Urteil des BSG vom 15.07.2004

BSG: genfer abkommen, verbrechen gegen die menschlichkeit, armee, baltische staaten, innerstaatliches recht, kriegsgefangener, udssr, einberufung, freilassung, sowjetunion

Bundessozialgericht
Urteil vom 15.07.2004
Sozialgericht Stuttgart S 13 V 187/99
Landessozialgericht Baden-Württemberg L 8 V 527/01
Bundessozialgericht B 9 V 11/02 R
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. August 2002 wird
zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander in sämtlichen Rechtszügen keine Kosten zu erstatten.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger wegen gesundheitlicher Folgen eines 1946 erlittenen Unfalls Anspruch
auf Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) hat.
Der Kläger wurde am 1. September 1926 in Lettland geboren und lebt auch jetzt dort. Seinen Angaben zufolge wurde
er im Mai 1942 aus seiner Heimat als Zwangsarbeiter nach Deutschland gebracht und dann am 9. Januar 1945 zur 15.
Waffen-Grenadierdivision der SS (lett. Nr 1) einberufen. In der Nacht vom 4. auf den 5. April 1945 sei er von
russischen Soldaten gefangen genommen und am 9. April 1945 als Lette in die Sowjetarmee eingezogen worden. Am
16. September 1945 habe man ihn ohne Anklageschrift, Gericht und Untersuchung als deutschen Kriegsgefangenen in
das (Filtrations-)Lager des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten der UdSSR (NKWD) Nr 258 geworfen. Dort
habe er am 10. April 1946 schwerste Unfallverletzungen erlitten, als deren Folge ihm der linke Arm habe amputiert
werden müssen. Am 21. Juni 1946 sei er aus dem Lager entlassen worden.
Den Antrag des Klägers vom 1. November 1990 auf Beschädigtenversorgung lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom
2. Januar 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 1995). Zur Begründung wurde ausgeführt:
Am Unfalltag sei der Kläger versorgungsrechtlich nicht geschützt gewesen, weil ein militärischer Dienst im Rahmen
der Wehrmacht und eine daran anschließende Kriegsgefangenschaft mit dem Eintritt in die sowjetische Armee
geendet hätten. Der Aufenthalt im Filtrationslager sei nicht erneut Kriegsgefangenschaft iS des BVG gewesen.
Das vom Kläger angerufene Sozialgericht Stuttgart (SG) hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab November 1990
Versorgung im Rahmen der Auslandsversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 80 vH zu gewähren.
Sein Urteil vom 30. November 2000 ist im Wesentlichen auf die Erwägung gestützt: Die im Filtrationslager verbrachte
Haftzeit sei als Kriegsgefangenschaft anzusehen, weil der Kläger als Soldat einer deutschen Einheit gefangen
genommen worden sei und nur zwangsweise bis zur Einlieferung in das Lager in der sowjetischen Armee gedient
habe. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) diese Entscheidung
aufgehoben und die Klage mit folgender Begründung abgewiesen (Urteil vom 30. August 2002): Eine etwaige
Kriegsgefangenschaft habe jedenfalls am 9. April 1945 mit der Einberufung des Klägers zur Roten Armee geendet. Ab
16. September 1945 sei der Kläger nicht - erneut - Kriegsgefangener geworden, weil ihn die Anordnung der Lagerhaft
nicht als deutschen, einer Krieg führenden feindlichen Macht angehörenden Soldaten getroffen habe, sondern als
Soldaten der sowjetischen Armee und russischen Staatsangehörigen.
Mit der dagegen eingelegten Revision macht der Kläger geltend: Das LSG habe § 1 Abs 2 Buchst b BVG verletzt.
