Urteil des BSG vom 17.02.2010

BSG: stationäre behandlung, künstliche befruchtung, klinik, operation, belastungsgrenze, rente, chemotherapie, ersatzkasse, krankenversicherung, gewebe

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Kassel, den 9. Februar 2010
Terminvorschau Nr. 6/10
Der Termin um 10.15 Uhr in der Sache B 1 KR 16/09 R wurde aufgehoben.
Der 1. Senat des Bundessozialgerichts beabsichtigt, am 17. Februar 2010 über fünf
Revisionen in Angelegenheiten der
gesetzlichen Krankenversicherung
mündlicher Verhandlung zu entscheiden.
1) 9.30 Uhr - B 1 KR 23/09 R - BG der Bauwirtschaft ./. AOK PLUS
beigeladen: DRV Mitteldeutschland
Der Versicherte war als Straßenbauarbeiter bei der klagenden BG unfall-, bei der beklagten
Krankenkasse kranken- und bei der Beigeladenen rentenversichert. Im August 2001 erlitt er
bei einem Arbeitsunfall eine Prellung des linken Knies und war in der Folgezeit arbeitsunfähig
krank. Das LSG hat Folgendes festgestellt: Nach Diagnose eines Kreuzbandrisses und einer
Knorpelschädigung im Januar 2002 habe die Klägerin dem Versicherten zunächst zur
Vorbereitung einer Kreuzbandplastik und zusätzlich später nach durchgeführter Operation
eine sog "Erweiterte Ambulante Physiotherapie" (EAP) gewährt. Der Versicherte erhielt die
EAP von Mai bis Juli 2002 im Anschluss an seine stationäre Behandlung. Im November
2002/Januar 2003 gelangte die Klägerin zu der Einschätzung, dass der Kreuzbandriss keine
Arbeitsunfallfolge sei und lehnte gegenüber dem Versicherten bestandskräftig die Gewährung
eigener Leistungen über den 10.9.2001 hinaus ab. Sie forderte von der Beklagten erfolglos,
für die geleistete EAP 1.663,30 Euro zu erstatten.
Das SG hat die Klage gegen die Beklagte abgewiesen und die beigeladene
Rentenversicherungsträgerin zur Zahlung verurteilt. EAP gehe über akute
Krankenbehandlung hinaus und sei eine ambulante medizinische Reha-Maßnahme, für die
wegen der Subsidiaritätsregelung in § 40 Abs 4 SGB V die Beigeladene vorrangig zuständig
sei. EAP sei eine Kombination von Elementen der Krankengymnastik, der physikalischen
Therapie und der medizinischen Trainingstherapie zur Beseitigung besonders schwerer
Funktions- und Leistungsbeeinträchtigungen im Bereich des Stütz- und
Bewegungsapparates, nicht aber - hier bereits abgeschlossen gewesene - Akutbehandlung.
Das LSG hat auf die Berufung der Beigeladenen das SG-Urteil aufgehoben und die Beklagte
als nach § 105 Abs 1 SGB X erstattungspflichtigen Träger verurteilt. Die EAP habe sehr
wohl einer Akutbehandlung des Versicherten gedient, nämlich der Wiederherstellung der
Gebrauchsfähigkeit des Knies, nicht aber als medizinische Reha-Maßnahme einem
"psychosozialen umfassenden Rehabilitationsansatz". Das BSG (SozR 4-2500 § 40 Nr 2)
habe EAP als von den Krankenkassen zu übernehmende Leistung angesehen; EAP sei für
sich genommen noch keine medizinische Reha-Maßnahme.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 105 SGB X sowie von § § 27, 40
SGB V. Leistungs- und erstattungspflichtig sei die beigeladene Rentenversicherungsträgerin,
weil der Versicherte keinen krankenversicherungsrechtlichen Leistungsanspruch auf EAP
gehabt habe. Die Therapieform gehe als Komplextherapie über akute Krankenbehandlung
hinaus. Nach Schaffung des § 40 Abs 1 SGB V könne die Leistung als ambulante
medizinische Reha-Maßnahme nicht mehr zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung
erbracht werden. Aus dem vom LSG zitierten BSG-Urteil ergebe sich nichts anderes.
