Urteil des BSG vom 17.12.2001

BSG (satzung, württemberg, festsetzung der beiträge, unternehmen, abstrakte normenkontrolle, inzidente normenkontrolle, sgg, beitrag, land, nichtigkeit)

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 4.12.2007, B 2 U 36/06 R
Landwirtschaftliche Unfallversicherung - Beitragsrecht - Beitragssatzung - gesetzes-
oder verfassungswidrige Satzungsvorschrift - Gesetzesvorbehalt -
Bestimmtheitsgrundsatz - ausnahmsweise zeitlich begrenzte Weiteranwendung -
ausnahmsweise Durchbrechung des Nichtigkeitsgrundsatzes - haushaltswirtschaftliche
bedeutende Norm - drohende schwerwiegende Konsequenzen - faktische
Unmöglichkeit einer Rückabwicklung - Normenkontrolle
Leitsätze
Es kann aus zwingenden Gründen geboten sein, gesetzes- oder verfassungswidrige
Vorschriften einer Satzung - vergleichbar der Situation bei verfassungswidrigen Gesetzen -
ausnahmsweise weiter anzuwenden (Fortführung von BSG vom 7.12.2004 - B 2 U 43/03 R =
BSGE 94, 38 = SozR 4-2700 § 182 Nr 1).
Tatbestand
1 Die klagende Stadt ist als land- und forstwirtschaftliche Unternehmerin Mitglied der beklagten
Berufsgenossenschaft. Sie wendet sich gegen den ihr erteilten Beitragsbescheid für das Jahr
2000.
2 An dem für die Beitragserhebung maßgebenden Stichtag 1. Juli 2000 war die Klägerin
Eigentümerin von 16,02 ha landwirtschaftlicher und 2.268,83 ha forstwirtschaftlicher
Nutzfläche. Mit Bescheid vom 2. März 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
17. Dezember 2001, später ersetzt durch Änderungsbescheid vom 9. März 2004, erhob die
Beklagte von der Klägerin für das Jahr 2000 Beiträge in Höhe von 73.258,57 DM (37.456,51
Euro). Wegen des Wegfalls des Bundeszuschusses für kommunale landwirtschaftliche
Unternehmen war dieser Betrag mehr als doppelt so hoch wie der Beitrag des Vorjahres, der
sich auf umgerechnet 18.962,34 Euro (34.453,65 Euro abzüglich Bundesmittel) belaufen
hatte.
3 Die gegen den Beitragsbescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Karlsruhe
abgewiesen (Urteil vom 30. Januar 2004) . Das Landessozialgericht (LSG) Baden-
Württemberg hat auf die Berufung der Klägerin das vorinstanzliche Urteil aufgehoben und der
Anfechtungsklage stattgegeben (Urteil vom 19. Oktober 2006) . Diese sei zwar unbegründet,
soweit sie sich gegen die Versagung der in früheren Jahren gewährten Fördermittel des
Bundes richte. Der Bescheid vom 9. März 2004 sei aber rechtswidrig, weil die der
Beitragsberechnung zugrunde liegenden, übergangsweise fortgeltenden Bestimmungen der
Satzung der früheren Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft (LBG) Württemberg
(Rechtsvorgängerin der Beklagten) nicht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot genügten
und deshalb unwirksam seien. Regelungsdefizite gebe es zum einen bei den normativen
Vorgaben für die Festlegung des bei landwirtschaftlichen Lohnunternehmen anzuwendenden
Hebesatzes, zum anderen bei den Vorschriften über die Beitragsberechnung bei Jagden und
Imkereien, bei denen nicht alle Aufwendungen für die jeweiligen Unternehmen in die
Ermittlung des Hebesatzes einflössen. Auch wenn die Klägerin davon nicht unmittelbar
betroffen sei, wirke sich eine unzureichende Beitragserhebung bei den genannten Betrieben
mittelbar auf alle anderen landwirtschaftlichen Unternehmen aus, weil die fehlenden Mittel
von ihnen aufgebracht werden müssten. Zu beanstanden sei auch, dass es durch die
Satzungsregelungen zu einer verdeckten Subventionierung der forstwirtschaftlichen durch die
landwirtschaftlichen Betriebe komme, von der die Klägerin als ganz überwiegend
forstwirtschaftliches Unternehmen allerdings im Ergebnis profitiere.
