Urteil des BSG vom 13.03.2017

BSG (belastungsgrenze, sinn und zweck der norm, kläger, höhe, gesetzliche grundlage, gesetz, bvg, berechnung, gkv, entstehungsgeschichte)

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 22.4.2008, B 1 KR 5/07 R
Krankenversicherung - Berechnung der Belastungsgrenze - Nichtberücksichtigung von
Kindergeldzahlungen auch ab 1.1.2004 - Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt -
Schutz des finanziellen Existenzminimums - keine Zugrundelegung von fiktiven
Bruttoeinnahmen - Verfassungsmäßigkeit des § 62 SGB 5
Leitsätze
Kindergeldzahlungen sind auch ab 1.1.2004 bei der Berechnung der Belastungsgrenze für
Zuzahlungen gemäß § 62 SGB 5 nicht als Einnahmen zu berücksichtigen (Fortführung von
BSG vom 16.12.2003 - B 1 KR 26/01 R = BSGE 92, 46 = SozR 4-2500 § 61 Nr 1).
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten über die Befreiung des Klägers von der Zuzahlungspflicht in der
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für das Jahr 2004.
2 Der 1966 geborene Kläger ist bei der beklagten AOK krankenversichert. Er erzielte aus seiner
Beschäftigung bei der Firma 3S-trading GmbH 2004 monatlich ein Bruttoarbeitsentgelt in
Höhe von 665 Euro (netto 546,62 Euro). Daneben erhielt er von der Stadt Stuttgart
aufstockend Grundleistungen gemäß §§ 1, 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Höhe
von monatlich 448,25 Euro für sich, seine Ehefrau und seine drei Kinder (geboren 1993, 1995
und 1999). Dem lag folgende Berechnung zugrunde (Bescheid der Stadt Stuttgart vom
24.3.2004):
- Geldbetrag gemäß § 3 Abs 1 AsylbLG 143,15 Euro
- Zusatzleistungen nach § 3 Abs 2 AsylbLG 718,35 Euro
- Kosten der Unterkunft 460,15 Euro
- Gesamtbedarf 1.321,65 Euro
- ./. Nettoeinkünfte aus Erwerbstätigkeit 546,38 Euro
- ./. Kindergeld 462,00 Euro
- zuzüglich Freibetrag aus Erwerbstätigkeit 134,98 Euro
3 Der Kläger zahlte im Jahr 2004 35,64 Euro Zuzahlungen nach § 61 SGB V. Die Beklagte
setzte auf Antrag des Klägers die Belastungsgrenze für Zuzahlungen für das Jahr 2004 in
Höhe von 71,28 Euro fest: Den jährlichen Bruttoeinnahmen von 13.359 Euro (je 12 x 665 Euro
und 448,25 Euro) stünden zwar die Freibeträge für den Ehegatten (4.347 Euro) und die Kinder
(10.944 Euro) gegenüber, also 15.291 Euro. Für die Ermittlung der Belastungsgrenze sei
jedoch kein negatives Einkommen zugrunde zu legen, sondern als fiktive jährliche
Mindestbruttoeinnahme das Zwölffache des monatlichen Eckregelsatzes für den
Haushaltsvorstand nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in Baden-Württemberg (297
Euro). Die Belastungsgrenze belaufe sich auf 2 vH dieses Betrages (= 71,28 Euro; Bescheide
vom 11.2. und 10.3.2004; Widerspruchsbescheid vom 17.5.2004). Das Sozialgericht (SG) hat
auf die Klage des Klägers festgestellt, er sei im Jahr 2004 von Zuzahlungen befreit gewesen,
da § 62 SGB V keine fiktiven Mindestbruttoeinnahmen vorsehe (Urteil vom 25.8.2005). Auf die
Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das SG-Urteil aufgehoben und die
Klage abgewiesen: Als fiktive jährliche Mindestbruttoeinnahme sei entsprechend § 62 Abs 2
Satz 5 SGB V das Zwölffache des monatlichen Eckregelsatzes für den Haushaltsvorstand
nach dem BSHG anzusetzen (Urteil vom 14.2.2007).
