Urteil des BSG vom 04.05.1999

BSG (kläger, gesetzlicher vertreter, tätigkeit, sachlicher zusammenhang, sgg, berufliche tätigkeit, grund, erkrankung, 1995, versicherter)

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 18.11.2008, B 2 U 14/07 R
Gesetzliche Unfallversicherung - Berufskrankheit - arbeitstechnische Voraussetzung -
bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule - Deutsche
Wirbelsäulenstudie - Mainz-Dortmunder-Dosismodell - Modifikation -
Gesamtbelastungsdosis ab 12,5MNh - kein Mindesttagesdosiswert - Mindestdruckkraft
pro Arbeitsvorgang - Unterschreiten der Orientierungswerte
Tatbestand
1 Umstritten ist die Feststellung einer Berufskrankheit (BK) und die Zahlung einer
Verletztenrente.
2 Der im Jahre 1943 geborene Kläger ist von Beruf Kfz-Meister. Er war in diesem Beruf seit
1966 selbstständig tätig, hauptsächlich befasste er sich mit dem Verkauf, der Kfz-
Instandhaltung, einem Abschleppdienst und bis 1992 mit einem Tankstellenbetrieb. In der
Werkstatt seien Getriebe von erheblichem Gewicht von Hand ein- und ausgebaut worden.
Saisonbedingt habe er Reifen von zum Teil mehr als 25 kg an ca 15 Fahrzeugen täglich
gewechselt. Am 30.4.1995 übergab der Kläger die Firma an seine Tochter. Er bezog ab Mai
1995 eine Berufsunfähigkeitsrente sowie ab Dezember 1997 Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit.
3 Der Kläger beantragte am 30.1.1995 bei der beklagten Berufsgenossenschaft für Handel und
Warendistribution die Anerkennung einer BK wegen Bandscheibenerkrankung der
Lendenwirbelsäule (LWS). Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten erachtete in
einer Stellungnahme die berufliche Belastung des Klägers als geeignet, eine
bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS zu verursachen. Nach Einholung mehrerer
medizinischer Stellungnahmen und Gutachten lehnte die Beklagte die Anerkennung und
Entschädigung der Krankheit des Klägers als BK nach Nr 2108 der Anlage zur
Berufskrankheiten-Verordnung (BKV; im Folgenden: BK 2108) ab (Bescheid vom 26.6.1996;
Widerspruchsbescheid vom 23.12.1996). Nach den fachärztlichen Gutachten entspreche der
Verschleiß im Bereich der LWS dem Alter des Klägers. Auch zeigten sich
altersentsprechende Veränderungen im Bereich der unteren Hals- und ausgeprägter im
Bereich der Brustwirbelsäule. Ein Zusammenhang der Beschwerden des Klägers an der LWS
mit dessen beruflicher Tätigkeit könne nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit
festgestellt werden.
4 Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat die Beklagte nach Durchführung weiterer medizinischer
Ermittlungen verurteilt, das Bandscheibenleiden der LWS als BK 2108 anzuerkennen und
dem Kläger ab 1.6.1995 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um
20 vH zu zahlen (Urteil vom 4.5.1999 - S 6 U 18/97). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf
die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen ( Urteil
vom 5.12.2006 - L 17 U 245/99) . Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der
Kläger habe zwar eine beruflich belastende Tätigkeit im Kfz-Gewerbe ausgeübt. Ob die
medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen einer BK 2108 erfüllt seien, könne
dahingestellt bleiben, denn jedenfalls seien beim Kläger die arbeitstechnischen
Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2108 nicht erfüllt. Ausgehend von den
Beurteilungen des Dipl.-Ing. R. (R) vom 31.8.2003, 28.7.2004, 1.8.2005, 3.4.2006 und
30.10.2006 seien die nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) zu fordernden
beruflichen Einwirkungen iS der BK 2108 nicht gegeben. Nach diesem Modell errechne sich
für den Kläger eine Gesamtdosis im Beurteilungszeitraum von 15,9 MNh. Weil damit der
Richtwert von 25 MNh nach dem MDD deutlich unterschritten sei, sei ein erhöhtes Risiko für
eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS nicht anzunehmen. Die Berechnungen der
anderen arbeitstechnischen Sachverständigen seien mit den Grundsätzen des MDD
einerseits und den tatsächlichen Verhältnissen andererseits nicht in Einklang zu bringen.