4 Für eine übergangsweise Aufrechterhaltung der unwirksamen Satzungsbestimmungen zur
Vermeidung schwerwiegender hauswirtschaftlicher Nachteile, wie sie das
Bundessozialgericht (BSG) in dem Urteil vom 7. Dezember 2004 (BSGE 94, 38 = SozR 4-
2700 § 182 Nr 1) in einem vergleichbaren Fall für zulässig gehalten habe, gebe es keine
Grundlage. Eine untergesetzliche Rechtsvorschrift, die gegen übergeordnetes Gesetzes- oder
Verfassungsrecht verstoße, sei von Anfang an ungültig und könne nicht Grundlage des
Verwaltungshandelns sein. Die dem Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung formeller
Gesetze eingeräumte Befugnis, statt der Nichtigkeit zunächst nur die Unvereinbarkeit der
betreffenden Vorschrift mit dem Grundgesetz festzustellen, um dem Gesetzgeber Zeit zur
Schaffung einer rechtlich unbedenklichen Regelung zu geben, sei auf die fachgerichtliche
Kontrolle gesetzesnachrangiger Rechtsvorschriften nicht übertragbar. Die dargestellte
Auffassung des BSG führe dazu, dass Verstöße einer Satzung gegen höherrangiges Recht
folgenlos blieben.
5 Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 182 des Siebten Buchs
Sozialgesetzbuch (SGB VII). Die Klägerin führe einen einheitlichen Betrieb der Land- und
Forstwirtschaft, sodass eine gesonderte Betrachtung der Beitragsbelastung der einzelnen
Betriebsteile nicht zulässig sei. Dass die Beitragsgestaltung in der Satzung zu einer
Subventionierung bestimmter Zweige der Land- und Forstwirtschaft durch andere führe, sei
durch das in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung geltende Solidarprinzip
gerechtfertigt. Den weiteren Beanstandungen des LSG habe sie in ihrer neuen, seit 1. Januar
2006 geltenden Satzung durch eine genauere Festlegung der Berechnungsmodalitäten
Rechnung getragen. Soweit einzelne Bestimmungen der im konkreten Fall noch
maßgebenden Satzung der früheren LBG Württemberg im Lichte der neueren
Rechtsprechung des BSG als nicht ermächtigungskonform zu bewerten sein sollten, müssten
sie gleichwohl entgegen der Auffassung des LSG für eine Übergangszeit aufrechterhalten
werden, da sonst unkalkulierbare finanzielle Risiken für die Gesamtheit der Beitragszahler
drohten.
6 Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. Oktober 2006 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
7 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
8 Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.
9 Wegen der Zulässigkeit des Rechtsmittels bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Zwar
genügen die Ausführungen, mit denen die Beklagte sich zur Rechtmäßigkeit der
streitgegenständlichen Satzungsbestimmungen und deren Vereinbarkeit mit revisiblem
Bundesrecht äußert, nicht den Erfordernissen des § 164 Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz
(SGG), weil sie sich in einer bloßen Bezugnahme auf frühere, außerhalb des
Revisionsverfahrens eingereichte Schriftsätze erschöpfen (zu den Anforderungen an die
Revisionsbegründung siehe BSG SozR 3-1500 § 164 Nr 12; Meyer-Ladewig in: Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 164 RdNr 9a-9c mwN) . Ihren Standpunkt,
dass der angefochtene Beitragsbescheid entgegen der Ansicht des LSG auf einer
wirksamen Rechtsgrundlage beruhe, begründet die Revision aber hilfsweise auch mit der
Notwendigkeit, die Satzung trotz etwaiger Mängel aufrechtzuerhalten, um die im Falle der
Nichtigkeit zu erwartenden unkalkulierbaren Haushaltsrisiken zu vermeiden. In diesem
Punkt setzt sie sich mit den Gründen des Berufungsurteils eingehend auseinander, sodass
jedenfalls insoweit von einer hinreichenden Durchdringung des Prozessstoffs auszugehen
ist.
10 Streitbefangen ist allein noch der nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils, aber vor
Einlegung der Berufung ergangene Bescheid vom 9. März 2004, der den ursprünglich
angefochtenen Bescheid vom 2. März 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
17. Dezember 2001 sowie alle nachfolgenden Änderungsbescheide ersetzt hat und gemäß
§ 96 Abs 1 des SGG an ihrer Stelle Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist (vgl
zu der in Rede stehenden prozessualen Konstellation: Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/
Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 96 RdNr 7a mwN) . Da der Bescheid vom 9. März 2004
vollständig an die Stelle der früheren, bis dahin den Gegenstand der Anfechtungsklage
bildenden Bescheide getreten ist, ist mit seinem Erlass auch das Urteil des SG
gegenstandslos geworden. Das LSG hat deshalb zu Recht allein über die gegen diesen
Bescheid gerichtete Klage entschieden.
