Urteil des BSG vom 03.05.2018

Arbeitslosengeldanspruch - Sperrzeit bei Arbeitsablehnung - mehrere Beschäftigungsangebote - enger zeitlicher Zusammenhang - einheitlicher Lebenssachverhalt - eine Sperrzeit

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 3.5.2018, B 11 AL 2/17 R
ECLI:DE:BSG:2018:030518UB11AL217R0
Arbeitslosengeldanspruch - Sperrzeit bei Arbeitsablehnung -
mehrere Beschäftigungsangebote - enger zeitlicher
Zusammenhang - einheitlicher Lebenssachverhalt - eine
Sperrzeit
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird die Berufung des Klägers
unter Änderung des Urteils des Sächsischen
Landessozialgerichts vom 5. Februar 2016 als unzulässig
verworfen, soweit das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 28.
Mai 2015 (Az S 8 AL 142/12) sowie der Bescheid vom 30. Januar
2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Februar
2012 aufgehoben wurden.
Im Übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger 2/3 der Kosten des Revisions- und
Berufungsverfahrens sowie die Kosten des Klageverfahrens S 8
AL 144/12 zu erstatten. Eine weitergehende Kostenerstattung
findet nicht statt.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten zum einen über eine Minderung der Dauer des
Anspruchs auf Alg um 42 Tage, die Aufhebung der Bewilligung von
Alg wegen des Eintritts einer Sperrzeit wegen Arbeitsablehnung vom
1.12.2011 bis 11.1.2012 und die Verpflichtung zur Erstattung von Alg
in Höhe von 397,50 Euro für Dezember 2011. Zum anderen wendet
sich der Kläger gegen eine Minderung der Dauer des Anspruchs auf
Alg um 84 Tage und der Aufhebung von Alg wegen des Eintritts einer
Sperrzeit wegen Arbeitsablehnung vom 12.1.2012 bis 4.4.2012.
2
Die Beklagte bewilligte dem in Radeburg/Sachsen lebenden Kläger,
der zuletzt eine Tätigkeit als Beikoch ausgeübt hatte, Alg ab 1.7.2011
für 300 Kalendertage in Höhe eines täglichen Leistungssatzes von
13,25 Euro
(Vorläufiger Bescheid vom 17.8.2011; Bescheid vom 12.9.2011). Am
29.11.2011 unterbreitete sie ihm im Rahmen einer persönlichen
Vorsprache zwei Vermittlungsvorschläge, einmal als Beikoch (H. in
B.) und einmal als Koch (B. in S.). Ein weiteres Stellenangebot als
Beikoch (E. in M.) übersandte die Beklagte am 30.11.2011 per Post.
Mit Schreiben vom 4.1.2012 hörte sie den Kläger zum Eintritt einer
Sperrzeit wegen des Vermittlungsvorschlags B. I. an, mit Schreiben
vom 9.1.2012 zu den Vermittlungsvorschlägen S. und E.
3
Nach der Mitteilung des Klägers, sich auf keine der Stellen beworben
zu haben, verfügte die Beklagte das Ruhen des Anspruchs auf Alg
wegen des Eintritts einer dreiwöchigen Sperrzeit vom 1.12.2011 bis
21.12.2011 - mit einer entsprechenden Minderung der
Anspruchsdauer - wegen fehlender Kontaktaufnahme mit dem S. und
hob die Bewilligung von Alg für diesen Zeitraum auf (Bescheid
vom 30.1.2012, der bindend geworden ist). Mit weiterem Bescheid
(ebenfalls vom 30.1.2012) verfügte sie das Ruhen des Anspruchs auf
Alg wegen des Eintritts einer zweiten und somit sechswöchigen
Sperrzeit vom 1.12.2011 bis 11.1.2012 wegen der Nichtbewerbung
des Klägers beim B. I., hob die Bewilligung von Alg für diesen
Zeitraum ebenfalls auf und machte einen Erstattungsanspruch wegen
überzahltem Alg für Dezember 2011 in Höhe von 397,50 Euro
geltend; diese Sperrzeit mindere den Anspruch auf Alg um 42 Tage.