4 Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 62 SGB V: Nach Wortlaut, System,
Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Norm sei es unzulässig, für die
Belastungsgrenze fiktive Einnahmen in Höhe des Eckregelsatzes der Sozialhilfe anzusetzen.
5 Der Kläger beantragt ,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Februar 2007 aufzuheben
und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 25. August
2005 zurückzuweisen.
6 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7 Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
8 Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG auf die Berufung
der beklagten AOK das SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zutreffend hat das
SG festgestellt, dass der Kläger im Jahr 2004 von Zuzahlungen befreit ist. Denn bei der
Berechnung der Belastungsgrenze ist es nicht zulässig, zu Lasten des Klägers einen fiktiven
Regelsatz nach dem BSHG zu berücksichtigen. Entscheidend sind vielmehr die rechtlich
erfassten, tatsächlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt ohne Kindergeldzahlungen
als zweckbezogene Zuwendungen. Das waren nach Anrechnung der Abzüge null Euro.
9 1. Der Rechtsanspruch des Klägers auf Feststellung desjenigen Betrages, bis zu dem er für
2004 Zuzahlungen aufzuwenden hatte, ergibt sich aus § 62 SGB V in seiner ab 1.1.2004
gültig gewesenen Neufassung des Art 1 Nr 40 des Gesetzes zur Modernisierung der
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.11.2003,
BGBl I 2190, geändert mit Wirkung vom 6.8.2004 durch Art 4 Nr 1 des Kommunalen
Optionsgesetzes vom 30.7.2004, BGBl I 2014). Danach haben Versicherte während jedes
Kalenderjahres nur Zuzahlungen bis zur Belastungsgrenze zu leisten. Wird die
Belastungsgrenze bereits innerhalb eines Kalenderjahres erreicht, hat die Krankenkasse
eine Bescheinigung darüber zu erteilen, dass für den Rest des Kalenderjahres keine
Zuzahlungen mehr zu leisten sind. Die Belastungsgrenze beträgt 2 vH der jährlichen
Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt, für chronisch Kranke, die wegen derselben
schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, beträgt sie 1 vH der jährlichen
Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt (vgl § 62 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB V).
10 Das Gesetz geht davon aus, dass der Versicherte eine Zuzahlung über die
Belastungsgrenze hinaus durch eine zeitgerecht erteilte Bescheinigung vermeiden und er
diese Bescheinigung gegebenenfalls im Wege einer kombinierten Anfechtungs- und
Verpflichtungsklage gerichtlich erwirken kann. Hat er Zuzahlungen bereits über die
maßgebliche Belastungsgrenze hinaus geleistet, weil die Krankenkasse die Grenze nicht
rechtzeitig oder in einer zu großen Höhe bescheinigt hat, sind Zuzahlungen über die
Belastungsgrenze hinaus aufgrund des allgemeinen öffentlich-rechtlichen
Erstattungsanspruchs zu erstatten. Bei Berechnung der Belastungsgrenze für Zuzahlungen
sind nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)die Bruttoeinnahmen zum
Lebensunterhalt des laufenden Kalenderjahres zugrunde zu legen (vgl BSG SozR 4-2500 §
62 Nr 1, Leitsatz und RdNr 10). Der hierauf gerichtete Anspruch ist grundsätzlich im Wege
einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage durchzusetzen (vgl BSG SozR 3-2500
§ 61 Nr 7 S 32; BSG SozR 4-2500 § 62 Nr 2 RdNr 8) . Beschränkt sich der Kläger - wie hier -
in der Erwartung urteilskonformen Verhaltens der beklagten Krankenkasse und mangels
sachdienlichen gerichtlichen Hinweises auf ein kombiniertes Anfechtungs- und
Feststellungsbegehren, ist dies ebenfalls zulässig.