11 In der Sache selbst hat die Revision Erfolg. Der Klage hätte nicht stattgeben werden dürfen,
denn der Beitragsbescheid vom 9. März 2004 für das Jahr 2000 ist rechtmäßig. Dem
Berufungsgericht ist zwar darin zuzustimmen, dass die Satzung der Beklagten, soweit sie für
den streitigen Zeitraum die Beitragserhebung bei den land- und forstwirtschaftlichen
Unternehmen im Zuständigkeitsbereich der ehemaligen LBG Württemberg regelt, den
gesetzlichen Anforderungen nicht genügt. Seiner rechtlichen Bewertung, dies führe
unmittelbar zur Nichtigkeit und Unanwendbarkeit der Satzung und zur Rechtswidrigkeit aller
darauf beruhender Beitragsbescheide, kann indes nicht gefolgt werden.
12 Grundlage für die Erhebung der Beiträge der Klägerin zur landwirtschaftlichen
Unfallversicherung im Jahr 2000 ist die mit dem Zusammenschluss der Badischen LBG und
der LBG Württemberg zur jetzigen LBG Baden-Württemberg am 1. September 2000 in Kraft
getretene Satzung der Beklagten. Darin war vorgesehen (§ 40 der Satzung in ihrer
ursprünglichen Fassung) , dass für die Aufbringung der Mittel während einer Übergangszeit
bis zu einer Neuregelung zunächst die einschlägigen Satzungsbestimmungen der
Badischen LBG und der LBG Württemberg in deren früheren Zuständigkeitsbereichen
weitergelten sollten. Im vorliegenden Fall sind deshalb für die Beitragsberechnung die der
Satzung der Beklagten als Anhang beigefügten Bestimmungen der §§ 32 bis 39 der Satzung
der früheren LBG Württemberg heranzuziehen. Bei der Satzung der Beklagten einschließlich
des Anhangs handelt es sich um nicht revisibles Recht, da sich ihr Geltungsbereich nicht
über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt und weder vorgetragen noch
ersichtlich ist, dass von anderen LBGen außerhalb Baden-Württembergs inhaltlich gleiche
Vorschriften erlassen worden sind. Der Senat hat die maßgeblichen Bestimmungen deshalb
mit dem Inhalt zugrunde zu legen, den das Berufungsgericht festgestellt hat (§ 162 SGG) .
13 Zu Recht beanstandet das LSG, dass die Regelungen über die Erhebung fester Beiträge für
land- und forstwirtschaftliche Lohnunternehmen, für Jagden und für gewerbsmäßige
Imkereien in § 37 der Satzung der früheren LBG Württemberg inhaltlich unbestimmt sind und
bundesrechtlichen Vorgaben für eine transparente Beitragsgestaltung nicht genügen. Der
Beitrag für Lohnunternehmen war nach § 37 Abs 1 der Satzung aus der Anzahl der im
Unternehmen eingesetzten Arbeitskräfte und Maschinen unter Berücksichtigung der
umzulegenden Aufwendungen für diese Unternehmen und dem Hebesatz zu ermitteln. In
welcher Weise und mit welchem Gewicht die genannten Kriterien in die Berechnung
eingehen sollten, welche Aufwendungen in welchem Umfang berücksichtigt werden sollten
und wie der Hebesatz zu ermitteln war, lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen.
