Urteil des BGH vom 30.05.1958

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 304/02
Verkündet am:
8. Juli 2003
Holmes
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR: nein
BGB § 823 Ac
Zu den Voraussetzungen eines Diagnosefehlers (im Anschluß an Senatsurteile vom
30. Mai 1958 – VI ZR 139/57 – VersR 1958, 545, vom 14. Juli 1981 - VI ZR 35/79 –
VersR 1981, 1033, 1034 und vom 14. Juni 1994 – VI ZR 236/93 – AHRS 1815/102).
BGH, Urteil vom 8. Juli 2003 - VI ZR 304/02 - OLG Koblenz
LG Koblenz
- 2 -
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 8. Juli 2003 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller, den Richter Dr.
Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten zu 1 wird das Urteil des
10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 19. Juli 2002
im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es zum Nachteil der
Beklagten zu 1 ergangen ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens,
an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger begehrte von der Beklagten zu 1 (künftig: die Beklagte)
Schmerzensgeld und die Feststellung ihrer Ersatzpflicht für sämtliche gegen-
wärtigen und zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden, die ihm an-
läßlich der ärztlichen Behandlung vom 26. November 1995 im Krankenhaus der
Beklagten entstanden sind und entstehen werden.
Der Kläger wurde nach einem Sturz am 26. November 1995 in der Un-
fallchirurgie des Krankenhauses stationär versorgt. Der frühere Beklagte zu 3
erkannte einen Bruch des achten Brustwirbelkörpers nicht und nahm fälschlich
eine Prellung an. Nach der Entlassung des Klägers am 28. November 1995
- 3 -
nahmen die Beschwerden nicht ab. Er begab sich deshalb erneut in ärztliche
Behandlung. Dort wurde der Bruch des Brustwirbels erkannt und der Kläger
daraufhin in einem anderen Krankenhaus stationär vom 1. bis 7. Dezember
1995 behandelt.
Das Landgericht hat die Zahlungsklage wegen Verjährung abgewiesen;
die Feststellungsklage sei unzulässig. Das Oberlandesgericht hat dieses Urteil
auf die Berufung des Klägers teilweise abgeändert und der Feststellungsklage
gegen die Beklagte hinsichtlich der Ersatzpflicht für materielle Schäden stattge-
geben. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die
Beklagte ihr Begehren auf Abweisung der Klage weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen damit be-
gründet, die Ansprüche aus Behandlungsvertrag seien - anders als deliktische
Ansprüche des Klägers - nicht verjährt. Für sie gelte nach § 195 BGB a.F. eine
Verjährungsfrist von dreißig Jahren. Die Beklagte habe den zwischen ihr und
dem Kläger bestehenden Behandlungsvertrag schuldhaft verletzt. Sie müsse
sich das Verhalten des früheren Beklagten zu 3, eines angestellten Oberarztes,
nach § 278 BGB zurechnen lassen. Dieser habe fälschlich eine Prellung statt
eines Wirbelkörperbruches diagnostiziert.
- 4 -
II.
Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht
stand.
1. Allerdings hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei das Interesse des
Klägers an einer alsbaldigen Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten (§ 256
Abs. 1 ZPO) trotz der Möglichkeit einer Leistungsklage bejaht. Ein Kläger ist
nicht gehalten, seine Klage in eine Leistungs- und eine Feststellungsklage auf-
zuspalten, wenn ein Teil des Schadens schon entstanden ist und mit der Ent-
stehung eines weiteren Schadens jedenfalls nach seinem Vortrag noch zu
rechnen ist (vgl. Senatsurteil vom 28. September 1999 - VI ZR 195/98 - VersR
1999, 1555, 1556; BGH, Urteile vom 4. Dezember 1986 - III ZR 205/85 -
BGHR-ZPO § 256 Abs. 1 Feststellungsinteresse 2 und vom 7. Juni 1988
- IX ZR 278/87 - BGHR-ZPO § 256 Abs. 1 Feststellungsinteresse 10).