11 2. Die Beklagte hat die Belastungsgrenze des Klägers nicht zutreffend mit null Euro, sondern
um 71,28 Euro zu hoch festgesetzt. Sie ist zwar zunächst vom zutreffenden Rechtsbegriff der
jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt unter Ausschluss des Kindergeldes
ausgegangen (dazu a) und hat nicht verkannt, dass kein Fall der Sonderregelungen über zu
berücksichtigende Einnahmen (§ 62 Abs 2 Satz 4 bis 6 SGB V) vorliegt (dazu b). Sie hat
jedoch zu Unrecht fiktive Mindestbruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt in Höhe des in
Baden-Württemberg geltenden Regelsatzes nach dem BSHG von monatlich 297 Euro
anstelle der tatsächlichen Bruttoeinnahmen zugrunde gelegt (dazu c). Die Regelung
widerspricht nicht der Verfassung (dazu d).
12 a) Nach Entstehungsgeschichte, Systematik und Zweck des § 62 SGB V sind
"Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt" die persönlichen Einnahmen, die dem
tatsächlichen Lebensunterhalt dienen. Abzustellen ist auf das Kalenderjahr, für das die
Belastungsgrenze zu berechnen ist (vgl dazu grundlegend BSG, Urteil vom 19.9.2007 - B 1
KR 1/07 R - RdNr 11 mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen).
13 Die Freistellung von Zuzahlungen über die Belastungsgrenze hinaus ist Ausdruck des
Solidarprinzips. Sie soll sicherstellen, dass einkommensschwache Versicherte notwendige
Leistungen in vollem Umfang erhalten und hierfür Zuzahlungen nur bis zu einer vom
Gesetzgeber als zumutbar erachteten Höhe leisten müssen. Diese Zumutbarkeitsgrenze
wird im Hinblick auf die Höhe des Familieneinkommens unter Berücksichtigung der
Unterhaltsverpflichtungen gegenüber den im gemeinsamen Haushalt lebenden Kindern
festgelegt. Sie berücksichtigt bei typisierender Betrachtung, dass die Personengruppe der
Versicherten mit Unterhaltspflichten gegenüber Kindern bei gleichem Einkommen
wirtschaftlich schwächer ist als die Personengruppe der Versicherten, die keine
unterhaltsberechtigten Kinder haben. Zuzahlungen sollen nicht dazu führen, dass das aus
dem Familieneinkommen zu bestreitende, den unterhaltsberechtigten Kindern von
Verfassungs wegen zustehende und ua durch steuerliche Freibeträge geschützte finanzielle
Existenzminimum gefährdet wird (vgl dazu BVerfGE 82, 60, 85 = SozR 3-5870 § 10 Nr 1 S 9;
BVerfGE 99, 246, 259 ff; vgl auch BSG, Urteil vom 22.4.2008 - B 1 KR 10/07 R - zur
Veröffentlichung vorgesehen) .
14 Dies könnte jedoch der Fall sein, wenn die Familie uneingeschränkt Zuzahlungen für
medizinisch notwendige Leistungen der GKV zu leisten hätte, sodass ihr die Mittel für die
Versorgung und Erziehung der Kinder nicht mehr zur Verfügung stünden. Um dies zu
vermeiden, ist die für die Zuzahlungsbefreiung maßgebliche Belastungsgrenze zu ermitteln,
indem vom Familieneinkommen die zur Existenzsicherung der Kinder erforderlichen
finanziellen Mittel durch entsprechende Freibeträge abgezogen werden. Damit trägt § 62
Abs 2 Satz 3 SGB V dem in § 1 Abs 1 SGB I formulierten Ziel Rechnung, wonach das Recht
des SGB auch dazu beitragen soll, "die Familie zu schützen und zu fördern" ( BSG SozR 4-
2500 § 62 Nr 2 RdNr 12, mwN) .