Vergleichbares gilt für § 37 Abs 2 der Satzung der LBG Württemberg, der die
Beitragserhebung bei Lohnunternehmen regelte, die in nicht bei der Beklagten versicherten
Unternehmen tätig wurden. Der Beitrag für die in einem solchen Unternehmen geleisteten
Arbeitstage war nach einem Tausendsatz der in § 36 der Satzung festgelegten, nach
Gefahrklassen gestaffelten Beitragsberechnungswerte zu bemessen, ohne dass zu ersehen
war, wie der Tausendsatz bestimmt werden sollte. Die Regelungen über Jagden und
gewerbsmäßige Imkereien (§ 37 Abs 3 und Abs 5 der Satzung der LBG Württemberg) gaben
vor, dass der feste Beitrag aus der bejagbaren Fläche bzw der Zahl der im
Jahresdurchschnitt gehaltenen Bienenvölker und dem Hebesatz zu berechnen war. Ob und
in welchem Umfang die Aufwendungen für Jagden und Imkereien zu berücksichtigen waren
und nach welchen Kriterien der Hebesatz zu bestimmen war, blieb offen. Die
Konkretisierung der unbestimmten Bemessungsfaktoren, insbesondere aber die Festlegung
der Hebesätze, war letztlich dem freien Ermessen des nach § 38 Abs 2 der Satzung der LBG
Württemberg für die Festsetzung der Beiträge zuständigen Vorstands der Beklagten
überlassen. Für den Beitragspflichtigen war die zu erwartende finanzielle Belastung
aufgrund dieser Vorschriften nicht absehbar.
14 Der Senat hat bereits entschieden, dass eine solche Beitragsgestaltung mit den
rechtsstaatlichen Grundsätzen des Gesetzesvorbehalts und der Bestimmtheit von Gesetzen
nicht vereinbar ist (BSGE 94, 38 = SozR 4-2700 § 182 Nr 1 RdNr 15 mwN) . Eingriffsakte der
Verwaltung bedürfen danach einer normativen Grundlage, die so formuliert ist, dass die
Folgen der Regelung für den Normadressaten erkennbar und berechenbar sind. Der
Beitragsschuldner muss aus den die Beitragspflicht regelnden Rechtsvorschriften ersehen
können, wie sich der Beitrag zusammensetzt und welche Belastung ihn persönlich erwartet,
soweit dies im Rahmen eines Umlageverfahrens mit nachfolgender Bedarfsdeckung möglich
ist (§ 152 Abs 1 SGB VII). Die Merkmale, nach denen sich der Beitrag bemisst, müssen im
Rahmen des Möglichen in der Satzung so genau bestimmt werden, dass die Beitragslast
vorausberechnet werden kann. Von dieser Verpflichtung kann der weite Entscheidungs- und
Gestaltungsspielraum, den das Gesetz der Selbstverwaltung hinsichtlich der
Beitragsgestaltung in § 182 Abs 2 SGB VII einräumt, nicht entbinden. Gerade weil speziell
die landwirtschaftlichen BGen unter zahlreichen Beitragsmaßstäben wählen und diese nach
ihrem Ermessen mit einem Grundbeitrag oder einem Mindestbeitrag kombinieren können,
besteht die Notwendigkeit, die jeweils maßgebenden Berechnungsgrundlagen in der
Satzung hinreichend klar festzulegen, damit die Beitragserhebung für die Betroffenen
transparent und nachvollziehbar ist. Delegieren darf der Satzungsgeber solche
Festlegungen, die er selbst nicht treffen kann, weil zB eine für die Beitragsberechnung
benötigte Rechengröße im Vorhinein nicht bekannt ist und daran anknüpfende
Entscheidungen deshalb erst am Ende des Umlagejahres getroffen werden können. Auch
insoweit müssen aber die Berechnungsmodalitäten aus der Satzung ersichtlich sein und nur
die Umsetzung darf der Vertreterversammlung oder, sofern es sich um eine reine
Rechenoperation handelt, auch dem Vorstand überlassen werden. Diesen Maßstäben
genügen die beanstandeten Satzungsnormen nicht, weil sie dem Vorstand weit über bloße
Rechenoperationen hinausreichende Entscheidungsbefugnisse einräumen, ohne dass dies
aus sachlichen Gründen geboten wäre.
15 Durch die Regelungen über die Beitragserhebung bei Lohnunternehmen, Jagden und
Imkereien ist die Klägerin beschwert, obwohl sie selbst in keinem der genannten Bereiche
tätig ist. Nach den Feststellungen des LSG hat die Handhabung durch den Vorstand der
Beklagten dazu geführt, dass insbesondere bei den Lohnunternehmen und den Imkereien
während der streitigen Zeit die Leistungsaufwendungen durch das Beitragsaufkommen nicht
gedeckt wurden und die in das Restumlagesoll eingehenden Fehlbeträge von den
Unternehmen getragen werden mussten, von denen vom Umlagesoll abhängige
Flächenwertbeiträge und Flächenbeiträge erhoben wurden. Da die Klägerin als - auch -
landwirtschaftliche Unternehmerin zu diesem Kreis gehört, wirken sich die genannten
Regelungen auf ihre Beitragsbelastung aus.