SG Berlin - S 72 KR 210/06 -
LSG Berlin-Brandenburg - L 1 KR 451/08 -
2)
Der Termin um 10.15 Uhr wurde aufgehoben.
- B 1 KR 16/09 R - G. ./. DAK
beigeladen: BARMER GEK
Die 1930 geborene Klägerin ist bei der beklagten Ersatzkasse als Rentnerin
krankenversichert. Sie ist wegen einer schwerwiegenden chronischen Krankheit in
Dauerbehandlung. Bei ihr besteht Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe II. Da die Klägerin und
ihr Ehemann, der bei der Beigeladenen krankenversichert ist, sich aus gesundheitlichen
Gründen nicht mehr in der Lage sahen, ihr Eigenheim zu bewirtschaften, veräußerten sie das
Grundstück mit Wirkung vom 1.10.2004. Für den Erlös und weitere Ersparnisse (insgesamt
320.000 Euro) erwarben sie Anspruch auf eine private lebenslange Rente eines
Lebensversicherers. Sie belief sich für den Ehemann ab 1.10.2004 auf einen Garantiebetrag
in Höhe von monatlich 2.359,52 Euro, zu der eine monatliche Überschussbeteiligung von ca
200 Euro hinzukam. Die Klägerin hat für den Fall des Todes ihres Ehemannes Anspruch auf
eine Garantierente von monatlich 1.415,71 Euro zuzüglich Überschussbeteiligung.
Auf Antrag der Klägerin berechnete die Beklagte jeweils für 2005 und 2006 die
Belastungsgrenze, befreite die Klägerin für die Zeit des restlichen Jahres von weiteren
Zuzahlungen und erstattete ihr über die Belastungsgrenze hinaus geleistete Zuzahlungen.
Die Beklagte berücksichtigte dabei zunächst lediglich die monatliche Rente der Klägerin aus
der gesetzlichen Rentenversicherung und die Pension ihres Ehegatten. Später bezog sie die
Zahlungen aus der privaten Rente in vollem Umfang ein und nahm höhere
Belastungsgrenzen an.
Das SG hat die Beklagte verurteilt, bei der Berechnung der Belastungsgrenze nach § 62
SGB V die private Rente insgesamt nicht zu berücksichtigen. Das LSG hat auf die Berufung
der Beklagten das SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die
Privatrente sei in vollem Umfang anzurechnen. Die Umwandlung des Barvermögens in eine
monatlich zu zahlende Privatrente auf Lebenszeit stelle einen "Aliud" zu dem
Kapitalvermögen dar und könne deshalb nicht als für die Bemessung der Belastungsgrenze
unschädliche bloße Umschichtung von Vermögen gewertet werden.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 62 SGB V. Die private
Veräußerungsrente zähle nicht zu den "Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt", sondern sei
wie eine bloße Vermögensumschichtung anzusehen.
SG Lübeck - S 1 KR 119/07 -
Schleswig-Holsteinisches LSG - L 5 KR 22/08 -
3) 10.45 Uhr - B 1 KR 10/09 R - S. ./. BARMER GEK
Die 1980 geborene, bei der beklagten Ersatzkasse versicherte Klägerin erkrankte im Jahr
2006 an einem Mammakarzinom. Da sie nach der insoweit vorgesehenen Chemotherapie
höchstwahrscheinlich nie mehr einen Eisprung haben werde und somit später keine eigenen
Kinder mehr gebären könne, beantragte sie bei der Beklagten, die Kosten für die Entnahme
und Aufbewahrung von Gewebe aus den Eierstöcken zu übernehmen. Das eizellbildende
Gewebe solle eingefroren, später aufgetaut und in ihren Körper reimplantiert werden mit dem
Ziel, die Fertilität wenigstens teilweise zu erhalten. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil
die begehrte Leistung nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung
umfasst sei. Im Januar 2007 wurde der Klägerin Ovargewebe durch Biopsie entnommen.
Seither trägt die Klägerin für dessen Lagerung inklusive Verbrauch von Flüssig-Stickstoff
Kosten in Höhe von 142,80 Euro pro Halbjahr.