15 Nicht allein die Berücksichtigung der Familienfreibeträge dient dem Schutz und der
Förderung der Familie, sondern auch die Nichtanrechnung des Kindergeldes als Einnahme.
Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat, folgt das Begriffsverständnis der
"Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt" im Wesentlichen der Rechtsprechung des BSG zu
§ 180 Abs 4 Reichsversicherungsordnung und der daran anknüpfenden späteren
Rechtsprechung zu § 61 SGB V aF (vgl BSG, Urteil vom 19.9.2007 - B 1 KR 1/07 R - RdNr
13 ff) . Das entspricht auch den Gesetzesmaterialien, nach denen es bei der bisherigen
Orientierung der Überforderungsklausel am Familieneinkommen bleibt (vgl Gesetzentwurf
eines GMG der Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drucks
15/1525, S 95 zu Nr 40 - § 62 SGB V -, linke Spalte) . Weil es danach lediglich um solche
Einnahmen geht, die der typischen Funktion des Arbeitsentgelts beim Pflichtversicherten
entsprechen, gehören zweckgebundene Zuwendungen wie das Kindergeld nicht hierzu (vgl
Entwurf der Fraktionen CDU/CSU und FDP eines Gesetzes zur Strukturreform im
Gesundheitswesen , BT-Drucks 11/2237 S 187 zu § 69
Abs 2 und 3; ähnlich auch Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-
Drucks 11/3480 S 57 zu § 69 Abs 2 und 3; ebenso BSGE 92, 46 RdNr 27 ff = SozR 4-2500 §
61 Nr 1 RdNr 28 ff zu § 61 SGB V in der bis 31.12.2003 geltenden Fassung ) .
16 Die Beklagte ist insoweit im Ansatz noch zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger,
der hier das Familieneinkommen bezieht, unter Berücksichtigung der Familienabschläge
gemäß § 62 Abs 2 Sätze 1 bis 3 SGB V im Jahr 2004 keine Bruttoeinnahmen zum
Lebensunterhalt hatte. Die reinen zu berücksichtigenden Einnahmen belaufen sich auf
13.359 Euro (12 x 665 Euro Bruttoarbeitsentgelt und 12 x 448,25 Euro Grundleistungen
gemäß §§ 1, 3 AsylbLG). Die Beklagte hat - wie dargelegt zu Recht - die 5.544 Euro
Kindergeld für das Jahr 2004 nicht zusätzlich als Einnahme berücksichtigt. Die gesamten
Bruttoeinnahmen sind um 15.291 Euro zu vermindern, nämlich um die Familienfreibeträge
für die Ehefrau in Höhe von 4.347 Euro sowie für die Kinder in Höhe von 10.944 Euro (vgl §
62 Abs 2 Satz 2 und 3 SGB V und hierzu BSG SozR 4-2500 § 62 Nr 2 RdNr 10 ff) . Rechtlich
war danach bei der Ermittlung der Belastungsgrenze kein berücksichtigungsfähiges
Einkommen vorhanden.