16 Angesichts der Tatsache, dass sich eine die Klagebefugnis begründende Beschwer der
Klägerin schon aus der Anwendung der rechtswidrigen Satzungsbestimmungen ergibt, kann
auf sich beruhen, ob eine etwaige Nichtigkeit dieser Vorschriften die Unwirksamkeit der
gesamten Beitragssatzung zur Folge hätte und der Beitragsforderung gegenüber der
Klägerin damit von vornherein die Grundlage entzogen wäre. Das LSG hat dies bejaht und
mit einer analogen Anwendung des § 139 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) begründet; ein
komplexes Regelwerk wie die Beitragssatzung lasse sich nicht sinnvoll aufteilen und wäre
im Zweifel ohne die unwirksamen Teile mit demselben Inhalt nicht erlassen worden.
Abgesehen von rechtssystematischen Einwänden gegen eine Analogiebildung unter
Heranziehung des Rechtsgedankens aus § 139 BGB (siehe dazu Schlaeger, SGb 2007, 593
ff) wird eine solche Lösung der Bedeutung der Satzung eines Sozialversicherungsträgers mit
einem umfangreichen Regelwerk und einer großen Zahl von Normadressaten nicht gerecht.
Dass die Nichtigkeit einzelner Vorschriften die Unwirksamkeit der gesamten Satzung nach
sich zieht, kann schon wegen der gravierenden Auswirkungen auf die Tätigkeit des
Versicherungsträgers und die Ansprüche der Versicherten nicht die Regel sein, sondern nur
in extremen Ausnahmefällen in Betracht kommen, wenn die verbleibenden Bestimmungen
ohne den nichtigen Teil keine sinnvolle Verwaltungstätigkeit mehr ermöglichen. Diese
Annahme liegt im vorliegenden Fall fern.
17 Letztlich kommt es darauf nicht an, weil die Satzung der Beklagten einschließlich der in
Bezug genommenen Regelungen in § 37 der Satzung der LBG Württemberg trotz der
aufgezeigten Mängel insgesamt als wirksame Rechtsgrundlage der für das Jahr 2000
erteilten Beitragsbescheide anzusehen ist.
18 Der Senat hält an seiner bereits im Urteil vom 7. Dezember 2004 - B 2 U 43/03 R - (BSGE
94, 38 = SozR 4-2700 § 182 Nr 1 RdNr 18) zu einem vergleichbaren Sachverhalt vertretenen
Rechtsauffassung fest, dass es aus zwingenden Gründen geboten sein kann, gesetzes- oder
verfassungswidrige Vorschriften einer Satzung - vergleichbar der Situation bei
verfassungswidrigen Gesetzen - ausnahmsweise weiter anzuwenden.
19 Soweit das Berufungsgericht grundsätzliche, rechtsdogmatisch begründete Einwände gegen
die Möglichkeit der Aufrechterhaltung gesetzes- oder verfassungswidriger untergesetzlicher
Rechtsvorschriften durch die Fachgerichte erhebt, ist ihm nicht zu folgen. Zwar ist eine
Rechtsvorschrift, die gegen höherrangiges Recht verstößt, regelmäßig nichtig, also von
Anfang an unwirksam, und deshalb vom Richter bei der Entscheidung über ein
Rechtsschutzbegehren unberücksichtigt zu lassen. Von diesem Grundsatz müssen jedoch
Ausnahmen zugelassen werden, wenn die Nichtanwendung der Norm, insbesondere auf in
der Vergangenheit bereits abgeschlossene Sachverhalte zu untragbaren Ergebnissen
führen würde, die von der gesetzes- und verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt
sind als ein Zustand, bei dem es dem Normunterworfenen zugemutet wird, die Anwendung
einer rechtswidrigen Norm für eine begrenzte Zeit hinzunehmen. Auch wenn das SGG dies
nicht ausdrücklich vorsieht, gibt es keine durchgreifenden Bedenken, die dem BVerfG bei
der verfassungsrechtlichen Normenkontrolle eröffnete Möglichkeit einer abgestuften
Unvereinbarkeits- bzw Nichtigkeitsfeststellung auf die Kontrolle gesetzesnachrangiger
Rechtsvorschriften durch die Fachgerichte zu übertragen. Für die abstrakte Normenkontrolle
durch die Verwaltungsgerichte ist das trotz des vordergründig entgegenstehenden Wortlauts
des § 47 Abs 5 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung im Grundsatz weithin anerkannt (vgl
etwa Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl 2007, § 47 RdNr 126 mwN; Sodan/Ziekow, VwGO, 2.