5 Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, in einem
Revisionsverfahren sei nicht der Hauptgeschäftsführer, sondern der Vorstand gesetzlicher
Vertreter der Beklagten (unter Hinweis auf §§ 35, 36 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
) . Das Urteil des LSG verletze den Grundsatz eines fairen Verfahrens (Art 6 der
Europäischen Menschenrechtskonvention ) , weil das Verfahren vor dem LSG eine
nicht mehr akzeptable Dauer beansprucht habe. Auf Grund der überlangen Dauer des
Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens sei es geboten, dass das Bundessozialgericht (BSG)
durchentscheide, indem es das Urteil des SG wiederherstelle, ohne die Sache an das LSG
zurückzuverweisen. Trotz der langen Verfahrensdauer habe das LSG kein unabhängiges
arbeitstechnisches Sachverständigengutachten eingeholt. Das Urteil dürfe nicht auf das MDD
gestützt werden, bei dem es sich um ein unter Federführung des Verbandes der
Berufsgenossenschaften, also eines Beklagtenverbandes, erstelltes kartellartiges Regelwerk
handele. Art 6 EMRK sei auch dadurch verletzt, dass das LSG ein solches Regelwerk zur
Voraussetzung der Entschädigung mache. Die Anwendung des MDD sei auf Grund des
neuen Merkblatts zur BK Nr 2108 rechtswidrig, weil die durch das Merkblatt verursachte
weitgehende Einschränkung der Voraussetzungen für die Feststellung einer BK 2108 dem
Normgeber selbst vorbehalten sei. Das LSG habe sein Urteil nicht auf die Expertise des
"Parteibeamten der Beklagten" Dipl.-Ing. R. stützen dürfen. In einem Gerichtsverfahren sei es
unzulässig, dass das Gutachten eines Beamten der Beklagten den Ausschlag gebe. Denke
man das MDD hinweg, bewende es bei der zutreffenden Feststellung der Beklagten vom
24.1.1996, wonach im Falle des Klägers die arbeitstechnischen Voraussetzungen gegeben
seien.
6 Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 5.12.2006 aufzuheben und die
Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 4. Mai 1999
zurückzuweisen.
7 Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts aufzuheben und den Rechtsstreit zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuweisen.
8 Die Beklagte führt aus, sie werde durch den Geschäftsführer - auch - im gerichtlichen
Verfahren vertreten (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 13.10.1993 - 2 RU 53/92) . Dies gelte
auch, wenn die zu entscheidende Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung habe. Der vom
Kläger gerügte Mangel der überlangen Verfahrensdauer könne im Revisionsverfahren nicht
behoben werden, die Rüge führe nicht zu einem anderen Ergebnis in der Sache. Soweit der
Kläger die Beurteilung der arbeitstechnischen Voraussetzungen nach Maßgabe des MDD
rüge, habe sich das BSG bereits mehrfach mit dem MDD auseinandergesetzt. Das MDD sei
zumindest derzeit ein geeignetes Modell zur Beschreibung der versicherten Einwirkung iS der
BK 2108. Da das LSG die Orientierungswerte des MDD nicht nach der Maßgabe der
Entscheidung des BSG vom 30.10.2007 angewendet habe, fehle es jedoch an hinreichenden
Feststellungen, um das Vorliegen einer BK 2108 feststellen zu können, insbesondere seien
weitere medizinische Ermittlungen geboten.