Mit einem dritten Bescheid (wiederum vom 30.1.2012) verfügte die
Beklagte schließlich das Ruhen des Anspruchs auf Alg wegen des
Eintritts einer dritten und somit zwölfwöchigen Sperrzeit für die Zeit
vom 12.1.2012 bis 4.4.2012 wegen der Nichtbewerbung des Klägers
bei den E. und hob die Bewilligung von Alg auch für diesen Zeitraum
auf; diese Sperrzeit mindere den Anspruch auf Alg um weitere 84
Tage.
4
Widerspruch und Klage gegen die beiden letztgenannten Bescheide
blieben jeweils erfolglos
(Widerspruchsbescheide vom 17. und 20.2.2012; Urteile des SG
Dresden vom 28.5.2015)
. Auf die Berufungen des Klägers hat das LSG durch die
Berichterstatterin als Einzelrichterin - im Einverständnis der Beteiligten
mit dieser Vorgehensweise - im Termin zur mündlichen Verhandlung
beide Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung
verbunden und die Urteile des SG Dresden sowie die beiden
angefochtenen Bescheide aufgehoben (Urteil vom 5.2.2016). Die
dem Kläger am 29.11.2011 unterbreiteten zwei
Vermittlungsvorschläge müssten als einheitlicher Vorgang
angesehen werden, der nur zu einer einzigen Sperrzeit führen könne,
weil der Arbeitslose nur in der Lage sei, ein Arbeitsangebot
anzunehmen und die Ablehnung durch eine Handlung als
einheitlicher Akt sowie aus einem einheitlichen Motiv heraus erfolge.
Deshalb sei nur von zwei Vermittlungsangeboten auszugehen,
welche allenfalls zu einem ersten und einem zweiten
versicherungswidrigen Verhalten führen könnten. Doch liege auch ein
zweites versicherungswidriges Verhalten im Hinblick auf das am
30.11.2011 per Post übersandte Angebot nicht vor, weil es zu diesem
Zeitpunkt an der erforderlichen Feststellung des Eintritts einer ersten
Sperrzeit wegen Arbeitsablehnung gefehlt habe. Im Übrigen lägen die
Voraussetzungen für eine Aufhebung nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4
SGB X nicht vor, weil dem Kläger kein grob fahrlässiges Verhalten
vorwerfbar sei.
5
Dagegen hat die Beklagte die vom Senat zugelassene Revision
eingelegt. Sie rügt als Verfahrensmangel zum einen die nicht
vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts wegen der Entscheidung
durch den Einzelrichter. Ein weiterer Verfahrensmangel, auf dem die
Entscheidung beruhe, läge zudem darin, dass das LSG gegen die
Pflicht verstoßen habe, das Urteil mit einer in sich widerspruchsfreien
Begründung zu versehen. Materiell-rechtlich verletze das Urteil § 144
Abs 4 Satz 1 Nr 2 SGB III aF, denn die Rechtmäßigkeit der
Feststellung einer zweiten Sperrzeit setze nicht voraus, dass zuvor
ein Bescheid über die Feststellung einer ersten Sperrzeit ergangen
sei. Eines schriftlichen Bescheids über den Eintritt der Sperrzeiten
nach Entstehung des Anspruchs und eines Hinweises auf die
Rechtsfolgen bedürfe es gemäß § 147 Abs 1 Nr 2 SGB III aF bzw §
161 Abs 1 Nr 2 SGB III nur als Voraussetzung für das Erlöschen des
Leistungsanspruchs wegen des Eintritts von Sperrzeiten mit einer
Dauer von insgesamt 21 Wochen.
6
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 5. Februar
2016 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen die Urteile
des Sozialgerichts Dresden vom 28. Mai 2015
(Az: S 8 AL 142/12 und Az: S 8 AL 144/12) zurückzuweisen.
