Urteil des BSG vom 27.07.2000

BSG: anhörung, nichtigerklärung, arbeitslosigkeit, aussetzung, verwaltungsakt, vollzug, rückgriff, unvereinbarkeit, rechtswidrigkeit, rechtspflicht

Bundessozialgericht
Urteil vom 27.07.2000
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht
Bundessozialgericht B 7 AL 84/99 R
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Oktober
1999 aufgehoben und die Sache zur erneuten Ver- handlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückverwiesen.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Arbeitslosengeld (Alg) (nebst Beiträgen zur Renten- und
Krankenversicherung), das die Beklagte dem ehemaligen Arbeitnehmer der Klägerin F. H. (F.H.) für den Zeitraum vom
2. Januar 1995 bis 31. August 1995 gezahlt hat.
Der 1963 geborene F.H. war vom 1. März 1992 bis 30. September 1994 bei der Klägerin als Ingenieur in der
Produktentwicklung beschäftigt. Die Klägerin stellt Sprinkleranlagen her. F.H. verpflichtete sich in seinem
Arbeitsvertrag mit der Klägerin, für die Dauer eines Jahres nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht bei einem
Unternehmen tätig zu sein oder ein solches zu bilden, das thermische Auslöseelemente herstellt oder betreibt. F.H.
kündigte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zum 30. September 1994. Vom 1. Oktober 1994 bis 31. Dezember
1994 war er sodann als Elektroingenieur bei einer anderen Elektronikfirma beschäftigt. Dieses Arbeitsverhältnis
endete ohne Kündigung nach Ablauf der Probezeit zum 31. Dezember 1994. Vom 2. Januar bis 31. August 1995
bewilligte die Beklagte dem F.H. Alg.
Mit Schreiben vom 27. Januar 1995 wies die Beklagte die Klägerin darauf hin, daß sie nach § 128a
Arbeitsförderungsgesetz (AFG) verpflichtet sei, der Beklagten vierteljährlich das dem ehemaligen Arbeitnehmer F.H.
bis zum Ende der Wettbewerbsklausel gezahlte Alg nebst der Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und
Rentenversicherung zu erstatten. Da ein Wettbewerbsverbot von zwölf Monaten vereinbart sei, dauere der
Erstattungszeitraum hier vom 2. Januar 1995 bis 30. September 1995. Den Widerspruch der Klägerin gegen den
Bescheid vom 27. Januar 1995 wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 22. März 1995). Für die
Erstattungspflicht nach § 128a AFG sei es unbeachtlich, ob und inwieweit der Arbeitslose im konkreten Fall durch die
Wettbewerbsvereinbarung bei der Arbeitssuche beeinträchtigt worden sei.
Nach Klageerhebung hat die Beklagte den Erstattungsbetrag für den Zeitraum vom 2. Januar 1995 bis 31. August
1995 auf insgesamt 25.077,97 DM festgesetzt (Bescheid vom 13. März 1998). Das Sozialgericht (SG) hat sodann
durch Urteil vom 12. August 1998 die Klage gegen die vorgenannten Bescheide abgewiesen.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 15. Oktober 1999 das Urteil des SG
und den Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März
1995 und den Bescheid vom 13. März 1998 aufgehoben. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt,
zwar habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) durch Beschluss vom 10. November 1998 (BVerfGE 99, 202) §
128a AFG für mit Art 12 Abs 1 Grundgesetz (GG) unvereinbar erklärt und die Ausgangsverfahren mit der Maßgabe an
das SG zurückverwiesen, die Verfahren seien auszusetzen, damit die Beschwerdeführerin die Möglichkeit erhalte,
aus der vom Gesetzgeber zu treffenden und für sie möglicherweise günstigen Neuregelung Nutzen zu ziehen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten sei aber nicht auch der vorliegende Rechtsstreit bis zur endgültigen
Neufassung durch den Gesetzgeber auszusetzen. Die angefochtenen Bescheide seien aus anderen Gründen
aufzuheben, so daß § 128a AFG materiell-rechtlich keine Anwendung finde. Der während des Klageverfahrens
ergangene Erstattungsbescheid vom 13. März 1998 sei bereits wegen Fehlens der erforderlichen Anhörung gemäß §
24 Abs 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) rechtswidrig. Die Anhörung könne im gerichtlichen Verfahren nicht
nachgeholt werden. Die Beklagte hätte hier zwar grundsätzlich diesen Abrechnungsbescheid zurücknehmen und ihn
nach vorheriger Anhörung der Klägerin durch einen neuen Bescheid ersetzen können, der dann gemäß § 96
Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden wäre. Diese Möglichkeit bestehe im
vorliegenden Falle aber wegen der durch die Entscheidung des BVerfG eingetretenen Anwendungssperre des § 128a
AFG nicht. Auch der Grundlagenbescheid vom 27. Januar 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.