Klage und Berufung der Klägerin sind erfolglos geblieben: Die Kryokonservierung sei - so das
LSG - keine Krankenbehandlung iS von § 27 Abs 1 Satz 1 und 4 SGB V, denn die
Empfängnisunfähigkeit als Folge der Chemotherapie werde dadurch nicht geheilt. Auch
gehöre die begehrte Konservierung nicht zu den Leistungen nach § 27a SGB V, weil sich
eine Kostenübernahme für künstliche Befruchtung auf Maßnahmen beschränke, die dem
Zeugungsakt entsprächen und unmittelbar der Befruchtung dienten.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 27 Abs 1 Satz 1 und Satz 4 SGB V.
Wegen der damals drohenden, inzwischen eingetretenen Unfruchtbarkeit durch die
Chemotherapie sei die Kryokonservierung - ähnlich einer Eigenblutspende und -lagerung im
Vorfeld einer bevorstehenden Operation - eine für die Wiederherstellung ihrer
Empfängnisfähigkeit notwendige Krankenbehandlung; die Kryokonservierung diene so
zumindest der Linderung von Krankheitsfolgen. Mit Maßnahmen der künstlichen Befruchtung
sei sie nicht verbunden.
SG Berlin - S 36 KR 842/07 -
LSG Berlin-Brandenburg - L 1 KR 646/07 -
4) 11.30 Uhr - B 1 KR 14/09 R - A. ./. Techniker Krankenkasse
Dem 1939 geborenen, in Deutschland lebenden und bei der beklagten Ersatzkasse
versicherten Kläger war 1982 und 1992 in einer Klinik in London jeweils eine bioprothetische
Aortenklappe (Transplantate verstorbener Organspender) eingesetzt worden. Die Kosten
dafür hatte die Beklagte voll getragen. Im September 2005 bedurfte der Kläger erneut einer
Herzklappenversorgung. Er beantragte die Kostenübernahme auch für diese risikobehaftete
Operation, weil er in der Londoner Klinik seit Jahrzehnten bekannt sei und großes Vertrauen
in deren Ärzte habe. Die Beklagte übernahm die Kosten dafür "anteilig im Rahmen einer
Einzelfallentscheidung ohne präjudizierende Wirkung" beschränkt auf die Sätze in einem
vergleichbaren deutschen Vertragskrankenhaus, da derartige Operationen inzwischen auch
in Deutschland durchgeführt würden. Vom 25.11. bis 4.12.2005 erhielt der Kläger in London
stationär ua den Aortenklappenersatz. Von dem von der Klinik in Rechnung gestellten Betrag
in Höhe von ca 36.600 Euro erstattete die Beklagte knapp 24.000 Euro (Kosten einer
entsprechenden herzchirurgische Operation in Karlsruhe abzüglich 90 Euro Zuzahlung und
30 Euro Verwaltungskostenabschlag).
Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers, mit denen er ua unter Hinweis auf eine
erhöhte Mortalitätsrate bei derartigen Operationen in Deutschland auch die Übernahme der
Restkosten begehrt hat, sind ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat - wie schon das SG - die
Anspruchsvoraussetzungen des § 13 Abs 4 Satz 6 SGB V verneint und angenommen, dass
er mit bioprothetischem Herzklappenersatz nach den Verhältnissen des Jahres 2005 auch in
Deutschland qualitativ gleichwertig und ohne längere Wartezeit habe versorgt werden
können. Das Mortalitätsrisiko in der Londoner Klinik sei nicht eklatant niedriger als in
deutschen Krankenhäusern. In der internationalen Literatur lasse sich nach Angaben eines
sachverständigen Arztes keine Aussage zur Mortalität bei einer dritten Herzklappenoperation
finden, sodass dem Antrag des Klägers, zu dieser Frage weiter Beweis zu erheben, nicht
gefolgt werde. Die Beklagte habe ihre Zustimmung zur Auslandsbehandlung und ihre
Kostenübernahmeerklärung auf die - zutreffend berücksichtigten - deutschen Sätze
beschränken dürfen.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 103 SGG und § 13 Abs 4 und 5
SGB V. Das LSG habe seinen Beweisantrag verfahrensfehlerhaft übergangen. Da die
Beklagte der Auslandsbehandlung zugestimmt und damit bejaht habe, dass es eine
gleichwertige Behandlungsmöglichkeit im Inland nicht gebe, trage sie auch die
Feststellungslast dafür, dass diese gleichermaßen für eine volle Kostenerstattung nötige
Voraussetzung in Wirklichkeit nicht erfüllt gewesen sei. Das ihr mit § 13 Abs 4 Satz 6 SGB
V eröffnete Ermessen habe die Beklagte im Sinne einer vollen Erstattung ausüben müssen.