7
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
9 Die zulässige Revision der Beklagten ist teilweise begründet. Soweit
das LSG das Urteil des SG Dresden vom 28.5.2015
(Az S 8 AL 142/12), das die sechswöchige Sperrzeit vom 1.12.2011
bis 11.1.2012 betrifft, sowie den entsprechenden Bescheid vom
30.1.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
20.2.2013 (Az W 311/12) aufgehoben hat, ist das Urteil zu ändern
und die Berufung des Klägers als unzulässig zu verwerfen. Im
Übrigen ist die Revision unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Das LSG hat im Ergebnis zu Recht auf die Berufung des Klägers
das Urteil des SG Dresden vom 28.5.2015 (Az S 8 AL 144/12), das
die zwölfwöchige Sperrzeit vom 12.1.2012 bis 4.4.2012 betrifft,
sowie den entsprechenden Bescheid vom 30.1.2012 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 20.2.2013 (Az W 312/12)
aufgehoben.
10
1. Streitgegenstand ist neben den Entscheidungen der Vorinstanzen
zum einen der Bescheid der Beklagten, durch den diese wegen des
Ruhens des Anspruchs auf Alg infolge des Eintritts einer
sechswöchigen Sperrzeit vom 1.12.2011 bis 11.1.2012 die
Minderung des Anspruchs auf Alg um 42 Tage verfügt, die
Bewilligung von Alg für diesen Zeitraum aufgehoben und einen
Erstattungsanspruch wegen überzahltem Alg für Dezember 2011 in
Höhe von 397,50 Euro geltend gemacht hat
(Bescheid vom 30.1.2012 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 20.2.2013 - Az W 311/12;
ursprüngliches SG-Verfahren S 8 AL 142/12; dazu 3.)
. Zum anderen ist Streitgegenstand der Bescheid, durch den die
Beklagte wegen des Ruhens des Anspruchs auf Alg infolge des
Eintritts einer zwölfwöchigen Sperrzeit vom 12.1.2012 bis 4.4.2012
die Minderung des Anspruchs auf Alg um 84 Tage verfügt und die
Bewilligung von Alg für diesen Zeitraum aufgehoben hat
(Bescheid vom 30.1.2012 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 20.2.2013 - Az W 312/12;
ursprüngliches SG-Verfahren S 8 AL 144/12; dazu 4.)
. Beide Bescheide greift der Kläger zutreffend (nur) mit einer
Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) an. Einer Leistungsklage - in
den Vorinstanzen hatte der Kläger noch Leistungsanträge gestellt -
bedurfte es im Hinblick auf die bindende Bewilligung von Alg für die
streitbefangenen Zeiträume nicht, weil Ansprüche aus dieser
Bewilligung bei Aufhebung der angefochtenen Bescheide ohne
Weiteres wieder aufleben.
11
2. Verfahrensmängel, die einer Sachentscheidung des Senats
entgegenstehen könnten, liegen nicht vor. Anders als die Beklagte
mit ihren Verfahrensrügen geltend macht, war das Berufungsgericht
weder falsch besetzt, noch fehlen dem Berufungsurteil den
gesetzlichen Anforderungen genügende Entscheidungsgründe.
12
Zwar wird vertreten, dass eine Entscheidung des LSG durch den
konsentierten Einzelrichter gemäß § 155 Abs 3, 4 SGG, wie sie hier
vorliegt, in aller Regel nicht nur dann ausgeschlossen ist, wenn
dieser selbst einer zu entscheidenden Rechtsfrage grundsätzliche
Bedeutung beimisst und deshalb die Revision zulässt; von einem
Ermessensfehlgebrauch soll auch auszugehen sein, wenn der
Vorsitzende oder Berichterstatter als Einzelrichter über eine Sache
befindet, die nach rein objektiver Betrachtung besondere rechtliche
Schwierigkeiten aufweist, weil sie nach den zu § 160 Abs 2 Nr 1
SGG entwickelten Kriterien eine bislang oberstgerichtlich noch nicht
hinreichend geklärte Rechtsfrage aufwirft
(so BSG vom 7.8.2014 - B 13 R 37/13 R - RdNr 15, mwN). Doch
setzt ein solcher Ermessensfehler voraus, dass es auf diese objektiv
vorliegende besondere Rechtsfrage nach Auffassung des
Berufungsgerichts auch ankommt. Nur dann kann tatsächlich von
besonderen Schwierigkeiten ausgegangen werden, die einer
Entscheidung durch den Einzelrichter entgegenstehen könnten
(vgl auch insoweit BSG vom 7.8.2014 - B 13 R 37/13 R - RdNr 14,
mwN).