März 1995 sei rechtswidrig. Der Senat trete der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bei, das im Rahmen
der Regelung des § 128 AFG davon ausgehe, der Erlaß eines solchen Grundlagenbescheides sei rechtswidrig, weil
eine gesetzliche Grundlage für eine entsprechende Befugnis der Arbeitsverwaltung nicht gegeben sei.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 31 Abs 1, Abs 2 Satz 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz
(BVerfGG) und des § 114 SGG. Das BVerfG habe mit Beschluss vom 10. November 1998 festgestellt, daß § 128a
AFG und § 148 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) mit Art 12 Abs 1 GG unvereinbar seien. Nach der
ständigen Rechtsprechung des BVerfG unterliege die für verfassungswidrig erklärte Norm ab sofort, dh vom Zeitpunkt
der Entscheidung des BVerfG an, einer Anwendungssperre. Demzufolge seien anhängige oder neu eingeleitete
Verwaltungs- bzw Gerichtsverfahren bis zur verfassungskonformen Neuregelung durch den Gesetzgeber
auszusetzen. Das LSG hätte daher auch im vorliegenden Fall das Verfahren bis zur Neuregelung der
Erstattungspflicht bei Konkurrenzklauseln aussetzen müssen. Der Verzicht auf eine Aussetzung stelle einen
Verfahrensmangel dar, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führe. Die vom BVerfG ausgesprochene
Anwendungssperre für eine Norm gelte grundsätzlich uneingeschränkt und damit nicht lediglich bezogen auf den
materiell-rechtlichen Gehalt der mit dem GG für unvereinbar erklärten Vorschriften. Die Anwendung formellen Rechts
könne grundsätzlich nicht ohne Rücksicht auf den Inhalt der materiell-rechtlichen Regelungen überprüft werden, die
der angefochtenen Entscheidung zugrunde lägen. Dies werde auch anschaulich durch die Herleitung des
Anhörungsmangels in dem Urteil des LSG belegt. Entsprechendes gelte hinsichtlich des Grundlagenbescheides. Auch
hier werde die Notwendigkeit der Beachtung der Anwendungssperre deutlich. Ob ihr - der Beklagten - eine Befugnis für
den Erlaß eines Grundlagenbescheides zustehe, könne nicht ohne Kenntnis der bevorstehenden Neuregelung des §
128a AFG bzw des § 148 SGB III entschieden werden.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Oktober 1999
aufzuheben und die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die aus dem Beschluss des BVerfG abgeleitete Anwendungssperre gelte entgegen der Auffassung der Beklagten
nicht uneingeschränkt, sondern nur insoweit, als diese sich aus dem Tenor des Beschlusses des BVerfG ergebe. Das
LSG sei folglich nur in diesem Umfang gehindert gewesen, die mit dem GG für unvereinbar erklärte Norm
anzuwenden. Nach dem Tenor des Beschlusses des BVerfG vom 10. November 1998 sei es lediglich mit Art 12 Abs
1 GG unvereinbar, daß der Arbeitgeber nach § 128a AFG für die Dauer einer Vereinbarung über die Unterlassung von
Wettbewerb zusätzlich zur arbeitsrechtlichen Entschädigung gemäß §§ 74 Abs 2, 74c Abs 1 Handelsgesetzbuch die
gesamten Kosten der Arbeitslosigkeit seines früheren Arbeitnehmers ohne Rücksicht darauf zu tragen habe, ob die
Arbeitslosigkeit tatsächlich durch eine Wettbewerbsvereinbarung verursacht sei. Die Verfassungswidrigkeit des §
128a AFG sei also ausschließlich durch den materiellen Gehalt der Norm begründet worden. Hinsichtlich der
Ausgestaltung des damit einhergehenden Verwaltungsverfahrens habe das BVerfG keine Bedenken geäußert. Die
Beklagte könne sich weiterhin nicht mit Erfolg auf § 31 Abs 1, Abs 2 Satz 2 BVerfGG berufen. Einer