Schon die vollständige Bezahlung der Voroperationen spreche für einen Vorsprung der
englischen Herzchirurgie. Zudem fehlten hier Feststellungen des LSG zu den für die
Ermessensausübung bedeutsamen Einkommens- und Vermögensverhältnissen.
SG Karlsruhe - S 3 KR 1769/06 -
LSG Baden-Württemberg - L 4 KR 1697/07 -
5) 12.15 Uhr - B 1 KR 15/09 R - Caritasverband f. d. Erzbistum Berlin e. V. ./.
BKK Verkehrsbau Union
Der klagende freie Wohlfahrtsverband ist Träger zweier ambulanter Hospizdienste in Berlin,
die im Jahr 2005 von den Krankenkassen mit ca 59.000 Euro bzw 34.000 Euro gefördert
wurden. Grundlage der Berechnung war § 6 Abs 2 einer bundesweit geltenden, gesetzlich
vorgesehenen Rahmenvereinbarung (RV) ua zu den Voraussetzungen der Förderung, die im
Jahr 2002 zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und den für die
Wahrnehmung der Interessen der ambulanten Hospizdienste maßgeblichen
Spitzenorganisationen geschlossen wurde. Der Kläger wandte sich gegen die aus seiner
Sicht zu niedrigen Förderungsbeträge für seine ambulanten Hospize, weil für die Förderung
insgesamt ein weit höheres, bisher gar nicht ausgeschöpftes gesetzlich vorgegebenes
finanzielles Gesamtvolumen zur Verfügung stehe als unter Anwendung der RV verteilt
werde.
Widerspruch und Klage, mit denen der Kläger - im Rahmen eines Musterverfahrens - eine
weitere Förderung in Höhe von 2.627,40 Euro begehrt hat, sind ohne Erfolg geblieben. Auf
seine Berufung hat das LSG das SG-Urteil geändert und die Beklagte verurteilt, über den
Anspruch des Klägers auf Förderung der beiden ambulanten Hospizdienste für das
Kalenderjahr 2005 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu
entscheiden; im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen: Das Gesetz verlange in § 39a
Abs 2 SGB V für den Regelfall die vollständige Ausschöpfung des dort vorgesehenen
Subventionsvolumens, die tatsächliche Förderung dürfe nur in Ausnahmefällen darunter
liegen. Spätestens im Jahr 2005 habe das gesamte Förderungsvolumen verteilt werden
müssen, sodass die Beklagte über weitere Zahlungen an den Kläger erneut, und zwar nach
fehlerfreiem Ermessen, entscheiden müsse.
Kläger und Beklagte haben jeweils Revision eingelegt und rügen im Wesentlichen die
Verletzung von § 39a Abs 2 SGB V. Der Kläger ist der Ansicht, der Beklagten stehe bei der
Entscheidung über die Höhe der Förderung kein Ermessensspielraum zu, vielmehr sei sie zu
einer vollen Verteilung des Förderungsvolumens und zu der begehrten weiteren Zahlung für
das Jahr 2005 verpflichtet. Die Beklagte vertritt dagegen die Auffassung, das Gesetz
beschreibe entgegen der Ansicht des LSG nur ein Gesamtbudget im Sinne von
Höchstausgaben, das hier nicht habe ausgeschöpft werden müssen; erst bei Erreichen des
Ziels der Förderung (= Bildung weiterer Hospizdienste) komme es zur Ausschöpfung des
Gesamtbudgets.
SG Berlin - S 36 KR 2808/07 -
LSG Berlin-Brandenburg - L 1 KR 146/08 -