13
Auf die besondere Rechtsfrage kommt es insbesondere dann nicht
an, wenn das Gericht die Entscheidung alternativ, aber für sich
ebenfalls tragend, auf eine Begründung stützt, die objektiv keine
grundsätzlich bedeutsamen Rechtsfragen aufwirft. So liegt der Fall
hier, denn das LSG hat seine Entscheidung in einem eigenen
Begründungsstrang darauf gestützt, dass die Voraussetzungen des
§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X nicht vorliegen würden. Dem
Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe ist zu
entnehmen, dass es diese Voraussetzungen für erforderlich
gehalten und die angefochtenen Bescheide schon aus diesem
Grund als rechtswidrig erachtet hat, sodass diese - weitere -
Begründung tragend für die Entscheidung ist. Weil aber die
Beurteilung der Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X
keine Rechtsfragen grundsätzlicher Art aufweist, kann die
Entscheidung durch den konsentierten Einzelrichter auch nicht als
ermessenfehlerhaft angesehen werden.
14
Entgegen der Auffassung der Beklagten fehlen dem Urteil des LSG
auch nicht die nach § 136 Abs 1 Nr 6 SGG erforderlichen
Entscheidungsgründe. Dies ist zwar nicht erst anzunehmen, wenn
das Urteil überhaupt keine Entscheidungsgründe enthält.
Andererseits fehlen Entscheidungsgründe nicht schon dann, wenn
die Ausführungen des Gerichts zu den rechtlichen Voraussetzungen
oder zum tatsächlichen Geschehen falsch, oberflächlich oder wenig
überzeugend sein sollten
(vgl etwa BSG vom 5.10.2010 - B 8 SO 62/10 B - RdNr 7; BSG vom
18.12.2012 - B 13 R 305/11 B - RdNr 7; Schütz in Schlegel/Voelzke,
jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 136 RdNr 49, mwN)
. Es reicht vielmehr aus, wenn mindestens die angewandten
Rechtsnormen genannt werden und angegeben ist, aus welchen
tatsächlichen und rechtlichen Gründen deren Tatbestandsmerkmale
vorliegen bzw nicht vorliegen. Diesen Anforderungen werden die
Entscheidungsgründe des LSG gerecht, denn sowohl die
tatsächlichen und rechtlichen Gründe für den Eintritt von Sperrzeiten
als auch für die Aufhebung der Leistungsbewilligung werden
genannt und erörtert.
15
3. In der Sache hat das LSG auf die Berufung des Klägers das Urteil
des SG Dresden vom 28.5.2015 zum Az S 8 AL 142/12
(Abweisung der Klage wegen der sechswöchigen Sperrzeit vom
1.12.2011 bis 11.1.2012)
bereits deshalb zu Unrecht aufgehoben, weil die Berufung gegen
dieses Urteil unzulässig war. Dieser Verfahrensfehler ist auch im
Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachten
(vgl nur BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - RdNr 9, mwN) und
das Berufungsurteil insoweit zu ändern.
16
Nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG bedarf die Berufung der
Zulassung im Urteil des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss
des LSG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands bei einer
Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf
gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt, und
die Berufung - wie hier - weder wiederkehrende noch laufende
Leistungen für mehr als ein Jahr zum Gegenstand hat
(§ 144 Abs 1 Satz 2 SGG). Vorliegend übersteigt der Wert des auf
die Geldleistung Alg gerichteten Beschwerdegegenstands 750 Euro
nicht, denn er beträgt lediglich 556,50 Euro.