Anwendungssperre stehe hier nämlich § 330 Abs 4 SGB III entgegen, dem als Spezialnorm gegenüber § 31 BVerfGG
der Vorrang zukomme. Die Beklagte hätte daher den Erstattungsbescheid vom 13. März 1998 nach der Feststellung
der Verfassungswidrigkeit des § 128a AFG durch das BVerfG gemäß § 330 Abs 4 SGB III von sich aus
zurücknehmen müssen. Diese Vorschrift sei auch auf den sog Grundlagenbescheid anzuwenden, der ebenfalls von
Amts wegen hätte zurückgenommen werden müssen. Im übrigen sei eine gesetzliche Neuregelung, die es der
Beklagten nachträglich ermögliche, noch einen ersetzenden Feststellungs-(Grundlagen-)Bescheid zu erlassen, nicht
zu erwarten.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Antragsgemäß ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2
Satz 2 SGG). Die Beklagte rügt mit ihrer Revision zu Recht einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG. Das
LSG hätte nach dem Beschluss des BVerfG vom 10. November 1998 (BVerfGE 99, 202, 216) den Rechtsstreit
aussetzen müssen und nicht eine Sachentscheidung treffen dürfen. Hierzu war das LSG gemäß § 31 Abs 2 Satz 2
BVerfGG verpflichtet, weil die in einem Verfahren nach § 13 Nr 8a BVerfGG ergangene Entscheidung des BVerfG
Gesetzeskraft hat. Das LSG ist an diese Rechtsauffassung des Senats gemäß § 170 Abs 5 SGG nach
Zurückverweisung gebunden, so daß es bis zu einer Entscheidung des Gesetzgebers über § 128a AFG (bzw § 148
SGB III) den Rechtsstreit auszusetzen haben wird.
Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 10. November 1998 in der Entscheidungsformel ausgesprochen, daß §
128a Abs 1 und Abs 2 AFG (idF des Gesetzes zur Änderung arbeitsförderungsrechtlicher und anderer
sozialrechtlicher Vorschriften vom 21. Juni 1991, BGBl I 1306) und § 148 SGB III (idF des Arbeitsförderungs-
Reformgesetzes (AFRG) vom 24. März 1997, BGBl I 594) mit Art 12 Abs 1 GG unvereinbar sind. Zugleich wurde der
Gesetzgeber verpflichtet, die verfassungswidrige Regelung spätestens bis zum 1. Januar 2001 durch eine
verfassungsmäßige Regelung zu ersetzen. Die Unvereinbarerklärung einer Norm mit dem GG hat regelmäßig zur
Folge, daß die Norm einer Anwendungssperre unterliegt (vgl hierzu Blüggel, Unvereinbarerklärung statt Normkassation
durch das BVerfG, Berlin 1997, S 93 ff; Heußner, Folgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ohne
Nichtigerklärung, NJW 1982, 257, 258; Lechner/Zuck, BVerfGG, 4. Aufl 1996, RdNr 9 zu § 78 BVerfGG; Schlaich,
Das Bundesverfassungsgericht, 4. Aufl 1997, RdNrn 378 ff; Seer, Die Unvereinbarkeitserklärung des BVerfG am
Beispiel seiner Rechtsprechung zum Abgabenrecht, NJW 1996, 285; Stuth in Umbach/Clemens, BVerfGG, 1992,
RdNrn 20 f zu § 78 BVerfGG). Diese Rechtsfolge ist insbesondere aus § 31 Abs 2 BVerfGG herzuleiten. Da auch die
Unvereinbarkeitserklärung nach § 31 Abs 2 Satz 2 BVerfGG Gesetzeskraft hat, wirkt sie konstitutiv mit Wirkung "inter
omnes" (so Heußner, NJW 1982, 257, 258). Aus der Anwendungssperre resultiert zugleich die allgemeine Pflicht, über
das Ausgangsverfahren hinaus bereits anhängige andere Verfahren auszusetzen. Diese Aussetzungspflicht für
Parallelfälle gilt sowohl für das gerichtliche Verfahren als auch für das Verwaltungsverfahren (grundlegend BVerfGE
37, 217, 261 f, 265; zuletzt BVerfGE 84, 1, 5; 87, 114, 136; s auch Urteil des erkennenden Senats vom 17. März
1981 in SozR 1700 § 31 Nr 1; ferner BSG SozR 3-4100 § 152 Nr 7 und BAGE 67, 357, 365 f).
