Urteil des BSG vom 07.06.2018

Krankenversicherung - Versicherungsfreiheit wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze - Berücksichtigung des Entgeltausfalls infolge mutterschutzrechtlicher Beschäftigungsverbote bei der Prognose hinsichtlich des im Folgejahr zu erwartenden Jahr

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 7.6.2018, B 12 KR 8/16 R
ECLI:DE:BSG:2018:070618UB12KR816R0
Krankenversicherung - Versicherungsfreiheit wegen
Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze -
Berücksichtigung des Entgeltausfalls infolge
mutterschutzrechtlicher Beschäftigungsverbote bei der
Prognose hinsichtlich des im Folgejahr zu erwartenden
Jahresarbeitsentgelts
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des
Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Januar 2016
wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die ihr entstandenen notwendigen
außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu
erstatten.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen die Festsetzung von Beiträgen zur
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).
2
Die 1982 geborene Klägerin war als Arbeitnehmerin
versicherungspflichtiges Mitglied der beklagten Krankenkasse. 2012
betrug ihr Bruttogehalt 50 776 Euro, wobei das monatliche Gehalt
zum 1.7.2012 auf 3729 Euro (zzgl vermögenswirksamer Leistungen
in Höhe von 40 Euro) erhöht wurde. Die Arbeitgeberin der Klägerin
meldete jene bei der Beklagten ab 1.1.2013 als versicherungsfreie
Arbeitnehmerin, da die Jahresarbeitsentgeltgrenze (JAG)
überschritten werde; Beiträge führte sie weiterhin unmittelbar an die
Beklagte ab. Die Klägerin befand sich ab 22.3.2013 im Mutterschutz
mit Bezug von Mutterschaftsleistungen bis 1.7.2013. In der bis zum
2.5.2015 nachfolgenden Elternzeit bezog sie teilweise Elterngeld und
war sie nicht berufstätig.
3
Die Beklagte stufte die Klägerin (auch im Namen der Pflegekasse) mit
Bescheid vom 7.8.2013 als freiwilliges Mitglied in die Beitragsklasse
801 ein und setzte den monatlichen Kranken- und
Pflegeversicherungsbeitrag fest. Anschließend teilte sie der Klägerin
mit, gemäß § 190 Abs 3 SGB V
(in der bis 31.7.2013 geltenden Fassung des GKV-
Finanzierungsgesetzes vom 22.12.2010, BGBl I 2309)
hätte ihre Mitgliedschaft wegen Erlöschens der Versicherungspflicht
infolge Überschreitens der JAG zum 31.12.2012 nur dann enden
können, wenn sie innerhalb von zwei Wochen nach Hinweis der
Krankenkasse über die Austrittsmöglichkeit den Austritt erklärt hätte.
Werde der Austritt nicht erklärt, setze sich die Mitgliedschaft als
freiwillige Mitgliedschaft fort. Den bislang unterbliebenen Hinweis auf
die Austrittsmöglichkeit hole die Beklagte hiermit nach. Eine
Austrittserklärung gab die Klägerin in der Folgezeit nicht ab. Mit
weiteren, auch im Namen der Pflegekasse ergangenen Bescheiden,
setzte die Beklagte wiederholt den monatlichen Kranken- und
Pflegeversicherungsbeitrag der Klägerin fest. Nachdem die Beklagte
im Namen der Pflegekasse unter dem 20.2.2014 zugesichert hatte,
eine bestandskräftige Entscheidung hinsichtlich der
Krankenversicherung auch für die Pflegeversicherung zu
übernehmen, wies sie den Widerspruch der Klägerin gegen den
Bescheid vom 7.8.2013 zurück
(Widerspruchsbescheid vom 12.3.2014).
4
Die Beklagte hat im Klageverfahren (auch im Namen der
Pflegekasse) den monatlichen Kranken- und
Pflegeversicherungsbeitrag für Folgezeiträume festgesetzt. Das SG
hat die ursprünglich auf Aufhebung der Bescheide, Feststellung des
Status als beitragsfreies Mitglied und Erstattung der gezahlten
Beiträge gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 16.4.2015). Das
LSG hat auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG sowie die
Bescheide der Beklagten aufgehoben und zur Begründung
ausgeführt: Die Klägerin sei auch nach dem 1.1.2013
pflichtversichertes Mitglied der Beklagten geblieben. Das
Arbeitsentgelt der Klägerin für das Jahr 2013 sei unter
Berücksichtigung der mutterschaftsbedingten Entgeltausfälle zu
schätzen und bleibe wegen der während der mutterschutzrechtlichen
Beschäftigungsverbote anstelle des ausgefallenen Arbeitsentgelts
bezogenen Mutterschaftsleistungen unter der für 2013 geltenden JAG
(Urteil vom 27.1.2016).