2. Das Berufungsgericht geht auch im Ansatzpunkt zutreffend davon aus,
daß dem Kläger aus dem mit der Beklagten als Trägerin des Krankenhauses
abgeschlossenen Behandlungsvertrag vertragliche Ansprüche zustehen kön-
nen, wenn die Beklagte oder deren Ärzte als ihre Erfüllungsgehilfen (§ 278
BGB) die geschuldete ärztliche Behandlung in einer dem fachärztlichen Stan-
dard zuwiderlaufenden Weise, also fehlerhaft, erbracht haben. Es hat zutreffend
erkannt, daß die Ansprüche auf Ersatz materiellen Schadens hieraus erst in
30 Jahren verjährten (§ 195 BGB a.F.; Art. 229 § 6 Abs. 4 EGBGB i.V.m.
§§ 195, 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB).
3. Das Berufungsgericht hat jedoch verkannt, daß ein Behandlungsfehler
nicht immer schon dann anzunehmen ist, wenn ein Arzt zu einer objektiv un-
richtigen Diagnose gelangt (unten a)). Es hat infolgedessen verfahrensfehler-
haft den unter Beweis gestellten Vortrag der Beklagten außer acht gelassen
- 5 -
(unten b)), daß der Bruch des achten Brustwirbelkörpers nicht erkennbar gewe-
sen sei. Dadurch hat es gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, wie die Revision
mit Erfolg beanstandet.
a) Grundsätzlich ist zwar das Nichterkennen einer erkennbaren Erkran-
kung und der für sie kennzeichnenden Symptome als Behandlungsfehler zu
werten (vgl. Senatsurteile vom 30. Mai 1958 - VI ZR 139/57 - VersR 1958, 545,
546, vom 14. Juli 1981 - VI ZR 35/79 - VersR 1981, 1033, 1034 und vom
14. Juni 1994 - VI ZR 236/93 - AHRS 1815/102).
Irrtümer bei der Diagnosestellung, die in der Praxis nicht selten vorkom-
men, sind jedoch oft nicht die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes.
Die Symptome einer Erkrankung sind nämlich nicht immer eindeutig, sondern
können auf die verschiedensten Ursachen hinweisen. Dies gilt auch unter Be-
rücksichtigung der vielfachen technischen Hilfsmittel, die zur Gewinnung von
zutreffenden Untersuchungsergebnissen einzusetzen sind (vgl. Senatsurteil
vom 14. Juli 1981 - VI ZR 35/79 - aaO). Auch kann jeder Patient wegen der
Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und
derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen. Diagnoseirrtümer, die
objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind, können
deshalb nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden (vgl.
Senatsurteile vom 14. Juli 1981 - VI ZR 35/79 - aaO; vom 14. Juni 1994 - VI ZR
236/93 – aaO).
Dieser Gesichtspunkt greift allerdings nicht, wenn Symptome vorliegen,
die für eine bestimmte Erkrankung kennzeichnend sind, vom Arzt aber nicht
ausreichend berücksichtigt werden (vgl. Senatsurteil vom 30. Mai 1958 - VI ZR
137/57 - aaO; OLG Saarbrücken MedR 1999, 181, 182; Bischoff, Festschrift für
Geiß, 2000, S. 345 ff.). Darum geht es hier nicht.
- 6 -
Die Frage nach einem ärztlichen Fehlverhalten kann sich jedoch auch
stellen, wenn der behandelnde Arzt ohne vorwerfbare Fehlinterpretation von
Befunden eine objektiv unrichtige Diagnose stellt und diese darauf beruht, daß
der Arzt eine notwendige Befunderhebung entweder vor der Diagnosestellung
oder zur erforderlichen Überprüfung der Diagnose unterlassen hat. Ein solcher
Fehler in der Befunderhebung kann zur Folge haben, daß der behandelnde Arzt
oder der Klinikträger für eine daraus folgende objektiv falsche Diagnose und für
eine der tatsächlich vorhandenen Krankheit nicht gerecht werdende Behand-
lung und deren Folgen einzustehen hat (vgl. zum Beispiel Senatsurteile BGHZ
138, 1, 5 ff. und vom 3. November 1998 – VI ZR 253/97 – VersR 1999, 231,
232 – jeweils m.w.N.).
b) Nach diesen Grundsätzen durfte das Berufungsgericht einen Diagno-
sefehler des Beklagten zu 3 nicht schon deshalb bejahen, weil seine Diagnose
einer Prellung – wie zwischen den Parteien unstreitig ist – objektiv unrichtig
war. Feststellungen dazu, daß der tatsächlich vorliegende Bruch des Wirbelkör-
pers nach den erhobenen Befunden (etwa den Röntgenaufnahmen) für die be-
handelnden Ärzte erkennbar war, fehlen ebenso wie Feststellungen dazu, daß
die Befunderhebung in der Klinik der Beklagten unzulänglich war.