Allerdings hat das BVerfG die Regel, daß bereits anhängige Rechtsstreite auszusetzen sind, vielfach durch
Ausnahmen durchbrochen. Es hat in einer Reihe von Entscheidungen in Fällen, in denen es dies aus Gründen
insbesondere der Rechtssicherheit (BVerfGE 92, 53, 74 - Einmalzahlungen -) oder aus sozialpolitischen Gründen
(BVerfGE 87, 234, 263 - Arbeitslosenhilfe -) für notwendig erachtet hat, dezidierte Übergangsregelungen für die Zeit
bis zur gesetzgeberischen Neuentscheidung getroffen (vgl Blüggel, aaO S 96, der bis zum Jahre 1997 insgesamt 14
solcher Entscheidungen des BVerfG aufführt, in denen eine vorübergehende Weiteranwendung der mit dem GG
unvereinbaren Norm ausgesprochen worden ist). Aus diesen vom Regelfall abweichenden Anordnungen muß aber
geschlossen werden, daß dann, wenn eine solche Ausnahmeregelung fehlt, eine Anwendung des für unvereinbar
erklärten Gesetzes in der Übergangszeit generell nicht in Frage kommt (so auch Schlaich, aaO, insbesondere RdNr
386 mwN).
Zudem verweist das BVerfG in der hier maßgeblichen Entscheidung vom 10. November 1998 (BVerfGE 99, 202, 216)
ausdrücklich auf seine Entscheidung in BVerfGE 94, 241, 267. Dort ist in bezug auf Rentenbescheide, die auf der für
verfassungswidrig erklärten Norm (Zusammentreffen von Beitrags- und Kindererziehungszeiten) beruhen, ausdrücklich
ausgesprochen, daß alle anhängigen Gerichtsverfahren bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber auszusetzen
sind. Aus dieser Inbezugnahme ist zu schließen, daß das BVerfG für § 128a AFG eine generelle Anwendungssperre
bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber zum 1. Januar 2001 aussprechen wollte, die zur Folge hat, daß das LSG
gemäß § 31 Abs 2 BVerfGG gehindert war, die Norm weiterhin anzuwenden.
Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Pflicht zur Aussetzung ist auch nicht damit begründbar, die Rechtswidrigkeit
der angefochtenen Verwaltungsakte ergebe sich aus anderen Rechtsgründen - insbesondere solchen des
Verwaltungsverfahrensrechts -, als sie für die Unvereinbarerklärung durch das BVerfG maßgebend gewesen seien.
