Urteil des BSG vom 05.10.2006

BSG: schutz der versicherten, versicherungspflicht, rechtssicherheit, krankenversicherung, zusammenarbeit, erfüllung, einzug, verwaltungsakt, eng, koordination

Bundessozialgericht
Beschluss vom 05.10.2006
Sozialgericht Schleswig S 8 KR 57/03
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht L 5 KR 74/04
Bundessozialgericht B 10 KR 5/05 B
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Schleswig-Holsteinischen
Landessozialgerichts vom 7. September 2005 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander für das
Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I
1
Streitig ist die Versicherungspflicht des Klägers in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung (LKV).
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Der Kläger ist selbstständiger Landwirt und mit 19 Wochenstunden bei der Beigeladenen zu 2) abhängig beschäftigt.
Seit 1973 ist er bei der Beigeladenen zu 1) krankenversichert. 2002 beanstandete die Beklagte gegenüber der
Beigeladenen zu 1) die Kassenzugehörigkeit des Klägers. Diese wies die Beanstandung mit der Begründung zurück,
nicht die landwirtschaftliche Tätigkeit, sondern die abhängige Beschäftigung sei der Mittelpunkt der Erwerbstätigkeit
des Klägers, sodass es bei ihrer Zuständigkeit zu verbleiben habe (Schreiben vom 17. Dezember 2002, das dem
Kläger zur Kenntnis gebracht worden ist). Nach Anhörung des Klägers stellte die Beklagte durch Bescheid vom 13.
März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2003 dessen Versicherungspflicht in der LKV ab
dem 1. Januar 2003 fest.
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Vor dem Sozialgericht Schleswig (SG) und dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht (LSG) ist der Kläger
mit seiner Anfechtungsklage erfolgreich gewesen (Urteile vom 5. April 2004 und 7. September 2005). Das LSG hat die
Bescheide der Beklagten mit der Begründung aufgehoben, sie seien rechtswidrig. Zwar sei die Beklagte befugt
gewesen, eine eigene Entscheidung über die Versicherungspflicht des Klägers in der LKV zu treffen. Die
Versicherungspflicht trete Kraft Gesetzes ein und könne von einem Versicherungsträger für die Zukunft jederzeit
festgestellt werden. Die Voraussetzungen für die Versicherungspflicht des Klägers in der LKV seien hier jedoch nicht
gegeben. Er habe die landwirtschaftliche Tätigkeit nicht hauptberuflich iS von § 5 Abs 5 Fünftes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB V) ausgeübt. Zeitlicher Aufwand und wirtschaftliche Bedeutung der abhängigen
Beschäftigung bei der Beigeladenen zu 2) hätten die als Landwirt überwogen.
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Die Revision hat das LSG nicht zugelassen. Mit der dagegen eingelegten Beschwerde zum Bundessozialgericht
(BSG) macht die Beklagte eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.
II
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Die Beschwerde ist nicht begründet. Der behauptete Zulassungsgrund liegt nicht vor.
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Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat eine Rechtssache, wenn sie eine
Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtssicherheit oder der Fortbildung des
Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist (vgl dazu BSG SozR 1500 § 160a Nr 4, 11,
13, 39). Klärungsfähig ist eine Rechtsfrage dann, wenn sie für den zu entscheidenden Rechtsstreit rechtserheblich ist
(vgl BFHE 105, 335, 336). Es muss die konkrete Möglichkeit bestehen, dass das Revisionsgericht sie im vorgelegten
Rechtsfall in sachlicher Hinsicht wird entscheiden können. Das ist hier nicht der Fall.
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Die Beklagte hat folgende Fragen aufgeworfen:
1. Sollte - um bei der Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forstwirtschaft einen gerechteren Maßstab zu finden als
den reinen Wirtschaftswert oder die Durchschnittssätze nach § 13a Einkommenssteuergesetz (EStG) - bei der
Prüfung der "Hauptberuflichkeit" iS des § 5 Abs 5 SGB V generell der sich aus § 32 Abs 6 Gesetz über die
Alterssicherung der Landwirte (ALG) ergebende Wert, der sog korrigierte Wirtschaftswert, angesetzt werden?
2. Hilfsweise für den Fall der generellen Verneinung der Heranziehung des § 32 Abs 6 ALG: Sind im Rahmen der
Abwägung bei Prüfung der "Hauptberuflichkeit" iS des § 5 Abs 5 SGB V, unter Berücksichtigung der vom BSG
aufgestellten Grundsätze, die Kriterien "wirtschaftliche Bedeutung" und "Zeitaufwand" iS des Gesetzeszwecks unter
ergänzender Berücksichtigung der Fremdarbeitszeiten (Einsatz von Familienangehörigen und fremdem Personal,
einschließlich Lohnunternehmen) zu bewerten sind?
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Diese Fragen sind im Revisionsverfahren aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht klärungsfähig. Die Bescheide der
Beklagten können bereits deswegen keinen Bestand haben, weil diese im vorliegenden Fall nicht mehr befugt war,
gegenüber dem Kläger Feststellungen zur Versicherungspflicht in der LKV zu treffen.
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Der Streitgegenstand ist auf die Frage zurückzuführen, welcher der beiden beteiligten Krankenversicherungsträger -
die beigeladene AOK oder die beklagte landwirtschaftliche Krankenkasse - für die Durchführung der
Krankenversicherung des Klägers zuständig ist. Ein derartiger Streit über die Zuständigkeit zwischen zwei Trägern ist,
wenn sie sich nicht vorab einigen können, im Wege der Feststellungsklage vor den Gerichten der
Sozialgerichtsbarkeit auszutragen (vgl Entscheidung des erkennenden Senats vom 29. September 1997 - 10 RK 2/97,
SozR 3-5420 § 3 Nr 3, S 16; BSG, Urteil vom 31. August 1989 - 3 RK 33/88, JURIS; BSG SozR 2200 § 250 Nr 11;
grundlegend BSGE 18, 190, 192 f = SozR Nr 1 zu § 245 RVO). Bejaht ein Krankenversicherungsträger seine
Zuständigkeit für die Durchführung der Versicherung einer bestimmten Person, wie hier die Beigeladene zu 1) durch
ausdrückliche Feststellung gegenüber dem Kläger und der Beklagten in der Gestalt des Schreibens vom 17.