Entscheidungsgründe
9 Die Revision des Klägers ist zulässig.
10 Das BSG war nicht etwa deshalb gehindert, über die Revision zu verhandeln und zu
entscheiden, weil die selbst nicht prozessfähige Revisionsbeklagte nicht ordnungsgemäß
vertreten gewesen wäre. Der Kläger hat insoweit gerügt, gesetzlicher Vertreter der Beklagten
sei "im Grundsatzfall" nicht der Geschäftsführer der Beklagten, sondern deren Vorstand. Die
Beklagte war jedoch ordnungsgemäß vertreten (§ 73 Abs 3 Satz 1 und 3
Sozialgerichtsgesetz ) .
11 Zwar ist die gerichtliche Vertretung des Versicherungsträgers nach § 35 Abs 1 Satz 1 SGB
IV seinem Vorstand zugewiesen, dies aber nur, soweit ua das Gesetz nichts Abweichendes
bestimmt. Dies ist in § 36 Abs 1 SGB IV insoweit geschehen, als dem Geschäftsführer, also
einem anderen Organ des Trägers, die gerichtliche Vertretung in laufenden
Verwaltungsgeschäften zugewiesen ist. Grundsätzlich und faktisch in aller Regel fällt auch
die gerichtliche Vertretung des Unfallversicherungsträgers vor dem BSG jedenfalls in
Streitigkeiten aus einem behaupteten Leistungsrechtsverhältnis (Versicherteneigenschaft,
Versicherungsfall, Ansprüche auf Versicherungsleistungen etc) in die Organzuständigkeit
des Geschäftsführers, weil es sich dabei nahezu stets um Geschäfte der laufenden
Verwaltung handelt. Hingegen steht der Rechtsbegriff der grundsätzlichen Bedeutung der
Rechtssache (§ 160 Abs 1 Nr 1 SGG) im Sinne des gerichtlichen Prozessrechts in keinem
sachlichen Zusammenhang mit dem in § 36 Abs 1 SGB IV verwendeten
verwaltungsorganisationsrechtlichen Begriff der laufenden Geschäfte eines
Versicherungsträgers. Das zeigt sich auch daran, dass die Entscheidung des BSG über die
Revision nur den Einzelfall betrifft und nur die Beteiligten bindet (§ 141 Abs 1 SGG) , die
Verwaltung im Einzelfall aber zum täglichen Geschäft des Versicherungsträgers gehört.
12 Ferner war das zur gerichtlichen Vertretung der Beklagten vor dem BSG zuständige Organ
der Beklagten, der Geschäftsführer, durch den dazu berufenen und prozessfähigen
Organwalter Dr. H. vertreten. Dieser hat sich durch einen von ihm bevollmächtigten und bei
der Beklagten beschäftigten Volljuristen vertreten lassen, der sich durch eine entsprechende
Vollmachtsurkunde des Geschäftsführers legitimiert hat.
13 1. Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil des LSG
aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG
zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), da die vom LSG festgestellten Tatsachen
für eine abschließende Entscheidung durch den Senat nicht ausreichen.
14 Gegenstand der Revision ist die vom Kläger erstrebte Zurückweisung der Berufung der
Beklagten gegen das Urteil des SG, durch das sie zur Anerkennung der BK 2108 und zur
Zahlung einer Verletztenrente verurteilt worden ist. Die erhobenen Klagen sind als
Anfechtungsklage, gegen die ablehnenden Entscheidungen im Bescheid vom 26.6.1996 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.12.1996, verbunden mit der auf Feststellung
einer BK gerichteten Feststellungsklage und der auf die Verurteilung zu der abgelehnten
Rentenzahlung gerichteten unechten Leistungsklage zulässig.
15 Die erhobenen Ansprüche beurteilen sich nach den Vorschriften der
Reichsversicherungsordnung (RVO), weil die von dem Kläger im Januar 1995 geltend
gemachte BK spätestens vor diesem Zeitpunkt und damit vor Inkrafttreten des Siebten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1.1.1997 aufgetreten sein soll (Art 36 des
Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes, § 212 SGB VII) . Das Begehren des Klägers
kann danach nur Erfolg haben, wenn er als Versicherter einen Versicherungsfall erlitten hat.