Zwar geht das LSG zurecht davon aus, daß den Entscheidungsgründen des Beschlusses vom 10. November 1998
(aaO) entnommen werden kann, § 128a AFG schränke materiell-rechtlich die durch Art 12 Abs 1 GG geschützte
Berufsausübungsfreiheit der Arbeitgeber in unverhältnismäßiger Weise ein. Hieraus kann jedoch nicht der Schluß
gezogen werden, nur hinsichtlich dieses vom BVerfG verwendeten Begründungselements unterliege § 128a AFG einer
Anwendungssperre, alle anderen Rechtsfragen, die sich zu § 128a AFG stellen könnten, könnten hingegen weiterhin
durch die Fachgerichte endgültig entschieden werden. Dem widerspricht zunächst der insoweit umfassende und
eindeutige Tenor des Beschlusses vom 10. November 1998. Hinsichtlich der Unvereinbarkeit des § 128a AFG mit Art
12 Abs 1 GG werden keine Einschränkungen gemacht, vielmehr wird die Norm mit ihren maßgeblichen Regelungen in
Abs 1 und 2 insgesamt für mit Art 12 Abs 1 GG unvereinbar erklärt. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, daß das
BVerfG bei Unvereinbarerklärungen den Tenor durchaus auch auf einen Normteil beschränkt und Teil-
Unvereinbarerklärungen von Normen ausgesprochen hat (kritisch hierzu mwN Sachs, Tenorierung bei
Normenkontrollentscheidungen des BVerfG, DÖV 1982, 23, 26 f).
Zudem weist die Beklagte zu Recht darauf hin, daß eine randscharfe Trennung einer verwaltungsverfahrensrechtlichen
Prüfung von einer materiell-rechtlichen Prüfung der Rechtmäßigkeit angefochtener Bescheide im Regelfall nicht
möglich ist. So wird vom LSG der sog Grundlagenbescheid vom 27. Januar 1995 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 22. März 1995 für rechtswidrig erklärt, weil sich bei Heranziehung der Rechtsprechung
des BSG zu § 128 AFG (grundlegend BSG SozR 3-4100 § 128 Nr 4) ergebe, daß eine Rechtsgrundlage für eine
isolierte Feststellung der Erstattungspflicht (durch sog Grundlagenbescheid) auch in § 128a AFG fehle. Dabei war das
LSG aber gezwungen, zur Begründung der Rechtswidrigkeit von Grundlagenbescheiden eben auch auf den Inhalt der
Regelung des § 128a AFG zurückzugreifen. Da diese Norm aber - wie ausgeführt - ohne Einschränkung einem
Anwendungsverbot unterlag, hat das LSG insoweit gegen § 31 Abs 2 BVerfGG verstoßen.
Auch soweit das LSG den betragsmäßig bezifferten Erstattungsbescheid vom 13. März 1998 wegen fehlender
Anhörung gemäß § 24 SGB X als rechtswidrig aufgehoben hat, ist dies in verfahrensfehlerhafter Weise geschehen.
Auch insofern hätte der Rechtsstreit ausgesetzt werden müssen. Zum einen erscheint es dem Senat kaum möglich,
die Frage des Umfangs der behördlichen Anhörungspflicht gemäß § 24 Abs 1 SGB X vor Erlaß eines belastenden
Verwaltungsakts losgelöst von der materiell-rechtlichen Regelung zu beantworten, auf die sich der Bescheid stützt
und die durch den Bescheid konkretisiert werden soll. Auch insofern ist zur Begründung der Anhörungspflicht ein
Rückgriff auf § 128a AFG unvermeidlich. Zum anderen widerspricht die isolierte Aufhebung von Bescheiden
ausschließlich wegen Verfahrensmängeln dem eigentlichen Zweck der aus der Unvereinbarerklärung durch das
BVerfG folgenden Anwendungssperre. Im Hinblick auf die dem Gesetzgeber eingeräumte Nachbesserungsmöglichkeit
(ggf auch mit Wirkung für die Vergangenheit) sollen anhängige Verfahren in einem Schwebezustand verbleiben und
endgültige Entscheidungen gerade vermieden werden. So könnte der Gesetzgeber beispielsweise durch Änderung der
§§ 147a, 148 SGB III den Erlaß sog Grundlagenbescheide vorschreiben oder zulassen oder die Erstattungssumme
auf einen Teilbetrag des an den ausgeschiedenen Arbeitnehmer gezahlten Alg (zB einen bestimmten Prozentsatz)
beschränken oder dem Arbeitgeber die Möglichkeit einräumen, einen Gegenbeweis dahingehend zu führen, daß die
Arbeitslosigkeit im konkreten Fall gerade nicht auf der Wettbewerbsabrede beruht. Um diese - hier nur angedeuteten
� Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers nicht von vornherein einzuschränken, darf in der Zwischenzeit
keine abschließende Entscheidung über eine Erstattungspflicht aufgrund des § 128a AFG gefällt werden.