Die Revision weist mit Recht darauf hin, daß die Beklagte den unter
Sachverständigenbeweis gestellten Vortrag des Klägers über einen Behand-
lungsfehler bestritten und ihrerseits unter Beweis gestellt hatte, die Diagnose
einer Prellung sei eine in der gegebenen Situation vertretbare Deutung der da-
mals erhobenen Befunde gewesen; auch die Röntgenaufnahmen hätten keinen
Hinweis auf eine frische knöcherne Verletzung der Wirbelsäule ergeben. Dieser
Vortrag war nach den oben zu a) dargelegten Grundsätzen erheblich. Die Be-
klagte hatte damit ausreichend bestritten, daß die unstreitig objektiv unrichtige
Diagnose behandlungsfehlerhaft war.
- 7 -
Diesem Vortrag hätte das Berufungsgericht nachgehen müssen. Insbe-
sondere hat das Berufungsgericht trotz des entscheidungserheblichen Vortrags
der Beklagten keinen sachverständigen Rat dazu eingeholt, warum die Diagno-
se nicht nur objektiv falsch, sondern behandlungsfehlerhaft gewesen sein soll.
4. Die Revision beanstandet ferner mit Erfolg, daß das Berufungsgericht
erstinstanzlichen Vortrag der Beklagten außer acht gelassen hat, mit dem diese
eine Kausalität des objektiven Diagnoseirrtums bestritten und auf den sie in der
Berufungserwiderung in zulässiger Weise Bezug genommen hat.
Grundsätzlich muß der Patient die Voraussetzungen eines Behand-
lungsfehlers und dessen Ursächlichkeit für den geklagten Gesundheitsschaden
darlegen und beweisen. Dies gilt sowohl für den Vorwurf eines Diagnosefehlers
als auch für den eines Fehlers in der Befunderhebung. Gelingt dem Patienten
zwar der Beweis eines Behandlungsfehlers in der Form eines Diagnosefehlers
oder eines Fehlers in der Befunderhebung, nicht aber der Nachweis der Ur-
sächlichkeit dieses Fehlers für den geltend gemachten Gesundheitsschaden,
kommen ihm Beweiserleichterungen nur dann zu Hilfe, wenn der objektive
Fehler der Behandlungsseite entweder als grob zu werten ist (fundamentaler
Diagnosefehler - vgl. Senatsurteile BGHZ 132, 47 ff. und vom 14. Juli 1981
- VI ZR 35/79 – aaO), ein grober Fehler in der Befunderhebung vorliegt (vgl.
Senatsurteile BGHZ 138, 1, 5 ff. und vom 6. Juli 1999 - VI ZR 290/98 - VersR
1999, 1282, 1284) oder wenn die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr
wegen eines (lediglich einfachen) Fehlers bei der Befunderhebung oder der
Befundsicherung gegeben sind (vgl. dazu Senatsurteile BGHZ 132, 47, 52 ff.;
vom 3. November 1998 - VI ZR 253/97 - VersR 1999, 231, 232 und vom 6. Juli
1999 - VI ZR 290/98 – aaO 1283).
- 8 -
Das Berufungsurteil enthält keine Feststellungen dazu, daß sich die Ver-
zögerung der richtigen Diagnosestellung und die dadurch verzögerte Behand-
lung nachteilig auf die Gesundheit des Klägers ausgewirkt haben oder daß die
Voraussetzungen für eine Umkehr der Beweislast zugunsten des Klägers vor-
gelegen haben. Das war jedoch nicht selbstverständlich und hätte näherer
Ausführungen bedurft, die im übrigen dem Berufungsgericht ohne sachverstän-
dige Beratung nur bei Darlegung eigener Sachkunde möglich gewesen wären.
III.
Nach allem war das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es zum
Nachteil der Beklagten ergangen ist, und die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§§ 562 Abs. 1, 2,
563 Abs. 1 Satz 1 ZPO), das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu
entscheiden haben wird.
Müller
Greiner
Diederichsen
Pauge
Zoll