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Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung ua des § 6 Abs 4
S 2 SGB V. Arbeitsentgeltausfälle wegen Mutterschaft seien nicht zu
berücksichtigen.
6
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27.
Januar 2016 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das
Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 16. April 2015 zurückzuweisen.
7
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
8
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
9
Die zulässige Revision der beklagten Krankenkasse ist
unbegründet. Das LSG hat zu Recht das Urteil des SG und die
angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben. Die Klägerin
war im streitigen Zeitraum vom 2.7.2013 bis zum 2.5.2015 in der
GKV beitragsfreies Mitglied der Beklagten.
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1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind die Bescheide der
Beklagten vom 7.8.2013, 20.9.2013 und 21.1.2014 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 12.3.2014 sowie die während des
Klageverfahrens ergangenen Bescheide der Beklagten vom
12.1.2015, 15.1.2015 und 17.4.2015 für den Zeitraum vom 2.7.2013
bis 2.5.2015 (§ 153 Abs 1, § 96 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat gegen
die Beitragsbescheide zulässig Anfechtungsklage erhoben
(§ 54 Abs 1 S 1 Alt 1 SGG).
11
2. Die Anfechtungsklage ist auch begründet. Die angefochtenen
Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen die
Klägerin in ihren Rechten (dazu a). Die Klägerin war im
streitgegenständlichen Zeitraum beitragsfreies Mitglied der
Beklagten (dazu b).
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a) Die angefochtenen Beitragsbescheide der Beklagten sind
rechtswidrig, denn die Klägerin war im streitgegenständlichen
Zeitraum Pflichtmitglied der beklagten Krankenkasse und nicht - wie
die Beklagte meint - freiwillig versichert. Gemäß § 190 Abs 3 SGB V
(in der Fassung des GKV-FinG vom 22.12.2010, BGBl I 2309) endet
die Mitgliedschaft von Personen, deren Versicherungspflicht nach §
6 Abs 4 SGB V erlischt, zu dem in dieser Vorschrift vorgesehenen
Zeitpunkt nur dann, wenn das Mitglied innerhalb von zwei Wochen
nach Hinweis der Krankenkasse über die Austrittsmöglichkeit seinen
Austritt erklärt. Wird der Austritt nicht erklärt, setzt sich die
Mitgliedschaft als freiwillige Mitgliedschaft fort, es sei denn, die
Voraussetzungen der freiwilligen Versicherung nach § 9 Abs 1 S 1
Nr 1 SGB V sind nicht erfüllt. Die Klägerin hat auf den (verspäteten)
Hinweis der Beklagten zwar keinen Austritt erklärt, jedoch liegen
schon die Voraussetzungen des § 6 Abs 4 SGB V für
Versicherungsfreiheit wegen Überschreitens der JAG nicht vor.
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§ 6 Abs 1 Nr 1 SGB V bestimmt, dass Arbeiter und Angestellte,
deren regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt die JAG nach § 6 Abs 6
oder 7 SGB V übersteigt, versicherungsfrei sind; Zuschläge, die mit
Rücksicht auf den Familienstand gezahlt werden, bleiben
unberücksichtigt. Die Versicherungspflicht endet gemäß § 6 Abs 4 S
1 SGB V mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die JAG
überschritten wird. Dies gilt nach § 6 Abs 4 S 2 SGB V nicht, wenn
das Entgelt die vom Beginn des nächsten Kalenderjahres an
geltende JAG nicht übersteigt. Der Senat kann die Frage, ob das
Jahresarbeitsentgelt der Klägerin wegen der Zahlung eines 13. und
14. Monatsgehalts seitens der Arbeitgeberin die JAG im Jahr 2012
überstiegen hat, offenlassen, denn es übersteigt jedenfalls die JAG
des Folgejahres 2013 in Höhe von 52 200 Euro nicht.