Der Senat geht dabei davon aus, daß sich als Rechtsfolge einer Unvereinbarerklärung durch das BVerfG aber auch
ein Anspruch des jeweiligen Klägers ergibt, während des Schwebezustandes evtl bereits erfolgte
Vollstreckungshandlungen der Beklagten auszusetzen oder einen Vollzug des Erstattungsbescheides rückgängig zu
machen. Ein solcher Anspruch auf Rückgängigmachung im Rahmen des § 31 Abs 2 BVerfGG könnte in Betracht
kommen, wenn - wie die Klägerin im Revisionsverfahren vorgetragen hat - die geforderte Erstattungssumme bereits an
die Beklagte gezahlt worden ist. Die Beklagte, die sich hier mit ihrer Revision gegen die Nichtbeachtung des
Schwebezustands durch das LSG wendet, darf ihrerseits durch den Schwebezustand aber auch keine Vorteile
erlangen, etwa durch den Einbehalt von Erstattungsbeträgen (und hieraus resultierender Zinsgewinne) bis zur
endgültigen Entscheidung des Gesetzgebers über eine Erstattungspflicht gemäß §§ 128a AFG bzw 148 SGB III. Da
der Senat davon ausgeht, daß aus dem Ausspruch der Unvereinbarkeit einer Norm mit dem GG durch das BVerfG
eine allgemeine Rechtspflicht resultiert, die Norm nicht anzuwenden (es sei denn, das BVerfG hätte ausdrücklich
Regelungen über die weitere Anwendbarkeit der Norm während des Schwebezustands getroffen), muß darin auch die
Verpflichtung gesehen werden, einen bereits erfolgten Vollzug rückgängig zu machen. Andernfalls würde die Beklagte
durch eine Unvereinbarerklärung des BVerfG einseitig begünstigt.
Da eine Rechtspflicht auf Beseitigung der Folgen des Erstattungsbescheides (Rückzahlung des Erstattungsbetrages)
besteht, ist es auch nicht geboten, die Beklagte zu veranlassen, die Rechtslage durch vorläufige Verwaltungsakte zu
regeln (so jetzt explizit BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2000 - 1 BvL 1/98, 1 BvL 4/98 und 1 BvL 15/99 -, S 28 des
Umdrucks unter Hinweis auf § 328 SGB III). Die Notwendigkeit einer solchen vorläufigen Regelung hat der 4. Senat
des BSG aus Gründen sozialer Schutzbedürftigkeit von Rentenempfängern aufgrund der Entscheidung des BVerfG
vom 28. April 1999 (SozR 3-2600 § 307b Nr 6) erörtert (BSGE 84, 156, insbesondere 172).