17 b) Die Beklagte hat nicht verkannt, dass die in § 62 Abs 2 Satz 4 ff SGB V geregelten
Konkretisierungen des Begriffs "Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt" hier nicht
einschlägig sind. Nach § 62 Abs 2 Satz 4 SGB V gehören zu den Einnahmen zum
Lebensunterhalt nicht Grundrenten, die Beschädigte nach dem Bundesversorgungsgesetz
(BVG) oder nach anderen Gesetzen in entsprechender Anwendung des BVG erhalten, sowie
Renten oder Beihilfen, die nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schäden an Körper
und Gesundheit gezahlt werden, bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem
BVG. Abweichend von den Sätzen 1 bis 3 ist gemäß § 62 Abs 2 Satz 5 SGB V bei
Versicherten,
1. die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG oder im Rahmen der
Kriegsopferfürsorge nach dem BVG oder nach anderen Gesetzen in
entsprechender Anwendung des BVG oder Leistungen nach dem Gesetz über
eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
erhalten,
2. bei denen die Kosten der Unterbringung in einem Heim oder einer ähnlichen
Einrichtung von einem Träger der Sozialhilfe oder der Kriegsopferfürsorge
getragen werden
sowie für den in § 264 SGB V genannten Personenkreis als Bruttoeinnahmen zum
Lebensunterhalt für die gesamte Bedarfsgemeinschaft nur der Regelsatz des
Haushaltsvorstands nach der Verordnung zur Durchführung des § 22 BSHG
(Regelsatzverordnung) maßgeblich. Die vom 6.8. bis 31.12.2004 geltende Gesetzesfassung
enthält den Zusatz: Bei Versicherten, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II erhalten, ist abweichend von den Sätzen 1 bis 3 als Bruttoeinnahmen zum
Lebensunterhalt für die gesamte Bedarfsgemeinschaft nur die Regelleistung nach § 20 Abs
2 SGB II maßgeblich (§ 62 Abs 2 Satz 6 SGB V).
18 Zu den Versicherten iS von § 62 Abs 2 Satz 5 und 6 SGB V zählt der Kläger nicht. Er erhält
keine der dort angesprochenen Leistungen, ebenso wenig Leistungen iS von § 62 Abs 2
Satz 4 SGB V. Insbesondere unterfällt er auch nicht dem in § 264 SGB V benannten
Personenkreis. § 264 SGB V regelt die Übernahme der Krankenbehandlung für nicht
Versicherungspflichtige gegen Kostenerstattung. Die Norm betrifft Arbeits- und Erwerbslose,
die nicht gesetzlich gegen Krankheit versichert sind, andere Hilfeempfänger, die vom
Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung bezeichneten Personenkreise
(Abs 1) sowie Empfänger laufender Leistungen zum Lebensunterhalt nach Abschnitt 2,
Empfänger von Hilfe in besonderen Lebenslagen nach Abschnitt 3 des BSHG und
Empfänger laufender Leistungen nach § 2 AsylbLG, die nicht versichert sind. Der Kläger ist
demgegenüber aufgrund seiner entgeltlichen Beschäftigung bei der Beklagten
versicherungspflichtig und empfängt lediglich aufstockende Grundleistungen nach §§ 1, 3
AsylbLG.
19 c) § 62 SGB V lässt es nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats - entgegen der
Ansicht der Beklagten - nicht zu, in Fällen fehlenden Bruttoeinkommens zum
Lebensunterhalt fiktive Bruttoeinnahmen zugrunde zu legen (vgl BSG, Urteil vom 19.9.2007 -
B 1 KR 1/07 R - RdNr 18 zur Veröffentlichung vorgesehen) . Vielmehr zielt die Vorschrift
nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik darauf ab, nur die in ihr abschließend
rechtlich erfassten, tatsächlichen jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt als
maßgeblich anzusehen. Bewirken erst - wie hier - die Freibeträge und die Nichtanrechnung
zweckbezogener Zuwendungen, dass es an berücksichtigungsfähigen Bruttoeinnahmen
fehlt, würde die Fiktion von Einnahmen zudem den Schutzzweck der Freibetrags- und
Nichtanrechnungs-Regelung unterlaufen.
20 Außerhalb der Spezialregelungen durch § 62 Abs 2 Sätze 4 bis 6 SGB V verbleibt es bei der
Ermittlung der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt nach § 62 Abs 2 Satz 1 bis 3 SGB V.
