.a)bb),
regelmäßig ein zumindest ausgeglichenes Verhältnis von
Rückforderung und Nachzahlung. Daher liegt eine "Atypik"
gegenüber dem typischen Fall, der wegen Erzielung von
Einkommen zur Aufhebung für die Vergangenheit berechtigt, vor,
wenn die ursprüngliche Leistung - hier die Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung - gutgläubig verbraucht worden sein sollte und
die Erstattungsforderung, soweit sie den verbliebenen
nachzuzahlenden Betrag der später bewilligten höheren
Sozialleistung - hier der Rente wegen voller Erwerbsminderung -
übersteigt, aus dem laufenden Bezug dieser Leistung beglichen
werden müsste
(so bereits BSG Urteil vom 11.1.1989 - 10 RKg 12/87 - SozR 1300 §
48 Nr 53; vgl auch BSG Urteil vom 16.12.2004 - B 9 VG 1/03 R -
SozR 4-3800 § 10a Nr 1 RdNr 41 - Juris RdNr 49)
. Hierzu hat das LSG keine Feststellungen getroffen.
22
b) Da der Senat nicht abschließend beurteilen kann, ob die Beklagte
den Zahlungsanspruch aus der Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung zurecht in voller Höhe aufgehoben hat, kann
zugleich nicht entschieden werden, ob die hieraus folgende
Erstattungsforderung (§ 50 Abs 1 S 1 SGB X) - wie von der
Beklagten geltend gemacht - in voller Höhe rechtmäßig ist.
23
3. In der wieder eröffneten Tatsacheninstanz wird das LSG die erst
mit der Revisionsbegründung beim BSG vorgelegten Bescheide
vom 1.6.2011 und 29.6.2012, mit denen die Beklagte die Rente
jeweils neu berechnete, berücksichtigen müssen. Zudem wird es
festzustellen haben, ob die Klägerin damit rechnen musste, dass sie
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung und Krankengeld im
Falle der Bewilligung einer höheren Rentenleistung zu erstatten
habe und ob ihr nur die laufende Rente wegen voller
Erwerbsminderung zur Erfüllung der Erstattungsforderung der
Beklagten iHv 2804,81 Euro zur Verfügung steht. Sollte das LSG zur
Bejahung eines atypischen Falls gelangen, wird es ferner zu
beurteilen haben, ob die Ermessenserwägungen der Beklagten im
Hinblick auf die Aufhebung der Verfügung über die Zahlung der
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung - soweit sie über die
Nachzahlung der Rente wegen voller Erwerbsminderung hinausgeht
- ausreichen. Schließlich wird es zu klären haben, ob die Beklagte
die Klägerin vor der Erteilung des hier angefochtenen Aufhebungs-
und Erstattungsbescheids - wie nach § 24 Abs 1 SGB X erforderlich
- angehört hat. Von der Anhörung konnte schon deshalb nicht nach
§ 24 Abs 2 Nr 5 SGB X abgesehen werden, weil die Beklagte von
der Klägerin auch die Erstattung von Leistungen für die
Vergangenheit verlangte
(vgl Senatsurteil vom 6.9.2017 - B 13 R 21/15 R - SozR 4-2600 §
96a Nr 16 RdNr 15)
. Ggf ist Gelegenheit zu geben, die Anhörung nachzuholen
(BSG Urteil vom 16.3.2017 - B 10 LW 1/15 R - SozR 4-1300 § 41 Nr
3 RdNr 16 ff, zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen)
.
24
4. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu
entscheiden haben.