17
Bei der Bestimmung des Wertes des Beschwerdegegenstands ist,
wie auch bezogen auf die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen,
auf den Zeitpunkt der Einlegung der Berufung abzustellen, spätere
Änderungen des Wertes sind unerheblich
(vgl nur Wehrhahn in Schlegel/ Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017,
§ 144 RdNr 23, mwN)
. Damit kann auch eine Verbindung einzelner Berufungsverfahren
mit einer sich daraus ergebenden Erhöhung des
Beschwerdegegenstands nicht zur Zulässigkeit der Berufung führen,
selbst wenn durch die Verbindung der Wert von 750 Euro
überschritten wird.
18
Hier hat sich die Berufung in dem Verfahren L 3 AL 199/15 zunächst
allein gegen das Urteil des SG gerichtet, durch das dieses die Klage
wegen der sechswöchigen Sperrzeit abgewiesen hat. Eine
Verbindung ist erst in der mündlichen Verhandlung durch das LSG
erfolgt. Der für die Beurteilung der Zulässigkeit maßgebende Wert
des Beschwerdegegenstands wird deshalb für das Verfahren L 3 AL
199/15 allein durch die Aufhebung der Bewilligung von Alg für sechs
Wochen wegen einer Sperrzeit bestimmt. Weder die Minderung der
Anspruchsdauer für den entsprechenden Zeitraum
(vgl Senatsurteil vom 4.4.2017 - B 11 AL 19/16 R - SozR 4-4300 §
144 Nr 25 RdNr 18)
noch der Wert des geltend gemachten Erstattungsanspruchs sind
hinzu zu addieren, denn der Kläger ist durch alle drei Regelungen
wirtschaftlich insgesamt (nur) mit einem Verlust des Anspruchs auf
Alg für sechs Wochen beschwert
(so Senatsurteil vom 4.4.2017 - B 11 AL 19/16 R - SozR 4-4300 §
144 Nr 25 RdNr 18; vgl auch BSG vom 31.1.2006 - B 11a AL 177/05
B - SozR 4-1500 § 144 Nr 3 juris RdNr 6 ff; Leitherer in Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 144 RdNr
15)
. Bei einem Leistungssatz von 13,25 Euro täglich errechnet sich für
einen Zeitraum von sechs Wochen ein Gegenstandswert von
556,50 Euro.
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Die somit zulassungsbedürftige Berufung haben weder das SG
noch das LSG zugelassen. Dass das SG den Kläger in seinem
Urteil unzutreffend dahingehend belehrt hat, die Berufung sei
statthaft, ist nicht als gleichsam konkludente Zulassung der
Berufung zu werten
(vgl nur BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - RdNr 17; BSG vom
6.10.2011 - B 9 SB 45/11 B - SozR 4-1500 § 144 Nr 7 RdNr 12)
. Ebenso wenig ist eine Zulassung der Berufung darin zu sehen,
dass das LSG in der Sache über sie befunden hat. Für eine
Zulassung des Rechtsmittels fehlt dem LSG im Berufungsverfahren
die Entscheidungsbefugnis
(BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - RdNr 17 mwN). Das LSG
darf über die Zulassung der Berufung nur auf eine
Nichtzulassungsbeschwerde hin durch Beschluss
(§ 145 Abs 4 Satz 1 SGG) entscheiden.
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4. Demgegenüber hat das LSG das die zwölfwöchige Sperrzeit vom
12.1.2012 bis 4.4.2012 bestätigende Urteil des SG Dresden vom
28.5.2015 (Az S 8 AL 144/12) sowie den Bescheid vom 30.1.2012 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.2.2013
(Az W 312/12) zu Recht aufgehoben, denn dieser Bescheid ist
rechtswidrig. Insoweit war die Berufung des Klägers
(ursprüngliches Verfahren L 3 AL 200/15) zulässig, weil sie einen
Leistungszeitraum von zwölf Wochen mit einem Wert des
Beschwerdegegenstands von 1113 Euro (84 x 13,25 Euro) betraf.
Der Bescheid ist zwar formell rechtmäßig. Insbesondere ist, wie das
LSG zutreffend erkannt hat, die zunächst unterbliebene, aber
erforderliche Anhörung durch das Widerspruchsverfahren
nachgeholt worden. Materiell-rechtlich verletzt er indes Bundesrecht
(§ 162 SGG).