Die differenzierende Gesamtregelung des § 62 SGB V verdeutlicht, dass es sich um eine
abschließende Sonderregelung handelt, die der Gesetzgeber bewusst - teilweise
anknüpfend an frühere Regelungen und Rechtsprechung - ohne die Schaffung fiktiver
Einnahmen getroffen hat. Soweit das Gesetz fiktive Untergrenzen bezeichnen will, nimmt es
dies eindeutig und ausdrücklich vor wie etwa in § 240 Abs 4 Satz 2 SGB V. Zutreffend betont
zwar die Beklagte, dass die Regelung des § 62 SGB V durch das GMG auch
Sozialhilfeempfänger in die Verpflichtung einbezogen hat, Zuzahlungen zu leisten. Fiktive
Mindestbruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt hat die Bestimmung dagegen nicht
eingeführt.
21 d) Die verfassungsrechtlichen Einwendungen der Beklagten greifen nicht durch. Im
praktischen Ergebnis führt die Gesetzesfassung allerdings dazu, dass einerseits auch
Personen, die im Bemessungszeitraum über ein sehr großes Vermögen verfügen, das
keinen Ertrag abwirft, und von dessen Verzehr sie leben, keinen Zuzahlungen ausgesetzt
sind, während selbst Bezieher von Leistungen nach dem BSHG - oder jetzt SGB XII - oder
von entsprechenden, im Gesetz benannten Leistungen Zuzahlungen entrichten müssen.
Andererseits kann die Regelung der Belastungsgrenze im Einzelfall zur Folge haben, dass
zwar Sozialhilfeempfänger und die übrigen gesetzlich bestimmten Personen etwa nach § 62
Abs 2 Satz 5 SGB V in eingeschränktem Umfang bis zur dort vorgesehenen
Belastungsgrenze Zuzahlungen zu leisten haben, nicht aber Personen mit tatsächlich
geringeren "Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt" wie der Kläger. Eine
Ungleichbehandlung kann auch daraus erwachsen, dass Familienabzüge zwar bei den
nach § 62 Abs 2 Sätze 1 bis 3 SGB V zu berechnenden Bruttoeinnahmen zu berücksichtigen
sind, nicht aber nach § 62 Abs 2 Satz 5 SGB V.
22 Der Senat kann sich dennoch nicht davon überzeugen, dass die Regelung gegen den
allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) verstößt. Art 3 Abs 1 GG gebietet, alle
Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht
jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt aber das Grundrecht, wenn er eine Gruppe von
Normadressaten anders als eine andere behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine
Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche
Behandlung rechtfertigen. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen ist er allerdings
grundsätzlich berechtigt, typisierende und pauschalierende Regelungen zu treffen, ohne
allein wegen der damit verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu
verstoßen (vgl BVerfGE 87, 234, 255; 100, 59, 90; 103, 392, 397 = SozR 3-2500 § 240 Nr 39,
stRspr). Der Gesetzgeber darf danach bei der Ordnung von Massenerscheinungen - wie sie
besonders im Bereich der Sozialversicherung auftreten - typisierende Regelungen treffen
(vgl BVerfGE 75, 108, 162), wenn die damit verbundenen Härten nicht besonders schwer
wiegen und nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären (vgl BVerfGE 111, 115, 137;
BVerfG SozR 4-2600 § 96a Nr 10 RdNr 15 mwN). Besondere Härten sind jedenfalls für den
Kläger nicht ersichtlich. Anknüpfungspunkt der Typisierung sind zudem - wie auch im
Beitrags- und sonstigen Leistungsrecht der GKV typisch - Einnahmen und nicht das
Vermögen oder die Möglichkeit, es zu verzehren.
23 Es liegt in derartigen Fällen nicht in der Hand der Rechtsprechung, solche - im
Tatsächlichen extrem seltene Konstellationen betreffende - Entscheidungen des
Gesetzgebers zu korrigieren, indem richterrechtlich eigenständig Mindestbruttoeinnahmen
der Versicherten ohne gesetzliche Grundlage fingiert werden (vgl BSG, Urteil vom 19.9.2007
- B 1 KR 1/07 R - RdNr 18) .
24 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.