Dezember 2002, ist die andere ("konkurrierende") Kasse nicht befugt, im Bescheidwege gegenüber dem Versicherten
eine gegenteilige Feststellung zur Zuständigkeit zu treffen. Vielmehr ist sie gehalten, das zuständige Sozialgericht um
eine entsprechende Feststellung zu ersuchen. Insoweit mangelt es zwar an einer ausdrücklichen gesetzlichen
Regelung. Der Grundsatz der Rechtssicherheit, der Schutz der Versicherten und die Verpflichtung der Träger zu enger
Zusammenarbeit gebieten jedoch eine solche Vorgehensweise.
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Die Zuständigkeit beider Träger richtet sich letztlich nach derselben Rechtsgrundlage. Der Kläger erfüllt unstreitig die
Voraussetzungen sowohl des § 2 Abs 1 Nr 1 Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG 1989) als
auch des § 5 Abs 1 Nr 1 SGB V. In einem solchen Fall gilt zwar gemäß § 3 Abs 1 Nr 1 KVLG 1989 grundsätzlich ein
Nachrang der landwirtschaftlichen Unternehmerversicherung gegenüber einer anderweitigen Versicherungspflicht in der
gesetzlichen Krankenversicherung. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen
des § 5 Abs 1 SGB V ohne weiteres die Versicherungspflicht nach § 2 Abs 1 Nr 1 KVLG 1989 verdrängt (vgl BSG
SozR 3-5420 § 3 Nr 3, S 16 f). Eine Entscheidung hat insoweit vielmehr an Hand des Maßstabs des § 5 Abs 5 SGB V
zu erfolgen. Danach ist gemäß § 5 Abs 1 Nr 1 oder 5 bis 12 SGB V nicht versicherungspflichtig, wer hauptberuflich
selbständig erwerbstätig ist. Diese Vorschrift ist gleichermaßen von der Beigeladenen zu 1) und der Beklagten
anzuwenden. Sie duldet nur ein Ergebnis. Hat nun ein Träger auf dieser Grundlage seine Zuständigkeit bejaht und dies
auch dem Versicherten bekannt gegeben, ist der andere nicht befugt, gegenüber dem betreffenden Versicherten eine
andere Beurteilung durch Verwaltungsakt durchzusetzen.
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Soweit es den Einzug des Gesamtsozialversicherungsbeitrags eines abhängig Beschäftigten durch die Einzugsstelle
betrifft, ergibt sich dieses bereits aus deren Stellung nach dem Vierten Buch Sozialgesetzbuch (§§ 28h und 28i SGB
IV). Die von der Einzugsstelle getroffene Entscheidung über die Versicherungspflicht (vgl § 28h Abs 2 SGB IV) soll
sowohl für alle anderen Sozialversicherungsträger als auch für den Versicherten Wirkung iS der Schaffung von
Rechtssicherheit entfalten (vgl BSG SozR 4-2400 § 28h Nr 1). Nichts anderes gilt - im Interesse der Gewährleistung
von Rechtssicherheit für den betroffenen Versicherten und zu dessen Schutz vor mehrfacher Inanspruchnahme - in
einem Fall wie dem vorliegenden, zumal der Kläger bei der Beigeladenen zu 2) beschäftigt ist. Die Kassen haben sich
untereinander ins Benehmen zu setzen und können bei verbleibenden Meinungsverschiedenheiten den Klageweg zu
den Sozialgerichten beschreiten.
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Diese Vorgehensweise folgt auch aus der Regelung des § 86 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach sind
die Leistungsträger verpflichtet, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach dem SGB X eng zusammenzuarbeiten. Dieses
Gebot der Zusammenarbeit bezieht sich, anders als noch nach § 17 Abs 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch, nicht nur
auf die Ausführung von Sozialleistungen, sondern auf sämtliche Tätigkeiten. Durch die Regelung sollen u.a.
Reibungsverluste vermieden, aber auch den Gefahren der stark gegliederten Sozialrechtsordnung entgegen gewirkt
werden (vgl Seewald in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Band II, Stand: Mai 2006, § 86 SGB X, RdNr
4, 86). § 86 SGB X hat insoweit den Charakter einer Generalklausel und gibt die Leitlinie für das Handeln der Träger
untereinander vor, vor allem dann, wenn es - wie hier - an Regelungen im besonderen Teil des SGB mangelt. Hieraus
folgt die Verpflichtung, bei widerstreitenden gegenseitigen Interessen auch die Belange des anderen
Versicherungsträgers angemessen zu berücksichtigen (vgl BSGE 57, 146, 150 = SozR 1300 § 103 Nr 2). § 86 SGB X
dient jedoch auch dem Interesse des Bürgers, vor Nachteilen durch mangelhafte Koordination der Träger bei der
Aufgabenwahrnehmung geschützt zu werden (vgl Seewald, aaO, § 86 SGB X RdNr 101, 4). Ist also nur ein Ergebnis
nach dem Gesetz möglich, sind jedoch zwei Träger zur Entscheidung berufen und können sich nicht einigen, dürfen
sie den Konflikt jedenfalls nicht zu Lasten des Versicherten durch den Erlass widerstreitender Entscheidungen
austragen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.