16 a) Ob ein Versicherungsfall eingetreten ist, den die Beklagte gegenüber dem Kläger
festzustellen hat und auf Grund dessen dem Kläger Ansprüche gegen die Beklagte zustehen
könnten, kann der Senat mangels ausreichender Feststellungen des LSG nicht beurteilen.
17 Als Versicherungsfall macht der Kläger eine Berufskrankheit geltend. Nach § 551 Abs 1 Satz
1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch eine Berufskrankheit. Das sind Krankheiten, welche die
Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats bezeichnet hat
(aa) und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO
genannten Tätigkeiten (bb) erleidet (§ 551 Abs 1 Satz 2 RVO; jetzt § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII)
.
18 aa) Der Kläger macht eine in der Anlage zur BKV bezeichnete BK geltend.
19 Die Bundesregierung ist ermächtigt, in einer Rechtsverordnung solche Krankheiten als
Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen
Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht worden sind, denen bestimmte
Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung
ausgesetzt sind (§ 551 Abs 1 Satz 3 RVO; jetzt § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII; sog Listenprinzip) .
Von der Ermächtigung hat die Bundesregierung durch Erlass der BKV Gebrauch gemacht.
Sie hat in der Anlage zur BKV unter Nr 2108 folgende Berufskrankheit bezeichnet:
"Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben
oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer
Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die
Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren
oder sein können".
20 bb) Ob der Kläger den Anforderungen des § 551 Abs 1 Satz 2 RVO (jetzt: § 9 Abs 1 Satz 1
SGB VII) entsprechend "Versicherter" war und als solcher bei einer der in den §§ 539, 540
und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten die geltend gemachte BK erlitten hat, lässt sich
dem Urteil des LSG nicht entnehmen.
21 Das LSG hat nicht festgestellt, ob der Kläger bei der Ausübung der Tätigkeit als
selbstständiger Kfz-Meister "Versicherter" war. Dies erscheint möglich (§ 3 Abs 1 Nr 1, § 6
Abs 1 Nr 1 SGB VII) , bedarf aber insbesondere für selbstständig erwerbstätige Personen der
Feststellung durch die Tatsachengerichte.
22 b) Der Senat kann auch nicht beurteilen, ob bei dem Kläger die tatbestandlichen
Voraussetzungen der BK 2108 erfüllt sind.
23 Nach dem Tatbestand der oben bezeichneten BK 2108 muss der Versicherte auf Grund
einer versicherten Tätigkeit langjährig schwer gehoben und getragen bzw in extremer
Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben. Durch die spezifischen der versicherten Tätigkeit
zuzurechnenden besonderen Einwirkungen muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung
der LWS entstanden sein und noch bestehen. Zwischen der versicherten Tätigkeit und den
schädigenden Einwirkungen muss ein sachlicher Zusammenhang und zwischen diesen
Einwirkungen und der Erkrankung muss ein (wesentlicher) Ursachenzusammenhang
bestehen. Der Versicherte muss darüber hinaus gezwungen gewesen sein, alle
gefährdenden Tätigkeiten aufzugeben. Als Folge dieses Zwangs muss die Aufgabe der
gefährdenden Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, liegt eine
BK 2108 nicht vor (BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - RdNr 16 f) .
24 Das LSG hat die von ihm als "arbeitstechnische Voraussetzungen" bezeichneten
hinreichenden beruflichen Einwirkungen auf den Kläger durch langjähriges schweres Heben
und Tragen bzw Arbeit in Rumpfbeugehaltung zu Unrecht verneint. Zwar war zum Zeitpunkt
der Entscheidung durch das LSG auf der Grundlage der damaligen Rechtsprechung des
BSG nicht zu beanstanden, dass das LSG ausgehend von dem MDD bei dem Kläger eine
Gesamtbelastungsdosis deutlich unterhalb des Orientierungswertes von 25 MNh festgestellt
hat. Nach Maßgabe der im Urteil des Senats vom 30.10.2007 (B 2 U 4/06 R) aufgestellten
Kriterien zur Bestimmung des Ausmaßes der erforderlichen Einwirkung bei der BK 2108
unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Deutschen Wirbelsäulenstudie kann die vom
LSG vorgenommene Berechnung der individuellen Belastungsdosis des Klägers allerdings
keinen Bestand mehr haben.