Im Hinblick auf den bestehenden Schwebezustand ist auch ein Rückgriff auf § 330 Abs 4 SGB III (idF des AFRG vom
24. März 1997, BGBl I 594; früher § 128a Abs 3 AFG) weder geboten noch auch nur zulässig. Entgegen einer in der
Literatur vertretenen Rechtsansicht (vgl Diller/Dannecker, Verfassungswidrigkeit der Erstattungspflicht für Alg bei
Wettbewerbsverboten - Rückzahlungsanspruch auch in Altfällen?, NJW 1999, 897, 898 ff) ist die Beklagte im
gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht von Amts wegen gehalten, ihre Erstattungsbescheide mit Wirkung für die
Vergangenheit aufzuheben. Dem würde nicht nur die generelle Anwendungssperre entgegenstehen, die zugleich
verhindert, daß die Beklagte neue Bescheide erlassen darf; vielmehr wäre die Aufhebung auch mit Sinn und Zweck
des § 330 Abs 4 SGB III unvereinbar. Denn die Rücknahme eines Verwaltungsaktes gemäß § 330 Abs 4 SGB III
setzt voraus, daß der Verwaltungsakt bereits bei seinem Erlaß rechtswidrig war. Daran fehlt es aber (zunächst noch)
im Falle der Unvereinbarerklärung einer Norm mit dem GG. Anders als in Fällen der Nichtigerklärung einer Norm, die in
der Weise zurückwirkt, daß ein auf ihr beruhender Verwaltungsakt von Anfang an als rechtswidrig zu behandeln ist,
läßt die Unvereinbarerklärung einer Norm mit dem GG diese Norm zunächst bestehen und wirkt nicht wie bei der
Nichtigkeitserklärung zurück. Da der Bestand des § 128a AFG also durch die Entscheidung des BVerfG im
Schwebezustand bleibt (vgl grundlegend Schlaich, aaO, RdNrn 388 ff), kann eine Amtspflicht der Beklagten zur
Rücknahme der angefochtenen Bescheide folglich frühestens dann entstehen, wenn der Gesetzgeber § 128a AFG
durch eine verfassungsgemäße Norm ersetzt hat.
Damit setzt sich der Senat schon deshalb nicht in Widerspruch zu der Entscheidung des 11. Senats des BSG vom 8.
September 1988 (BSGE 64, 62 ff = SozR 4100 § 152 Nr 18), weil diese Entscheidung den Rechtszustand nach dem
Tätigwerden des Gesetzgebers betrifft und nicht - wie im vorliegenden Fall - den Schwebezustand bis zu diesem
Tätigwerden. Der erkennende Senat folgt insoweit zwar dem 11. Senat, der entschieden hat, daß im Falle der
Nichtigerklärung einer Norm durch das BVerfG die Verpflichtung der Arbeitsverwaltung zur Korrektur bestandskräftiger
rechtswidriger Verwaltungsakte im Bereich des Arbeitsförderungsrechts nach § 152 AFG (heute § 330 SGB III)
ebenso wie im Sozialrecht allgemein nach § 44 SGB X durch § 79 Abs 2 BVerfGG nicht eingeschränkt wird (BSGE
64, 62, 65). Die Rücknahmevorschriften (§ 152 AFG, § 44 SGB X oder ähnliche Vorschriften) sind
Spezialvorschriften, die der allgemeinen Regelung des § 79 Abs 2 BVerfGG vorgehen (BSGE aaO, S 66).
Hieraus kann jedoch nicht entnommen werden, daß auch im Falle der bloßen Unvereinbarerklärung einer Norm durch
das BVerfG § 152 AFG bzw hier § 330 SGB III bereits während des Schwebezustands anzuwenden wäre. Soweit der
11. Senat des BSG in seiner Entscheidung in einem obiter dictum eine entsprechende Anwendbarkeit der von ihm zur
Nichtigerklärung entwickelten Grundsätze auch auf die Unvereinbarerklärung bejaht hat, widerspricht dies nicht den
hier entwickelten Grundsätzen über die Rechtslage während des Schwebezustands, zu dem der 11. Senat nicht
Stellung genommen hat. Sinn und Zweck einer Unvereinbarerklärung durch das BVerfG würde es widersprechen,
wenn die Verwaltung über die - ohnedies nicht unmittelbar anwendbaren - Rücknahmevorschriften (hier § 330 Abs 4
SGB III) gehalten wäre, gerade den von der Unvereinbarerklärung erstrebten Schwebezustand zu beseitigen. Die
Beklagte darf deshalb während des Schwebezustands nicht verurteilt werden, ihren Erstattungsbescheid gemäß § 330
Abs 4 SGB III - als von Anfang an rechtswidrig - aufzuheben.
Das LSG wird, sobald nach Aussetzung des Rechtsstreits und nach einer Neuentscheidung des Gesetzgebers das
Verfahren fortgesetzt und einer Entscheidung zugeführt wird, auch abschließend über die gesamten Kosten des
Rechtsstreits einschließlich des Revisionsverfahrens (§ 193 SGG) zu entscheiden haben.