Seine einmal begründete Kriegsgefangenschaft sei weder durch den Dienst in der russischen Armee noch durch die
anschließende Lagerhaft beendet worden. Er sei vielmehr entsprechend seinem Status als Kriegsgefangener ins
Filtrationslager abgeschoben worden, nachdem er für die Sowjetarmee nicht mehr habe nützlich sein können. Im
Unterschied zu der vom LSG für seine Auffassung in Anspruch genommenen Entscheidung des Bundessozialgerichts
(BSG) vom 19. September 2000 - B 9 V 67/00 R - (BSG SozR 3-3100 § 1 Nr 22) sei hier der Kausalzusammenhang
zwischen Dienst im Rahmen der deutschen Wehrmacht und sowjetischer Lagerhaft nicht durch den
zwischenzeitlichen - im entschiedenen Fall mehr als ein Jahr dauernden - Status als Zivilist unterbrochen worden.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 30. August 2002 aufzuheben und die
Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 30. November 2000 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG)) einverstanden erklärt.
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Nach § 1 Abs 1 BVG erhält ua Versorgung, wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung eine
gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Einer Schädigung in diesem Sinne steht eine Schädigung gleich, die durch
Kriegsgefangenschaft herbeigeführt worden ist (§ 1 Abs 2 Buchst b BVG). Der Beklagte und das LSG haben diese
Voraussetzungen zu Recht verneint. Der Kläger ist am Unfalltag, am 10. April 1946, insbesondere nicht
Kriegsgefangener iS des BVG gewesen.
Das ergibt sich allerdings nicht schon daraus, dass auf ihn als Ausländer und ehemaligen Angehörigen eines
lettischen SS-Verbandes das BVG nicht anwendbar wäre. Der Senat hat bereits entschieden, dass
kriegsbeschädigten ausländischen Angehörigen der Waffen-SS unter den gleichen Voraussetzungen wie ehemaligen
deutschen Angehörigen der Waffen-SS Versorgung nach dem BVG zu gewähren ist (vgl BSGE 83, 171, 173 = SozR
3-3100 § 7 Nr 5); allerdings mit den Beschränkungen nach § 8 Satz 1 BVG ("Kannversorgung") und der gegenüber §
1a BVG weitergefassten Versagungsmöglichkeit nach § 64 Abs 1 Satz 2 BVG (vgl dazu BSG SozR 3-3100 § 7 Nr 7).
Zweifelhaft ist aber bereits, ob der Kläger als Soldat "im Rahmen der deutschen Wehrmacht" (§ 7 Abs 1 Nr 3 BVG) in
sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten ist. Einzelheiten der behaupteten Gefangennahme am 4./5. April 1945 und
der Ereignisse der darauf folgenden Tage hat das LSG nicht festgestellt. Ein genaues Bild wäre jedoch ggf im Hinblick
darauf erforderlich, dass der Kläger schon am 9. April 1945 zur sowjetischen Armee eingezogen worden ist und
anschließend nahezu ein halbes Jahr lang als Rotarmist Dienst geleistet hat. Denn es stellte einen ungewöhnlichen
Vorgang dar, wenn ein kriegsgefangener Angehöriger einer feindlichen Streitmacht vom Gewahrsamsstaat nahezu
umgehend und dann auch noch zwangsweise in die eigene Armee aufgenommen worden wäre.
Selbst wenn der Kläger als Angehöriger einer lettischen SS-Einheit gefangen genommen worden sein sollte, kann
nicht davon ausgegangen werden, dass diese Kriegsgefangenschaft über den Tag der Einberufung zur Roten Armee
hinaus angedauert hat. Ebenso wenig lässt sich die an den sowjetischen Militärdienst anschließende Haftzeit im
Filtrationslager des NKWD Nr 258 vom 16. September 1945 bis zur Entlassung am 21. Juni 1946 als - erneute -
Kriegsgefangenschaft qualifizieren.
Der versorgungsrechtliche Begriff der Kriegsgefangenschaft gründet auf dem des Völkerrechts (BSGE 3, 268, 269;
30, 115, 118 = SozR Nr 8 zu § 7 BVG; BSG, Urteile vom 14. März 1967 - 10 RV 909/65 -, BVBl 1968, 27, und 8.
September 1970 - 9 RV 130/68 - KOV 1972, 15; Dahm in Rohr/Strässer, BVG mit Verfahrensrecht, Stand Mai 2001, §
1 BVG Anm 19; ebenso für das Rentenversicherungsrecht BSG SozR 3-2200 § 1251 Nr 3 mwN). Dabei ist
anzunehmen, dass der Gesetzgeber des BVG seinen Vorstellungen bereits das III. Genfer Abkommen vom 12.