25 Das MDD ist, in den Grenzen seiner Thematik, weiterhin eine geeignete Grundlage zur
Konkretisierung der im Text der BK 2108 mit den unbestimmten Rechtsbegriffen
"langjähriges" Heben und Tragen "schwerer" Lasten oder "langjährige" Tätigkeit in
"extremer Rumpfbeugehaltung" nur richtungweisend umschriebenen Einwirkungen (BSG,
Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - RdNr 22) .
26 Allerdings legt das MDD selbst für die Belastung durch Heben und Tragen keine
Mindestwerte fest, die erreicht werden müssen, damit von einem erhöhten Risiko von
Bandscheibenschäden durch die berufliche Tätigkeit ausgegangen werden kann. Die auf
Grund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder
ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis sind nicht als
Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge zu verstehen. Von diesem
Verständnis geht auch das aktuelle Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und
Sozialordnung zur BK 2108 aus, das für eine zusammenfassende Bewertung der
Wirbelsäulenbelastung auf das MDD verweist (BArbBl 2006, Heft 10 S 30 ff) . Danach sind
zwar die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 2108 zu bejahen, wenn die
Richtwerte im Einzelfall erreicht oder überschritten werden (ASUMed 1999, 112, 119) ;
umgekehrt schließt aber ein Unterschreiten dieser Werte das Vorliegen der BK nicht von
vornherein aus (dazu BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - RdNr 18) .
27 Orientierungswerte sind andererseits keine unverbindlichen Größen, die beliebig
unterschritten werden können. Ihre Funktion besteht in dem hier interessierenden
Zusammenhang darin, zumindest die Größenordnung festzulegen, ab der die Wirbelsäule
belastende Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich einzustufen sind. Die
Mindestbelastungswerte müssen naturgemäß niedriger angesetzt werden, weil sie ihrer
Funktion als Ausschlusskriterium auch noch in besonders gelagerten Fällen, etwa beim
Zusammenwirken des Hebens und Tragens mit anderen schädlichen Einwirkungen, gerecht
werden müssen. Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das
Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so ist das Vorliegen einer BK 2108 zu
verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen
Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf (BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R -
RdNr 19) .
28 Der Senat hat deshalb in der genannten Entscheidung seine frühere Rechtsprechung auf der
Grundlage der Erkenntnisse der "Deutsche Wirbelsäulenstudie" ( www.dguv.de/inhalt/
leistungen/versschutz/bk/wirbelsaeule/index.html) weiterentwickelt und entschieden, dass
das MDD in seiner Funktion als Konkretisierung des Ausmaßes der für die BK 2108
erforderlichen beruflichen Einwirkung derzeit nicht durch ein anderes gleichermaßen
geeignetes Modell ersetzt werden kann. Entgegen der Auffassung des Klägers ist dabei
unerheblich, welche Personen oder Institutionen das MDD erarbeitet haben, wenn sich - wie
hier - die Ergebnisse des Modells als wissenschaftlich gut bestätigt erweisen. Das MDD
bedarf aber auf Grund der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Modifikation in
folgender Hinsicht:
29 (1) Die dem MDD zu Grunde liegende Mindestdruckkraft pro Arbeitsvorgang ist bei Männern
mit dem Wert 2.700 N pro Arbeitsvorgang anzusetzen.
30 (2) Auf eine Mindesttagesdosis ist nach dem Ergebnis der Deutschen Wirbelsäulenstudie zu
verzichten. Alle Hebe- und Tragebelastungen, die die aufgezeigte Mindestbelastung von
2.700 N bei Männern erreichen, sind entsprechend dem quadratischen Ansatz (Kraft mal
Kraft mal Zeit) zu berechnen und aufzuaddieren (BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R
- RdNr 23 f) .