21
Rechtsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung ist § 48 Abs 1
Satz 2 SGB X iVm § 330 Abs 3 Satz 1 SGB III soweit diese
Entscheidung rückwirkend erfolgt, was hier ausgehend von der
Bekanntgabe des Bescheids (3.2.2012) jedenfalls für den Zeitraum
vom 12.1.2012 bis 2.2.2012 der Fall ist, und im Übrigen § 48 Abs 1
Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, um
den es sich bei der Bewilligung von Alg handelt, mit Wirkung vom
Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse (also auch rückwirkend)
unter den Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X und für
die Zukunft ohne Weiteres aufzuheben, soweit in den tatsächlichen
oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorgelegen
haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine wesentliche
Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die
der Bewilligung von Alg an den Kläger ab dem 1.7.2011
(durch den Bescheid über die endgültige Festsetzung vom
12.9.2011)
zugrunde gelegen haben, ist hier aber ab dem 12.1.2012 nicht
eingetreten. Die Voraussetzungen einer (dritten) Sperrzeit von zwölf
Wochen ab dem 12.1.2012, die zum Ruhen und zur Minderung des
Anspruchs auf Alg geführt haben könnten, liegen nicht vor.
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§ 144 SGB III
(in der hier anwendbaren bis zum 31.3.2012 geltenden Fassung des
Gesetzes für bessere Beschäftigungschancen am Arbeitsmarkt vom
24.10.2010 - BGBl I 1427 - im Folgenden: aF)
, der im Wesentlichen § 159 SGB III
(in der ab dem seit 1.4.2012 geltenden Fassung des Gesetzes zur
Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom
20.12.2011 - BGBl I 2854)
entspricht, bestimmt in Abs 1 Satz 1, dass der Anspruch auf Alg für
die Dauer einer Sperrzeit ruht, wenn sich ein Arbeitnehmer
versicherungswidrig verhalten hat, ohne dafür einen wichtigen
Grund zu haben. Versicherungswidriges Verhalten liegt nach § 144
Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB III aF vor - nur dieser Tatbestand kommt hier
in Betracht -, wenn der Arbeitslose trotz Belehrung über die
Rechtsfolgen eine von der AA unter Benennung des Arbeitgebers
und der Art der Tätigkeit angebotene Beschäftigung nicht annimmt
oder nicht antritt oder die Anbahnung eines solchen
Beschäftigungsverhältnisses, insbesondere das Zustandekommen
eines Vorstellungsgesprächs, durch sein Verhalten verhindert
(Sperrzeit bei Arbeitsablehnung). Die Dauer der Sperrzeit bei
Arbeitsablehnung beträgt im Falle des erstmaligen
versicherungswidrigen Verhaltens dieser Art drei Wochen, im Falle
des zweiten versicherungswidrigen Verhaltens dieser Art sechs
Wochen und in den übrigen Fällen zwölf Wochen
(§ 144 Abs 4 Satz 1 SGB III aF).
23
Eine Sperrzeit bei Arbeitsablehnung setzt also zunächst ein
hinreichend benanntes, zumutbares Beschäftigungsangebot voraus,
versehen mit einer zutreffenden Rechtsfolgenbelehrung. Bei dem
Beschäftigungsangebot vom 30.11.2011, das der hier noch
umstrittenen dritten Sperrzeit zugrunde liegt, vermag der Senat zwar
mangels entsprechender Feststellungen des LSG nicht zu
beurteilen, ob dieses eine ausreichende Belehrung über die
Rechtsfolgen enthielt und die angebotene Beschäftigung dem
Kläger zumutbar war. Gleichwohl bedarf es keiner
Zurückverweisung an das LSG zur weiteren Sachaufklärung. Der
vom LSG festgestellte und für den Senat mangels Verfahrensrügen
bindende (§ 163 SGG) Sachverhalt rechtfertigt nämlich unabhängig
davon allenfalls eine einzige Sperrzeit von drei Wochen.