August 1949 über die Behandlung von Kriegsgefangenen (KgfAbk; BGBl II 1954, 838) zu Grunde gelegt hat (vgl
BVerwGE 5, 186, 188; BSG SozR 3-2200 § 1251 Nr 3 S 14), welches das Genfer Abkommen vom 27. Juli 1929
(RGBl II 1934, 227) ersetzt hat. Danach ist Kriegsgefangener, wer wegen seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen
oder militärähnlichen Verband gefangen genommen worden ist und von einer feindlichen (ausländischen) Macht
festgehalten wird (vgl zB BSG SozR 2200 § 1251 Nr 117 mwN). Auch eigene Staatsangehörige können
Kriegsgefangene der Gewahrsamsmacht sein; entscheidend ist, dass sie den feindlichen Streitkräften angehören (vgl
BSG SozR Nr 4 zu § 2 UBG; BSGE 65, 81, 82 = SozR 2200 § 1251 Nr 131; BSG SozR 3-2200 § 1251 Nr 3).
Die Kriegsgefangenschaft endet grundsätzlich durch Freilassung und Heimschaffung (vgl Art 118 KgfAbk). Nach Art
85 KgfAbk bleiben Kriegsgefangene, die auf Grund von Rechtsvorschriften des Gewahrsamsstaates für Handlungen,
die sie vor ihrer Gefangennahme begangen haben, verfolgt werden, auch dann im Genuss der im Abk vorgesehenen
Vergünstigungen, wenn sie verurteilt werden. Gegen diese Bestimmung hat die Sowjetunion bei Unterzeichnung des
Abkommens allerdings einen Vorbehalt gemacht, soweit es sich um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit handelt (BGBl II 1954, 1003). Ferner stellt es eine schwere Verletzung des KgfAbk dar, wenn ein
Kriegsgefangener zur Dienstleistung in den Streitkräften der feindlichen Macht genötigt wird (vgl Art 130 KgfAbk);
dadurch wird die Kriegsgefangenschaft mithin nicht beendet (vgl BVerwG DÖV 1961, 236).
Da eigene Staatsangehörige der Gewahrsamsmacht grundsätzlich nicht heimzuschaffen sind (zu Besonderheiten bei
Volksdeutschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit vgl BVerwG Buchholz 412.4 § 2 KgfEG Nr 41), kann ihre
Kriegsgefangenschaft durch bloße Freilassung enden. Dann kann der Gewahrsamsstaat den betreffenden
Staatsangehörigen wie jeden anderen Staatsbürger nach innerstaatlichem Recht in die Pflicht nehmen, also zB auch
als Wehrpflichtigen in die eigene Armee einberufen (vgl BVerwG DÖV 1958, 473). Da dies zeitgleich mit der (ggf
formlos möglichen) Freilassung geschehen kann, braucht der Senat hier nicht allgemein darüber zu entscheiden, ob
die Gewahrsamsmacht berechtigt ist, auf gefangene eigene Staatsangehörige einschränkungslos innerstaatliches
Recht anzuwenden (vgl dazu BSGE 30, 115, 119 = SozR Nr 8 zu § 7 BVG; BSG SozR 2200 § 1251 Nr 117 mwN).
Das BSG hat diese völkerrechtlichen Grundsätze für die Kriegsopferversorgung und die gesetzliche
Rentenversicherung im Hinblick auf Sinn und Zweck der einschlägigen deutschen Leistungsgesetze dahingehend
modifiziert, dass ein Wechsel des Gewahrsamsgrundes bei Kriegsgefangenen nur dann unbeachtlich ist, wenn ein
innerer Zusammenhang mit dem Wehrdienst erhalten bleibt (vgl BSGE 65, 81, 83 = SozR 2200 § 1251 Nr 131; BSG
SozR 3-2200 § 1251 Nr 3).