14
Wird die Versicherungspflichtgrenze im laufenden Kalenderjahr
überschritten, so wird vermutet, dass die den
Versicherungspflichttatbeständen zugrunde liegende typisierte
Schutzbedürftigkeit nicht mehr vorliegt. Nicht im laufenden Jahr, aber
zu dessen Ende entfällt sodann die Versicherungspflicht. Anderes
gilt jedoch, wenn das Überschreiten der JAG ein einmaliges
Phänomen darstellt und gerade nicht Ausdruck einer entfallenden
Schutzbedürftigkeit ist. Deshalb bestimmt § 6 Abs 4 S 2 SGB V als
negative Tatbestandsvoraussetzung, dass Versicherungsfreiheit
nicht eintritt, wenn das Arbeitsentgelt die JAG des nächsten
Kalenderjahres nicht übersteigt. Da die hierzu erforderliche
Feststellung jedoch am Ende des laufenden Kalenderjahres
getroffen wird, stellt sie sich als Feststellung eines zukünftigen
Sachverhalts, als eine Prognose dar. Für die anzustellende
Prognose ist in der Regel das vereinbarte Arbeitsentgelt auf ein zu
erwartendes Jahresarbeitsentgelt für das nächste Kalenderjahr
hochzurechnen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden
Senats
(BSG Urteil vom 9.2.1993 - 12 RK 26/90 - SozR 3-2200 § 165 Nr 9)
ist der während des für die Ermittlung des Jahresarbeitsentgelts
maßgebenden Jahres regelmäßig zu erwartende Verdienst nur der
Verdienst, bei dem damit zu rechnen ist, dass er bei normalem
Verlauf - abgesehen von einer anderweitigen Vereinbarung über das
Entgelt oder von nicht voraussehbaren Änderungen in der
Beschäftigung - voraussichtlich ein Jahr anhalten wird.
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In die Prognose sind nach Sinn und Zweck des § 6 SGB V
feststehende zukünftige Veränderungen des Arbeitsentgelts
einzustellen
(Peters in Kasseler Komm, Stand Dezember 2017, § 6 SGB V RdNr
22)
. Bereits die Entstehungsgeschichte zeigt, dass es das Ziel des
Gesetzgebers war, Versicherungsfreiheit erst dann eintreten zu
lassen, wenn das Überschreiten der JAG von Dauer ist. § 6 Abs 4
SGB V geht auf die inhaltlich übereinstimmende Regelung des §
165 Abs 5 RVO in der seit dem 1.1.1971 geltenden Fassung des Art
1 Nr 2 des Zweiten Krankenversicherungs-Änderungsgesetzes vom
21.12.1970 (BGBl I 1770) zurück. Diese Vorschrift hatte zugleich mit
der im selben Gesetz vorgenommenen Dynamisierung der Grenze
(damals: Jahresarbeitsverdienstgrenze)die frühere Regelung des §
165 Abs 5 RVO ersetzt, wonach der Angestellte schon mit Ablauf
des Monats der Überschreitung aus der Versicherungspflicht
ausschied. Mit der Neuregelung (§ 165 Abs 5 RVO nF ab 1971)
sollte der früher bei Angestellten häufige Wechsel von Zeiten der
Versicherungspflicht und Versicherungsfreiheit ausgeschlossen und
damit die Kontinuität der Versicherungsverhältnisse sichergestellt
werden
(vgl BSG Urteil vom 31.8.1976 - 12/3/12 RK 21/74 - SozR 2200 §
165 Nr 15 und BSG Urteil vom 28.4.1983 - 12 RK 42/82 - SozR 2200
§ 165 Nr 70)
. Dies dient der Rechtssicherheit
(BSG Urteil vom 25.2.1997 - 12 RK 51/96 - SozR 3-2500 § 6 Nr 15).