31 (3) Der untere Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand
ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter
Erkrankung der LWS ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische
Ermittlungen verzichtet werden kann, ist auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen
Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 MNh, also auf 12,5 MNh,
herabzusetzen (BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - RdNr 25) .
32 Auf Grund der neuen Maßstäbe für die Ermittlung der beruflichen Einwirkung, bei der weitere
Belastungen berücksichtigt und die Grenzwerte abgesenkt werden, gehören weit mehr
Versicherte als bisher zu dem Personenkreis, bei dem eine Anerkennung von
Wirbelsäulenschäden als BK in Betracht kommt. Das bedeutet aber nicht, dass der
(wesentliche) Ursachenzusammenhang zwischen den beruflichen Einwirkungen und der
festgestellten Wirbelsäulenerkrankung beim Erreichen der Mindestdosis gleichsam
"automatisch", dh ohne genaue (ua medizinische) Prüfung der Umstände des Einzelfalls
anzunehmen ist. Vielmehr sind Art, Umfang und Dauer der beruflichen Exposition nur der
Ausgangspunkt der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs (BSG vom 27.6.2006 - B 2 U
20/04 R - BSGE 96, 291, 294 RdNr 19 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) .
33 Das LSG hat die maßgeblichen beruflichen Einwirkungen in beiden genannten Punkten
(Mindestdruckkraft, Grenzwert) nicht nach Maßgabe der neueren Rechtsprechung des BSG
ermittelt. Die im Urteil des LSG getroffenen Feststellungen reichen daher nicht aus, um
abschließend über die Anfechtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage des Klägers
entscheiden zu können. Da das BSG solche Einzelfalltatsachen nicht selbst ermitteln darf (§
163 SGG) , ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) , damit die
noch notwendigen Feststellungen nachgeholt werden können. Art 6 Abs 1 Satz 1 EMRK
steht der Zurückverweisung entgegen der Ansicht des Klägers nicht entgegen, weil ohne sie
kein Sachverhalt festgestellt werden kann, der eine abschließende Entscheidung über den
Rechtsstreit erlaubt.
34 Das LSG wird neben der Ermittlung der beruflichen Einwirkungen auf den Kläger nach den
oben genannten Maßstäben auch die Frage zu beantworten haben, ob der Kläger bei
Ausübung seiner selbstständigen Tätigkeit als Kfz-Meister "Versicherter" iS des § 551 Abs 1
Satz 2 RVO (jetzt: § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII) war. Darüber hinaus dürfte es angezeigt sein,
zu ermitteln, ob der Kläger die gefährdenden Tätigkeiten endgültig aufgegeben hat. Das LSG
hat insoweit festgestellt, der Kläger habe den Betrieb, in dem die angeschuldigte Tätigkeit
ausgeübt worden ist, 1995 an seine Tochter übergeben. Erforderlich ist nach dem
Tatbestand der BK 2108 aber die endgültige Aufgabe aller gefährdenden Tätigkeiten.
35 Nach Durchführung der gebotenen Ermittlungen ist es dem LSG im Rahmen der richterlichen
Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) allerdings unbenommen, sich sowohl auf
Aussagen des Klägers als auch auf verwertbare Gutachten oder Stellungnahmen eines
"Beklagtenbeamten" zu stützen. Entgegen der Ansicht des Revisionsklägers ist sowohl das
Verwaltungs- als auch das Gerichtsverfahren auf die Mitwirkung der Beteiligten angelegt (vgl
§ 103 Satz 1, § 106 Abs 1 und Abs 2 Nr 7 SGG) . Auch ist zu würdigen, dass sich der Kläger
gegen die Berücksichtigung der ihm ungünstigen Stellungnahmen der Beklagten verwahrt,
den Anspruch aber zugleich auf die ihm günstige Expertise der Beklagten vom 24.1.1996
stützen will.
36 Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.