Danach endete die Kriegsgefangenschaft des Klägers mit seinem Eintritt in die Rote Armee, auch wenn er - wie vom
LSG unterstellt - zwangsweise eingezogen worden ist und damit von der Gewahrsamsmacht Sowjetunion im Grunde
weiter festgehalten worden sein mag. Denn diese Maßnahme beruhte darauf, dass der Kläger nach sowjetischer
Rechtsauffassung Staatsangehöriger der Sowjetunion und als solcher wehrpflichtig war. Der innere Zusammenhang
zwischen "Gewahrsam" und Dienst in der Waffen-SS wurde mit der Einberufung gelöst, weil der Kläger insoweit wie
alle anderen wehrfähigen Letten behandelt worden ist. Seine Einberufung in die Rote Armee ging also praktisch mit
einer Freilassung aus der Kriegsgefangenschaft einher.
Allerdings bestehen gegen die damalige sowjetische Rechtsauffassung zur Staatsangehörigkeit der Letten
völkerrechtliche Bedenken. Die Annexion der baltischen Staaten im Sommer 1940 (vgl Baade in Strupp/Schlochauer,
Wörterbuch des Völkerrechts, Bd 1, 1960, "Baltische Staaten", 143, 147 f; Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl 1990, 266)
dürfte - jedenfalls aus heutiger Sicht - völkerrechtswidrig gewesen sein; damit könnte dem Dekret des Präsidiums des
Obersten Sowjets der UdSSR vom 7. September 1940 über den Erwerb der Staatsbürgerschaft der UdSSR durch die
Staatsangehörigen der litauischen, lettischen, und estnischen Sowjetrepubliken (vgl Geilke, Das
Staatsangehörigkeitsrecht der Sowjetunion, 1964, 90, 334; Meder, Das Staatsangehörigkeitsrecht der UdSSR und der
baltischen Staaten, 1950, 60 f) die Grundlage gefehlt haben (vgl Meißner in Hecker, Praktische Fragen des
Staatsangehörigkeits-Rechts, 1957, S 184 ff; Schulze in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht,
Stand 2002, "Lettland", 20). Demgegenüber ist zu bedenken, dass die Annexion bis Anfang 1990 von verschiedenen
Staaten "de facto" oder sogar " de jure" anerkannt war (vgl Makarov, Allgemeine Lehren des
Staatsangehörigkeitsrechts, 2. Aufl 1962,180 f; Baade, aaO, 149; Geilke, aaO, 341). Unter diesen Umständen stellt
sich die Einberufung des Klägers in die Rote Armee nicht als völkerrechtswidriger Willkürakt dar, der nicht geeignet
gewesen wäre, die Kriegsgefangenschaft zu beenden.
Durch Einweisung in das NKWD-Lager im September 1945 ist der Kläger nicht erneut in Kriegsgefangenschaft
geraten. Die Überstellung in das Filtrationslager diente nicht - wie bei Kriegsgefangenen - einer Schwächung der
Kampfkraft des längst besiegten Feindes, sondern hatte strafrechtliche bzw politische Gründe (wie der
Kriegsgefangenschaft ausschließende "automatische Arrest" im westlichen Nachkriegsdeutschland, vgl dazu BSG
SozR Nr 47 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nr 69, 75, 82, 85): Sie entsprach dem offenbar zum Teil auch heute
noch in Rußland üblichen Verfahren, einer Straftat (hier etwa: Kriegsverbrechen) verdächtige Personen in Lager
einzuweisen und dort bis zur Klärung der Verdachtsmomente festzuhalten (vgl VG Karlsruhe, Urteil vom 10. März
2004 - A 11 K 12230/03 - JURIS - zur Einrichtung von Filtrationslagern und - punkten, um unter Flüchtlingen
tschetschenische Terroristen aufzuspüren). Dieser Zielrichtung entsprechend unterstand das Filtrationslager nicht der
Militärverwaltung, sondern dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR. Unerheblich ist es
insoweit, dass sich die Untersuchung auf die frühere Tätigkeit des Klägers in der Waffen-SS bezog (vgl dazu BSG
SozR 3-3100 § 1 Nr 22).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.