24
Bei mehreren Beschäftigungsangeboten, die in einem so engen
zeitlichen Zusammenhang durch die AA ergehen, dass sie der
arbeitslosen Person gleichzeitig vorliegen und diese hierauf zu
reagieren hat, ist von einem einheitlich zu betrachtenden
Lebenssachverhalt auszugehen. Reagiert der Arbeitslose in einer
solchen Situation gar nicht, muss auch dies nach allgemeiner
Lebensanschauung als eine einheitliche Verhaltensweise gewertet
werden. Infolgedessen kann auch nur eine Sperrzeit verwirklicht
werden, wenn dieses Verhalten als versicherungswidrig zu
beurteilen ist. Ein solches versicherungswidriges Verhalten darf nicht
mehrfach sanktioniert werden.
25
Diese einheitliche Betrachtungsweise ist geboten, weil dem
Arbeitslosen in Fällen mehrerer ihm vorliegender Arbeitsangebote
eine Gesamtwürdigung und -abwägung abverlangt wird. Er muss die
verschiedenen Angebote prüfen - etwa im Hinblick auf Pendelzeiten,
einen notwendigen Umzug oder die Verdienstmöglichkeiten - und
dann entscheiden, in welcher Form er mit dem Arbeitgeber Kontakt
aufnimmt und ob darüber hinaus Weiteres zu veranlassen ist. Denn
letztlich wird er stets nur eines der Angebote annehmen können
(vgl Voelzke in Spellbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des
Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 12 RdNr 311; ähnlich auch Coseriu
in Eicher/Schlegel, SGB III, § 159 RdNr 323 f, Stand August 2016,
der dazu neigt, schon von nur einem einzigen
Beschäftigungsangebot auszugehen)
, sodass er für sich eine Priorisierung vorzunehmen hat. Das
Erfordernis einer Würdigung und Abwägung bedeutet zudem, dass
selbst wenn die Beschäftigungsangebote eine unverzügliche
Bewerbung verlangen sollten, dem Empfänger noch eine gewisse
Prüf- und Bedenkzeit einzuräumen ist. Etwas anderes kann nur
dann gelten, wenn mehrere Arbeitsangebote in solchen zeitlichen
Abständen unterbreitet wurden, dass eine Bewerbung auf frühere
Angebote bereits hätte erfolgen müssen. Dann ist diese
unterlassene Bewerbung bereits als versicherungswidriges
Verhalten zu werten. Wann genau jeweils eine Bewerbung zu
erfolgen hat, ist allerdings einer schematischen Beurteilung nicht
zugänglich, sondern hat im Einzelfall unter Berücksichtigung ua des
konkreten Arbeitsangebots und eventueller Besonderheiten des in
Betracht kommenden Arbeitsmarktes zu erfolgen
(anders Coseriu in Eicher/Schlegel, SGB III, § 159 RdNr 514, Stand
August 2016
, der im Regelfall eine Reaktionszeit von einer Woche zubilligen will).
26
Hier sind dem Kläger die beiden ersten Beschäftigungsangebote
gleichzeitig am 29.11.2011 persönlich überreicht und das dritte am
nächsten Tag per Post unterbreitet worden. Dieses dem Kläger per
Post übersandte Angebot ist ihm zwar erst einige Tage nach den
ersten beiden Angeboten zugegangen, auf die er sich nach den
Feststellungen des LSG "unverzüglich" hätte bewerben sollen. Doch
war ihm bezogen auf diese Angebote schon deshalb eine etwas
längere Prüf- und Bedenkzeit einzuräumen, weil die angebotenen
Arbeitsstellen außerhalb seines zumutbaren Pendelbereichs lagen
und deshalb einen Umzug erfordert hätten. Unter diesen
besonderen Umständen war diese Prüf- und Bedenkzeit des
Klägers noch nicht abgelaufen, als er das weitere Arbeitsangebot
vom 30.11.2011 erhalten hat. Wenn er sich dann, wie vom LSG
festgestellt, bis zum 16.1.2012 auf keines dieser drei Angebote
bewirbt, ist dies allenfalls als ein einziger Fall versicherungswidrigen
Verhaltens zu beurteilen.