Aufl 2006, § 47 RdNr 357; OVG Berlin NVwZ 1983, 416, 418; OVG Lüneburg, NVwZ-RR
2001, 742, 749) . Für die inzidente Normenkontrolle durch Sozialgerichte im Rahmen eines
von ihnen zu entscheidenden sozialrechtlichen Streitverfahrens kann nichts anderes gelten.
20 Die in § 31 Abs 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes kodifizierten Befugnisse sind aus
verfassungsrechtlichen Prinzipien herzuleiten und müssen daher jedem zur Anwendung
einer Rechtsnorm berufenen Gericht im Rahmen seiner Entscheidungskompetenz zustehen.
Allerdings beschränkt sich die Befugnis zur Durchbrechung des Nichtigkeitsgrundsatzes auf
eng begrenzte Ausnahmefälle, in denen angesichts der andernfalls zu erwartenden
schwerwiegenden Konsequenzen eine zeitlich begrenzte Normerhaltung
verfassungsrechtlich geboten ist. Im Beitragsrecht der Sozialversicherung kommt das, wie
der Senat entschieden hat, im Wesentlichen bei haushaltswirtschaftlich bedeutsamen
Normen in Betracht, bei denen eine Rückabwicklung aller betroffenen Rechtsverhältnisse
faktisch unmöglich ist und unkalkulierbare Haushaltsrisiken bis hin zu einer drohenden
Zahlungsunfähigkeit des Versicherungsträgers vermieden werden müssen (BSGE 94, 38 =
SozR 4-2700 § 182 Nr 1 RdNr 19) . Diesen Ausnahmecharakter verkennt das LSG, wenn es
meint, die Rechtsprechung des Senats bewirke, dass gegen höherrangiges Recht
verstoßende Satzungsbestimmungen generell keine Fehlerfolgen hätten. Auch wird dabei zu
Unrecht unterstellt, dass eine rechtswidrige Satzung ohne zeitliche Begrenzung weiter
angewendet werden dürfe. Die Fortgeltung nicht gesetzeskonformer Vorschriften beschränkt
sich vielmehr auf eine Übergangszeit, die dem Normgeber Gelegenheit gibt, die Satzung
geltendem Recht anzupassen.
21 Nach den vorstehenden Grundsätzen müssen die rechtswidrigen Vorschriften der Satzung
der Beklagten als wirksame Rechtsgrundlage der für das Jahr 2000 erteilten
Beitragsbescheide angesehen werden. Würde dem Berufungsgericht gefolgt, wäre die
gesamte Beitragssatzung, jedenfalls soweit sie die im Zuständigkeitsbereich der früheren
LBG Württemberg gelegenen land- und forstwirtschaftlichen Unternehmen betrifft,
rückwirkend unwirksam. Alle Beitragsbescheide für den inzwischen sieben Jahre
zurückliegenden Umlagezeitraum und für nachfolgende Umlagejahre bis zum Erlass einer
rechtskonformen Satzung wären rechtswidrig und müssten auch in bindend
abgeschlossenen Verfahren von der Beklagten nach § 44 Abs 1 des Zehnten Buchs
Sozialgesetzbuch (SGB X) nachträglich aufgegriffen werden. Dabei würden wegen der
ersichtlich nicht vorliegenden Voraussetzungen des § 45 SGB X bisher begünstigte
Unternehmer von der rückwirkenden Umgestaltung ausgenommen. Die entstehenden
Beitragseinbußen für die zurückliegenden Jahre hätten die heute beitragspflichtigen
Unternehmer zu tragen. Die Beklagte macht zu Recht geltend, dass solche Konsequenzen,
die die Existenz des Versicherungsträgers gefährden können, vermieden werden müssen,
weil sonst ein Zustand eintritt, der mit der gesetzes- und verfassungsmäßigen Ordnung noch
weniger zu vereinbaren ist als eine übergangsweise Aufrechterhaltung der rechtswidrigen
Bestimmungen.
22 Der Revision der Beklagten war danach stattzugeben.
23 Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs 1 und Abs 2
Verwaltungsgerichtsordnung.