16
Bei der zum Ende des Kalenderjahres 2012 anzustellenden
Prognose bezüglich des im nächsten Kalenderjahr 2013 zu
erwartenden Jahresarbeitsentgelts ist der Entgeltausfall aufgrund
der Schutzfristen des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) zu
berücksichtigen. Das LSG hat zu Recht ausgeführt, dass in die
Prognose zwar keine atypischen oder krankhaften Verläufe einer
Schwangerschaft einzustellen sind, sehr wohl aber
Entgeltveränderungen, die wegen der Mutterschutzfristen im Fall
einer Schwangerschaft regelmäßig zu erwarten sind. Die Schutzfrist
beträgt regelmäßig sechs Wochen vor und acht Wochen nach der
Entbindung
(§ 3 Abs 2, § 6 Abs 1 MuSchG in der Fassung der Bekanntmachung
der Neufassung des MuSchG vom 20.6.2002, BGBl I 2318; jetzt: § 3
MuSchG)
. Ungeachtet dessen wurde im vorliegenden Fall die JAG in Höhe
von 52 200 Euro schon wegen eines Arbeitsentgeltausfalls aufgrund
der Mindestschutzfrist bei Entbindung von zwei Wochen
(§ 6 Abs 1 S 3 MuSchG) unterschritten, da sich der
Arbeitsentgeltausfall der Klägerin für 14 Tage auf 1749,20 Euro
belaufen hätte. Ihr Jahresarbeitsentgelt hatte somit lediglich 50
936,80 Euro betragen.
17
Die Berücksichtigung des Arbeitsentgeltausfalls aufgrund der
Mutterschutzfristen im Rahmen der Prognoseentscheidung des § 6
Abs 4 S 2 SGB V steht nicht im Widerspruch zu früherer
Senatsrechtsprechung. In dem Urteil des Senats vom 7.12.1989
(12 RK 19/87 - BSGE 66, 124 = SozR 2200 § 165 Nr 97) ist
ausgeführt, dass eine Gehaltserhöhung erst ab dem Zeitpunkt für
eine Statusentscheidung relevant wird, ab dem das höhere
Arbeitsentgelt tatsächlich gezahlt wird. Dabei ging es jedoch nicht
um eine Prognose nach § 6 Abs 4 S 2 SGB V, sondern um den
Wiedereintritt der Versicherungspflicht nach vorheriger
Versicherungsfreiheit bzw der Bestimmung des
Jahresarbeitsentgelts im laufenden Kalenderjahr.
18
Unerheblich ist, ob die Beklagte zum Jahresende 2012 Kenntnis
davon hatte, dass die Klägerin ein Kind erwartete. Maßgeblich für
eine Prognose sind die zum Prognosezeitpunkt bekannten und
erkennbaren Umstände; später bekannt werdende Tatsachen
bleiben unberücksichtigt
(vgl BSG Urteil vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264;
BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 119/10 R - BSGE 108, 86 = SozR
4-1500 § 54 Nr 21; BSG Urteil vom 21.3.2018 - B 6 KA 44/16 R -
Juris)
. Im Rahmen der hier bei § 6 Abs 4 S 2 SGB V vorzunehmenden
Prognose ist daher der zum Jahresende 2012 objektiv feststehende
und erkennbare Sachverhalt zugrunde zu legen. Indes kommt es
nicht auf die subjektive Kenntnis von Tatsachen eines Mitarbeiters
der Beklagten an, der bei der Prognoseentscheidung kein
Beurteilungsspielraum eingeräumt ist
(siehe hierzu auch BSG Urteil vom 2.10.1997 - 14 REg 10/96 - SozR
3-7833 § 6 Nr 15; BSG Urteil vom 6.4.2006 - B 7a AL 20/05 R -
SozR 4-4300 § 324 Nr 2; BSG Urteil vom 5.8.2015 - B 4 AS 46/14 R
- SozR 4-4200 § 16b Nr 1)
. Die Forderung nach (subjektiver) Kenntnis der Beklagten von
sämtlichen Umständen würde sich mit dem Eintritt von
Versicherungspflicht und Versicherungsfreiheit kraft Gesetzes nicht
vereinbaren lassen.
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b) Die Klägerin war über den 31.12.2012 hinaus
versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten. Ihre Mitgliedschaft
blieb ab 22.3.2013 bzw ab 2.7.2013 gemäß § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V
wegen des Bezugs von Mutterschaftsgeld bzw von Elterngeld und
der Inanspruchnahme von Elternzeit bis 2.5.2015 erhalten. Die
Beitragsfreiheit in der Elternzeit ergibt sich aus § 224 Abs 1 SGB V;
die Klägerin hat über das Elterngeld hinaus in der Elternzeit kein
weiteres Einkommen bezogen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 S 1 SGG.