27
Zwar erscheint es nicht ausgeschlossen, bei besonderen
Umständen im Einzelfall andere zeitliche und inhaltliche
Festlegungen im Rahmen der Arbeitsvermittlung in Bezug auf die
geforderten Bewerbungen gegenüber der arbeitslosen Person zu
treffen. Denn die Einführung der differenzierteren Regelungen zur
Sperrzeit bei Arbeitsablehnung durch das Erste Gesetz für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002 (BGBl I 4607)
sind ua mit dem neuen individualisierten Vermittlungskonzept
begründet worden
(vgl BT-Drucks 15/25, S 31; dazu Voelzke in Spellbrink/Eicher,
Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 12 RdNr
391a ff)
, sodass ein gewisser Spielraum im Rahmen der Arbeitsvermittlung
besteht. Doch ist zu beachten, dass eine Vielzahl von
Beschäftigungsangeboten, die innerhalb kurzer Zeiträume
übermittelt werden, das Risiko, Sperrzeittatbestände bei
Arbeitsablehnung zu verwirklichen, in einer Weise erhöht, dass
solche einer besonderen Rechtfertigung bedürfen. Ziel der Sperrzeit
auch bei Arbeitsablehnung ist es (nur), typische
Obliegenheitsverletzungen gegenüber der
Versichertengemeinschaft zu verhindern
(vgl dazu Coseriu in Eicher/Schlegel, SGB III, § 159 RdNr 274,
Stand September 2013; Winkler in Gagel, SGB II/SGB III, § 159 SGB
III RdNr 40 ff, Stand März 2015)
. Der verfassungsrechtlich geforderten Verhältnismäßigkeit der
Regelung und der Einhaltung des Übermaßverbots
(vgl BSG vom 9.2.1995 - 7 RAr 34/94 - BSGE 76, 12 = SozR 3-4100
§ 119a Nr 2, juris RdNr 20; ausführlich dazu Valgolio in Hauck/Noftz,
SGB III, K § 159 RdNr 34 ff)
ist Rechnung zu tragen. Anhaltspunkte dafür, dass die hier innerhalb
einer kurzen Zeitspanne übermittelten verschiedenen
Beschäftigungsangebote auf einem solchen individualisierten und
sachlich gerechtfertigtem Vermittlungskonzept beruhen könnten -
festgelegt etwa in einer Eingliederungsvereinbarung
(§ 37 Abs 2 SGB III) und unter Berücksichtigung der
Potenzialanalyse gemäß § 37 Abs 1 SGB III - sind indes nicht
ersichtlich.
28
Ein vor diesem Hintergrund hier allenfalls anzunehmendes
einmaliges versicherungswidrige Verhalten des Klägers, durch
welches das Zustandekommen von Vorstellungsgesprächen bzw
die Anbahnung eines Beschäftigungsverhältnisses iS von § 144 Abs
1 Satz 2 Nr 2 SGB III aF verhindert wurde, ist bereits bindend - sogar
zweifach - sperrzeitrechtlich sanktioniert worden. Die
Voraussetzungen für eine weitere Sperrzeit für die Zeit vom
12.1.2012 bis 4.4.2012 liegen deshalb nicht vor. Damit sind auch
eine Aufhebung der Bewilligung von Alg vom 12.1.2012 bis 4.4.2012
und eine (weitere) Minderung um 84 Tage nicht gerechtfertigt.
29
Auf die von der Revision problematisierte Frage, ob die
Rechtmäßigkeit der Feststellung einer zweiten oder dritten Sperrzeit
voraussetzt, dass zuvor ein Bescheid über die Feststellung der
vorausgegangenen Sperrzeit ergangen ist, kommt es vor diesem
Hintergrund nicht an. Ohne Bedeutung ist zudem schon mangels
einer rechtserheblichen Änderung der Verhältnisse als
Voraussetzung einer Leistungsaufhebung, ob die besonderen
Voraussetzungen für eine Aufhebung für die Vergangenheit
vorgelegen haben.
30
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt,
dass die Revision nur zu einem Teil erfolgreich war.